Entscheidungsstichwort (Thema)

Frage, in welchem Umfange versorgungsrechtliche Vorschriften vor Inkrafttreten des BVG rechtsverbindlich auch für Feststellungen nach diesem Gesetz sind

 

Orientierungssatz

Zur Frage, in welchem Umfange versorgungsrechtliche Vorschriften vor Inkrafttreten des BVG rechtsverbindlich auch für Feststellungen nach diesem Gesetz sind:

Soweit landesrechtliche Vorschriften vor Inkrafttreten des BVG den ursächlichen Zusammenhang zwischen schädigendem Vorgang und Gesundheitsstörung bejaht haben, ist diese Feststellung auch unter der Geltung des BVG rechtsverbindlich. Nicht verbindlich jedoch sind weitere Feststellungen, da das BVG andere Voraussetzungen für das Bestehen aus versorgungsrechtlichen Anspruchs enthält als die früheren Landesgesetze. Die Voraussetzungen sind also in jedem Einzelfall neu festzustellen.

 

Normenkette

BVG § 85 S. 1, § 1; KBLG WB

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 30.06.1954)

 

Tenor

Das Urteil Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. Juni 1954 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger war vom 22. August 1941 bis 30. November 1943 als Eisenbahner nach dem Osten abgeordnet. Vom 26. Mai 1943 bis 20. Juni 1943 war er in die Heimat beurlaubt. Dort erkrankte er am 28. Mai 1943 an Blutpfropfbildung (Thrombophlebitis) im linken Unterschenkel mit Lungenembolien.

1948 beantragte der Kläger Versorgung nach dem Körperbeschädigten-Leistungsgesetz - KBLG - (Württemberg) wegen Krampfadern und dauerndem Fußleiden als Folge einer Venenentzündung mit Lungenembolien, die er sich 1943 durch die lange Urlaubsfahrt von Rußland in die Heimat zugezogen habe.

Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) als damalige Versorgungsbehörde erkannte mit Bescheid vom 30. November 1948 Krampfadern an beiden Unterschenkeln mit Zustand nach Venenentzündung am linken Unterschenkel als hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 Abs. 1 KBLG an und gewährte Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H.

Mit Bescheid vom 13. Oktober 1952 entzog das Versorgungsamt (VersorgA.) dem Kläger die Rente, da er zur Zeit der Erkrankung im Mai 1943 keinen militärähnlichen Dienst im Sinne des § 3 Abs. 1 Buchst. d Bundesversorgungsgesetz (BVG) geleistet habe. Nach § 85 BVG sei eine frühere Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang zwischen einer Gesundheitsstörung und einem schädigenden Vorgang nur dann rechtsverbindlich, wenn dieser Vorgang auch nach § 1 BVG entschädigungspflichtig sei.

Gegen den Bescheid hat der Kläger Berufung zum Oberversicherungsamt (OVA.) eingelegt. Nachdem dieses eine Auskunft der Deutschen Bundesbahn, Eisenbahndirektion Karlsruhe, über die Rechtsstellung der nach dem Osten abgeordneten Bediensteten der damaligen Deutschen Reichsbahn eingeholt hatte, wies es mit Urteil vom 30. Oktober 1953 die Berufung als unbegründet zurück.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Rekurs zum Landesversicherungsamt (LVAmt) Württemberg-Baden eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG.), auf das der Rechtsstreit mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen ist, hat mit Urteil vom 30. Juni 1954 das Urteil des OVA. aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, dem Kläger seit 1. Oktober 1950 wegen der nach dem KBLG anerkannten Leiden eine Rente nach dem BVG in Höhe von 30% der Vollrente zu gewähren. Revision wurde zugelassen.

