Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorverfahren als Klagevoraussetzung bei Ermessensentscheidung des Unfallversicherungsträgers

 

Orientierungssatz

1. Ist es zwar nicht dem Ermessen des Versicherungsträgers überlassen, ob er die Leistung überhaupt gewähren will, kann er aber gleichwohl durch eigene Willensentschließung bestimmen, in welcher Höhe er sie gewährt, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die eine sofortige Klage ausschließt und zunächst die Durchführung des Vorverfahrens erfordert. Nach SGG § 78 Abs 2 S 1 ist die Anfechtungsklage wahlweise ohne Vorverfahren somit nur dann zulässig, wenn der Verwaltungsakt, dessen Aufhebung oder Abänderung begehrt wird, keine vom Ermessen des Versicherungsträgers beeinflußte Leistung betrifft.

2. Der Unfallversicherungsträger trifft hinsichtlich der Höhe der bei einer unfallbedingten MdE von 20 vH zu gewährenden Rente eine Ermessensentscheidung, wenn er bei der Berechnung des JAV Zeiten, in denen der Kläger im Jahr vor dem Unfall kein Arbeitseinkommen bezog, weil er zeitweise nicht erwerbstätig war (unbezahlter Urlaub), nicht mit einem fiktiven Einkommen nach RVO § 571 Abs 1 S 2 ausfüllt, sondern einen unter Anwendung des RVO § 577 ermittelten Betrag zugrunde legt.

 

Normenkette

SGG § 78 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1974-07-30; RVO § 570 Fassung: 1963-04-30, § 571 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1963-04-30, § 577 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 03.02.1977; Aktenzeichen L 7 U 320/76)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 09.01.1976; Aktenzeichen S 3 U 2054/74)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 3. Februar 1977 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Im Revisionsverfahren streiten die Beteiligten nur noch darüber, welcher Jahresarbeitsverdienst (JAV) der Unfallrente zugrunde zu legen ist, die dem Kläger für die Zeit vom 2. Dezember 1968 bis zum 30. Juni 1972 zugesprochen worden ist.

Die Beklagte gewährte dem Kläger, der italienischer Staatsbürger ist und in der Bundesrepublik Deutschland arbeitete, wegen der Folgen eines Unfalls vom 13. September 1968 Rente nach einem JAV von 9.303,04 DM (Bescheid vom 28. Mai 1974). Das tatsächlich im Jahre vor dem Arbeitsunfall erzielte Arbeitseinkommen des Klägers betrug 8.943,25 DM. Der Kläger hat jedoch im Jahre vor dem Unfall - wie schon in den davorliegenden Kalenderjahren seit 1963 - nur rund neun Monate gearbeitet und in der restlichen Zeit unbezahlten Urlaub genommen, den er in seiner Heimat verbrachte. Die Beklagte errechnete gemäß Ziffer 4 ihrer Berechnungsverfügung Nr 11/72 den JAV nach dem höheren Verdienst, den der Kläger im Jahre vor dem Unfall bei tariflicher Arbeitszeit und bei vom Arbeitgeber bestätigtem Stundenlohn erzielt hätte.