Nach Auffassung des LSG. hätten die Versorgungsbehörden nur zu prüfen, ob der Beurteilung und Anerkennung des ursächlichen Zusammenhangs nach früherem Recht ein Tatbestand zugrunde gelegen habe, der in § 1 BVG ebenfalls vorgesehen sei. Die LVA. habe den Kläger einem Personenkreis zugeordnet, der sowohl nach § 4 Abs. 1 Buchst. b der Dritten Durchführungsverordnung (DurchfVO) zum KBLG vom 23. Juli 1949 als auch nach § 3 Abs. 1 Buchst, d BVG den Schutz der Versorgungsgesetze genieße, zumal sich der § 3 Abs. 1 Buchst. d BVG bis auf den letzten Halbsatz wörtlich mit dem Inhalt des § 3 Abs. 1 Nr. 6 der Ersten DurchfVO zum KBLG vom 27. Januar 1947 decke. Damit stehe fest, daß nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG entschieden worden sei. Dies sei selbst dann für den Beklagten rechtsverbindlich, wenn dem Kläger die KB-Rente nach dem Erlaß des Reichsverkehrsministers vom 14. Januar 1942, der seinen Niederschlag in den Verwaltungsvorschriften Nr. 2 zu § 3 BVG gefunden habe, nicht hätte gewährt werden dürfen.

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG. aufzuheben und das Urteil des OVA. wiederherzustellen.

Die Revision rügt Verletzung des § 85 BVG. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift erhalte nur die Entscheidung, ob das bestehende Leiden in ursächlichem Zusammenhang mit dem schädigenden Vorgang im Rechtssinn des BVG stehe, materiell-rechtliche Kraft für das BVG. Über die Zugehörigkeit zum Personenkreis sei bei der Umanerkennung nach dem BVG neu zu entscheiden. Nur bei der Bejahung der Frage, ob es sich bei dem schädigenden Vorgang um einen solchen im Sinn des § 1 BVG handelt, sei die Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang für die Umanerkennung rechtsverbindlich im Sinn des § 85 BVG.

Der Kläger hat beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist infolge Zulassung nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft und in der gesetzlichen Form und Trist eingelegt und begründet worden. Sie mußte auch Erfolg haben.

Der Beklagte rügt mit Recht, daß das Urteil des LSG. auf einer Verletzung des § 85 Satz 1 BVG beruhe.

Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, in welchem Umfang Entscheidungen nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften für die Feststellung nach dem BVG rechtsverbindlich sind. Nach § 85 Satz 1 BVG ist, soweit nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang im Sinn des § 1 BVG entschieden worden ist, die Entscheidung auch nach diesem Gesetz rechtsverbindlich. Das BSG. hat hierzu bereits entschieden, daß eine nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften ergangene Entscheidung nicht nach § 85 Satz 1 BVG rechtsverbindlich ist für die Frage, ob der Beschädigte zu dem nach dem BVG versorgungsberechtigten Personellkreis gehört (Urteil vom 16. Oktober 1956 - 10 RV 1050/55). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an.

Das BVG regelt unabhängig von den bisherigen Versorgungsgesetzen die Versorgung aller Personen, die durch militärischen oder militärähnlichen Dienst sowie durch unmittelbare Kriegseinwirkung eine Gesundheitsschädigung erlitten haben. Es stellt in den §§ 1 bis 5 neue Tatbestände auf, die von seinem Inkrafttreten an die alleinige Grundlage der Versorgung bilden. In § 84 Abs. 2 Nr. 1 setzt es das KBLG außer Kraft. Damit ist der Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen im Sinne des § 1 Abs. 1 KBLG ab 1. Oktober 1950 die rechtliche Grundlage entzogen (vgl. BSG. 1 S. 210 [215] und die Urteile vom 4. September 1956 - 10 RV 70/54 - und 5. Dezember 1956 - 9 RV 138/55 -). Von diesem Zeitpunkt an ist die Frage, ob ein Versorgungsanspruch besteht, lediglich nach dem BVG zu beurteilen. Frühere Entscheidungen haben seit Inkrafttreten des BVG nur insoweit noch Bedeutung, als das BVG sie ihnen verleiht.

Um den Umfang der in § 85 Satz 1 BVG vorgeschriebenen Rechtsverbindlichkeit früherer Entscheidungen zu bestimmen, sind die verschiedenen Tatbestandsmerkmale zu prüfen, die zur Begründung eines Versorgungsanspruchs nach § 1 BVG erfüllt sein müssen. Es muß ein militärischer- oder militärähnlicher Dienst, ein schädigender Vorgang im Sinne des Gesetzes, eine Gesundheitsstörung sowie ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Militärdienst oder schädigendem Vorgang und der Gesundheitsstörung vorliegen. Aus diesen Anspruchsvoraussetzungen hat § 85 Satz 1 BVG nur die frühere Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang zwischen einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG und einer Gesundheitsstörung für rechtsverbindlich nach dem BVG erklärt. Dies bedeutet, daß sämtliche anderen Voraussetzungen neu zu untersuchen sind. Nur wenn die Prüfung des historischen Geschehens ergibt, daß eine Dienstverrichtung oder ein ihr gleichzusetzender Vorgang im Sinne des BVG und eine Gesundheitsstörung vorliegen, ist die bisherige Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang zwischen beiden Umständen nach § 85 Satz 1 BVG rechtsverbindlich. Ist dagegen keine Dienstverrichtung oder kein ihr gleichzustellender Vorgang im Sinne des BVG gegeben, so ist die Anerkennung nach früheren Versorgungsgesetzen für die Feststellung nach dem BVG ohne rechtliche Wirkung. Die Kontinuität der Versorgung, die § 85 Satz 1 BVG in gewissem Umfang gewährleisten will, geht nicht soweit, daß eine Person, die nicht dem in § 1 Abs. 1 und 2 BVG geschützten Personenkreis zugehört, eine nach früherem Versorgungsrecht begründete Versorgung auch nach dem BVG allein deshalb erhält, weil sie solche früher bezogen hat.

Die Unterscheidung in dem angefochtenen Urteil zwischen einem für zulässig gehaltenen allgemeinen Vergleich des vom KBLG und BVG umfaßten Personenkreises und der als nicht zulässig angesehenen Prüfung, ob im einzelnen Fall der früher anerkannte schädigende Vorgang auch einen solchen nach § 1 BVG darstellt, findet im Gesetz keine Stütze.

Aus den Worten in Satz 1 des § 85 BVG "im Sinn des § 1 dieses Gesetzes" kann die Zulässigkeit nur eines allgemeinen Vergleichs der erfaßten Personenkreise und das Verbot einer neuen Prüfung des Einzelfalles nicht entnommen werden. § 85 Satz 1 bezieht sich schon seinem Wortlaut nach wie Satz 2 immer nur auf den Einzelfall.

Das LSG. hat daher zu Unrecht die Prüfung unterlassen, ob der Kläger militärischen oder militärähnlichen Dienst im Sinne des BVG geleistet hat.

Da das angefochtene Urteil somit auf einer unrichtigen Anwendung des § 85 Satz 1 BVG beruht, war es aufzuheben. Das Revisionsgericht konnte nicht selbst entscheiden, da die tatsächlichen Feststellungen des Vorderrichters für eine Entscheidung nicht ausreichen. Das LSG. hat die Personalakten der Reichsbahn über den Kläger und die Auskunft der Deutschen Bundesbahn, Eisenbahndirektion Karlsruhe, vom 26. Februar 1953 noch nicht im Zusammenhang mit dem Vorbringen des Klägers im Schreiben vom 12. November 1953 geprüft. Es stellt nur fest, daß der Kläger vom 22. August 1941 bis 30. November 1943 "als Eisenbahner nach dem Osten abgeordnet" war, ohne zu erörtern, ob er dabei zur Wehrmacht (§ 3 Abs. 1 Buchst. d BVG) abgeordnet war (vgl. auch Urteil des 8. Senats vom 27. September 1956 - 8 RV 301/54 -). Das LSG. wird weiter auch zu untersuchen haben, ob etwa Tatsachen vorliegen, die ergeben, daß der Kläger auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers Dienste für Zwecke der Wehrmacht geleistet hat (§ 3 Abs. 1 Buchst. b BVG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2336746

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