Mit der gegen den Bescheid der Beklagten gerichteten Klage hat der Kläger ua geltend gemacht, die Beklagte hätte der Rente gemäß § 571 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) einen JAV von 11.778,25 DM zugrunde legen müssen. Außer dem tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen von 2.729,98 DM in der Zeit vom 13. September 1967 bis zum 16. Dezember 1967 sowie von 6.213,27 DM in der Zeit vom 25. März 1968 bis zum 12. September 1968 sei für die Zeit des unbezahlten Urlaubs vom 17. Dezember 1967 bis zum 24. März 1968 ein Betrag von 2.835,- DM anzurechnen. In der letzten Tätigkeit des Klägers vor dem Urlaub sei bei seinem Arbeitgeber an sechs Arbeitstagen 45 Stunden pro Woche bei einem Stundenlohn von 4,50 DM gearbeitet worden; dies entspreche einem wöchentlichen Arbeitseinkommen von 202,50 DM; in den 14 Arbeitswochen des unbezahlten Urlaubs hätte sein Arbeitseinkommen somit 2.835,- DM betragen.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 9. Januar 1976 die Klage abgewiesen, soweit sie auf einen höheren JAV gerichtet ist. Nach seiner Auffassung ist § 571 Abs 1 Satz 2 RVO nicht anzuwenden, weil der Kläger seit 1963 durchgehend in allen Jahren bis zum Unfall jährlich rund drei Monate unbezahlten Urlaub genommen habe. Da der Kläger aus freien Stücken seinen Lebensstandard auf einen neunmonatigen Arbeitsverdienst eingerichtet habe, sei die Festsetzung des JAV durch die Beklagte auf den niedrigeren Betrag nicht unbillig.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 3. Februar 1977 die Berufung des Klägers, soweit sie den JAV betrifft, zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Beklagte habe den JAV des Klägers gemäß § 577 RVO nach billigem Ermessen festsetzen können. Der nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO sich ergebende JAV wäre in erheblichem Maße unbillig gewesen, da der Kläger nicht nur im Jahre vor dem Unfall, sondern auch in den davorliegenden Kalenderjahren seit 1963 jeweils nur etwa neun Monate gearbeitet und in der restlichen Zeit neben seinem Jahresurlaub unbezahlten Urlaub genommen habe. Das im letzten Jahre vor dem Unfall tatsächlich erzielte Arbeitseinkommen von 8.943,25 DM liege etwa 1/3 unter dem nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO sich ergebenden fiktiven Arbeitseinkommen von 11.778,25 DM. Es sei nicht zu beanstanden, daß die Beklagte von der Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, den JAV nach § 577 RVO nach billigem Ermessen festzusetzen, da der Kläger mehrere Jahre lang hintereinander aus in seiner Person liegenden Gründen sein Arbeitseinkommen ganz erheblich gemindert habe. Die von der Beklagten nach Ziffer 4 ihrer Berechnungsverfügung vorgenommene Berechnung des JAV auf 9.303,04 DM sei dabei im vorliegenden Fall durchaus sachgerecht. Die Beklagte habe nämlich den Kläger so gestellt, als ob er während des ganzen Jahres vor dem Unfall - allerdings ohne Berücksichtigung von Überstunden - gearbeitet hätte.

Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und wie folgt begründet: Der JAV müsse zunächst grundsätzlich nach § 571 RVO festgestellt werden, bevor der Versicherungsträger die Möglichkeit einer Feststellung nach § 577 RVO prüfen dürfe. Dies sei im vorliegenden Fall nicht geschehen. Der hier nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO zu berechnende JAV von 11.778,25 DM sei im Verhältnis zu dem von der Beklagten nach ihrer Vergleichsberechnung ermittelten Betrag von 9.303,04 DM nicht im erheblichen Maße unbillig (§ 577 RVO). Der von der Beklagten festgestellte JAV beruhe somit auf einer unzulässigen Umgehung des § 571 RVO und sei daher nicht rechtsfehlerfrei festgestellt. Bei der Berücksichtigung von Ausfallzeiten während der Wintermonate handele es sich um ein spezifisches Problem des Baugewerbes. Zeiten unbezahlten Urlaubs während der Wintermonate lägen in erheblichem Maße im Interesse der jeweiligen Arbeitgeber, da diese in der Regel nicht ihren gesamten Personalbestand ganzjährig beschäftigen könnten. Es könne daher nicht grundsätzlich unbillig sein, wenn die Arbeitgeber mit ihren Beiträgen zur gesetzlichen Unfallversicherung bei der Entschädigung von Arbeitsunfällen auch für Zeiten herangezogen würden, in denen der jeweilige Verletzte unbezahlten Urlaub gehabt habe.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG und des SG teilweise zu ändern und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 28. Mai 1974 zu verurteilen, die Verletztenrente nach einem JAV von 11.778,25 DM festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie trägt vor, entgegen der Auffassung des LSG sei sie zwar der Ansicht, daß Zeiten, in denen ein Versicherter von vornherein alljährlich aus freien Stücken nicht arbeite und daher kein Arbeitseinkommen erziele, nicht mit einem fiktiven Einkommen nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO auszufüllen seien. Denn mit dieser Vorschrift bezwecke der Gesetzgeber, nur zufällige und vorübergehende Verdienstausfälle auszugleichen, um zu verhindern, daß der niedrige Lebensstandard zum Maßstab für die Gesamtlaufzeit der Rente gemacht werde. Ein solcher Fall liege hier jedoch nicht vor. Selbst wenn aber der Auffassung des LSG gefolgt werde, sei die nach § 577 RVO vorgenommene Berechnung des JAV nicht zu beanstanden; die erhebliche Unbilligkeit ergebe sich aus der Differenz zwischen dem tatsächlichen Arbeitseinkommen des Klägers im Jahre vor dem Unfall von 8.943,25 DM und dem unter Beachtung eines fiktiven Arbeitseinkommens gemäß § 571 Abs 1 Satz 2 RVO errechneten JAV von 11.778,25 DM.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 SGG).

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.

Das LSG durfte nicht in der Sache selbst entscheiden, da es an der Prozeßvoraussetzung des durchgeführten Vorverfahrens mangelt.

Ohne Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Vorverfahrens darf ein Sachurteil nicht ergehen. Das Fehlen des gesetzlich vorgeschriebenen Vorverfahrens stellt einen von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel dar. Die Beteiligten können auf die Durchführung des Vorverfahrens auch nicht verzichten (BSGE 3, 293, 297; 8, 3, 9; 16, 21, 23; 17, 153, 156; 19, 164, 167). Ein Vorverfahren war sowohl nach den bei Erlaß des Bescheides vom 28. Mai 1974 geltenden Vorschriften als auch nach den seither in Kraft getretenen Vorschriften durchzuführen. Nach § 79 Nr 1 SGG in der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625) am 1. Januar 1975 geltenden Fassung fand ein Vorverfahren statt, wenn mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt wurde, der nicht eine Leistung betraf, auf die ein Rechtsanspruch bestand. Danach waren nicht nur solche Verwaltungsakte vorverfahrenspflichtig, die eine Ermessensleistung zum Gegenstand hatten, sondern alle Verwaltungsakte, die eine Ermessensentscheidung betrafen; es genügte, daß der Versicherungsträger in einer irgendwie gearteten Form sein Ermessen ausgeübt hatte (BSGE 3, 209, 215; 7, 292, 293; 37, 267, 268; SozR Nrn 14 und 16 zu § 79 SGG). An diese Rechtslage knüpft der seit dem 1. Januar 1975 geltende § 78 SGG an, der in Fällen der hier vorliegenden Art vor Erhebung der Klage ebenfalls die Durchführung eines Vorverfahrens verlangt. Nach § 78 Abs 1 Satz 1 SGG sind vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Eine der in § 78 Abs 1 Satz 2 SGG bezeichneten Ausnahmen, bei deren Vorliegen es eines Vorverfahrens nicht bedarf, ist hier nicht gegeben. Nach § 78 Abs 2 Satz 1 SGG ist in Angelegenheiten der Unfallversicherung die Anfechtungsklage wahlweise auch ohne Vorverfahren zulässig, wenn die Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Auch nach dieser Vorschrift ist ebenso wie nach § 79 Nr 1 SGG aF die unmittelbare Klageerhebung ausgeschlossen, sofern der Versicherungsträger in dem angefochtenen Verwaltungsakt sein Ermessen ausgeübt hat (vgl Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 78 Anm 5 c; Miesbach/Ankenbrank/Hennig/Danckwerts, SGG, § 78 Anm 7; Peters, Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil -, § 39 Anm 5; Wannagat, Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil -, § 39 Anm 3).

Ob ein Beteiligter, statt das Vorverfahren durchzuführen, nach seiner Wahl unmittelbar gegen einen Verwaltungsakt Klage erheben darf, hängt hiernach davon ab, welchen Inhalt der dem Beteiligten erteilte Verwaltungsakt (Bescheid) hat. War der Versicherungsträger durch das Gesetz gezwungen, die Leistung so zu gewähren, wie er sie gewährt hat, betrifft der Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Ist es zwar nicht seinem Ermessen überlassen, ob er die Leistung überhaupt gewähren will, kann er aber gleichwohl durch eigene Willensentschließung bestimmen, in welcher Höhe er sie gewährt, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die eine sofortige Klage ausschließt und zunächst die Durchführung des Vorverfahrens erfordert. Nach § 78 Abs 2 Satz 1 SGG ist die Anfechtungsklage wahlweise ohne Vorverfahren somit nur dann zulässig, wenn der Verwaltungsakt, dessen Aufhebung oder Abänderung begehrt wird, keine vom Ermessen des Versicherungsträgers beeinflußte Leistung betrifft.

Der Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 1974, mit dem sie dem Kläger für begrenzte Zeit eine Verletztenrente gewährte, betraf keine Leistung, auf die iS des § 78 Abs 2 Satz 1 SGG ein Rechtsanspruch bestand. Ein Rechtsanspruch bestand nur insofern, als der Kläger wegen der Folgen des Unfalls, die seine Erwerbsfähigkeit vorübergehend um wenigstens ein Fünftel minderten, nach den §§ 547, 581 Abs 1 Nr 2 RVO Anspruch auf Verletztenrente hatte; dies war nicht dem Ermessen der Beklagten überlassen. Die Beklagte hat jedoch hinsichtlich der Höhe der bei einer unfallbedingten MdE von 20 vH zu gewährenden Rente, die zu den nach dem JAV zu berechnenden Geldleistungen gehört (§ 570 RVO), eine Ermessensentscheidung getroffen. Für Zeiten, in denen der Kläger im Jahr vor dem Unfall kein Arbeitseinkommen bezog, weil er zeitweise nicht erwerbstätig war (unbezahlter Urlaub), hat die Beklagte nicht gemäß § 571 Abs 1 Satz 2 RVO idF bis zum Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - vom 23. Dezember 1976 (BGBl I 3845) das Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, die der letzten Tätigkeit des Klägers vor diesen Zeiten entsprach. Sie vertrat und vertritt vielmehr die Auffassung, daß Zeiten, in denen der Versicherte von vornherein - alljährlich - aus freien Stücken nicht arbeite und daher kein Arbeitseinkommen erziele, nicht mit einem fiktiven Einkommen nach § 571 Abs 1 Satz 2 RVO auszufüllen seien. Die Beklagte legte der Berechnung der Rente des Klägers als JAV aber auch nicht den Betrag von 8.943,25 DM zugrunde, den der Kläger im Jahr vor dem Unfall, wenn auch unterbrochen durch Zeiten unbezahlten Urlaubs, als Arbeitseinkommen erzielt hat. Vielmehr verfuhr sie nach ihrer Verfügung Nr 11/72 und errechnete ein fiktives Arbeitseinkommen des Klägers aufgrund des vom Arbeitgeber bestätigten Stundenlohnes und tariflicher Arbeitszeit in Höhe von 9.303,04 DM. Diesen, unter Anwendung des § 577 RVO ermittelten Betrag, legte sie der Rentenberechnung als JAV zugrunde. Danach betraf der vom Kläger angefochtene Bescheid vom 28. Mai 1974 eine Leistung, deren Feststellung der Höhe nach auf einem Ermessen beruhte.

Das aus diesem Grunde gemäß § 78 Abs 1 Satz 1 SGG erforderliche Vorverfahren ist nicht entbehrlich, weil die Beklagte im Prozeß an ihrer angefochtenen Entscheidung festgehalten hat; dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn - wie in Angelegenheiten der Sozialversicherung (§ 85 Abs 2 Nr 2 SGG) - Widerspruchsbehörde und Versicherungsträger nicht identisch sind (BSGE 8, 3, 10; 20, 199, 200). Weder aus der Wahlmöglichkeit zwischen Widerspruch und Klage nach § 78 Abs 2 Satz 1 SGG noch aus der Befugnis der Widerspruchsstelle, mit vorheriger schriftlicher Zustimmung des Widerspruchsführers den Widerspruch dem zuständigen SG als Klage zuzuleiten, falls in Angelegenheiten der Sozialversicherung die Widerspruchsstelle dem Widerspruch nicht stattgeben will (§ 85 Abs 4 SGG), darf gefolgert werden, daß bei der Gesetzesanwendung rechtsförmliche und dogmatische Bedenken gegen eine Umdeutung von Prozeßhandlungen in Vorgänge des Vorverfahrens weitgehend zurückgestellt werden sollen und die Unterscheidung von Widerspruch und Klage sowie von Widerspruchsbescheid und Klageerwiderung in einem weniger strengen Licht erscheinen (vgl BSG Urteil vom 29. März 1977 - 9 RV 2/76 - in Die Praxis 1977, 382; ähnlich auch BSG Urteil vom 2. August 1977 - 9 RV 102/76 - in SGb 1978, 159); Verwaltungsakte der Träger der Unfallversicherung, die über Leistungen unter Ausübung des Ermessens entscheiden, waren nach § 79 Nr 1 SGG aF und sind nach § 78 Abs 1 Satz 1 SGG vor Erhebung der Klage in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Daran hat sich durch das Gesetz vom 30. Juli 1974 (aaO) nichts geändert. Lediglich für den Fall, daß die Nachprüfung durch die Widerspruchsstelle zu dem Ergebnis geführt hat, daß dem Widerspruch nicht stattgegeben werden kann, ist die Widerspruchsstelle mit vorheriger schriftlicher Zustimmung des Klägers nach § 85 Abs 4 SGG ermächtigt, den Widerspruch dem zuständigen SG als Klage zuzuleiten. Gegenüber der früheren Rechtslage ist damit - aber auch nur in Angelegenheiten der Sozialversicherung - die Widerspruchsstelle lediglich der Verpflichtung enthoben, in jedem Fall, in dem sie dem Widerspruch nach Prüfung nicht stattgeben will, gemäß § 85 Abs 2 SGG auch noch den Widerspruchsbescheid zu erlassen. Der von dem Gesetzgeber mit dem Vorverfahren verfolgte Zweck, die Verwaltung in die Lage zu versetzen, ihre Akte im Wege der Selbstkontrolle zu überprüfen, den Rechtsschutz der Bürger zu verbessern, da das Vorverfahren die Möglichkeit eröffnet, auch die Zweckmäßigkeit in vollem Umfang zu prüfen sowie die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit vor Überlastungen zu schützen (vgl Meyer-Ladewig, SGG, vor § 77 Anm 1), ist durch die ab 1. Januar 1975 geltende Regelung nicht in Frage gestellt worden. Die allgemeine Einführung des Vorverfahrens ab 1. Januar 1975 läßt eher den Schluß zu, daß es, insbesondere in Angelegenheiten der Sozialversicherung, in denen eine von der Vertreterversammlung des Versicherungsträgers bestimmte Stelle - Widerspruchsstelle - die Nachprüfung vorzunehmen hat (§ 85 Abs 2 Nr 2 SGG), dem vom Gesetzgeber mit dem Vorverfahren verfolgten Zweck zuwiderläuft, eine Klage in einen Widerspruch und eine Klageerwiderung in einen Widerspruchsbescheid umzudeuten.

Obwohl die bei dem SG erhobene Klage wegen des nicht durchgeführten Vorverfahrens unzulässig ist, hat der Senat davon abgesehen, die Revision des Klägers mit dieser Maßgabe zurückzuweisen (vgl BSGE 17, 153, 156). Vielmehr war nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen, um den Beteiligten die Möglichkeit zu geben, das Vorverfahren nachzuholen (BSGE 8, 3, 10; 17, 153, 156; 20, 199, 200; 25, 66, 68; 29, 129, 133; 35, 267, 271). Das LSG hat bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656842

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