Leitsatz (amtlich)

Die Vorschrift in AVG § 9 Abs 7, nach der die jeweils gültigen Vorschriften über die Versicherungspflichtgrenze der Nachversicherung nicht entgegenstehen, gilt entgegen dem Wortlaut des 1. RVÄndG Art 5 § 10 Abs 1 Buchst a nur für Nachversicherungsfälle, die seit dem 1957-03-01 eingetreten sind.

 

Normenkette

AVG § 9 Abs. 7 Fassung: 1965-06-09; AnVNG Art. 2 § 4 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 3 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVÄndG Art. 5 § 10 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 2. März 1966 wird aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 15. November 1962 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger für die Zeit vom 1. Juli 1949 bis zum 31. Januar 1952 in der Rentenversicherung der Angestellten nachzuversichern ist. In dieser Zeit war der Kläger als Beamter bei der Deutschen Bundesbahn beschäftigt und als solcher versicherungsfrei in der Angestelltenversicherung (AnV). Anschließend war er ohne Zahlung von Dienstbezügen beurlaubt, bis er am 31. Januar 1957 ohne Anspruch auf Versorgung aus dem Dienst der Bundesbahn ausgeschieden ist.

Die Beklagte lehnte die Nachversicherung für die genannte Zeit mit Bescheid vom 7. April 1960 ab, weil der Kläger - auch ohne die beamtenrechtliche Versicherungsfreiheit - wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze (Versicherungspflichtgrenze) nicht versicherungspflichtig gewesen wäre (§ 18 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG - aF). Die günstigere Regelung des § 9 AVG idF des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) i. V. m. Art. 2 § 4 Abs. 1 AnVNG sei nicht anwendbar, weil sie nur für Personen gelte, die nach dem Inkrafttreten des § 9 AVG (1. März 1957) aus dem versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnis ausgeschieden seien.

Der Widerspruch und die Klage des Klägers hatten keinen Erfolg. Auf seine Berufung hin stellte das Landessozialgericht (LSG) fest, der Kläger sei für die streitige Zeit in der AnV nachzuversichern. Der Anspruch des Klägers ergebe sich aus der durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) geschaffenen Regelung des § 9 Abs. 7 AVG. Diese Vorschrift sei - anders als die bisherigen Bestimmungen des § 9 AVG - nicht erst zum 1. März 1957, sondern bereits zum 1. Januar 1957 in Kraft getreten (Urteil vom 2. März 1966).

Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Beklagte,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) München vom 15. November 1962 zurückzuweisen.

Sie rügt die Verletzung des § 9 Abs. 7 AVG. Dieser Vorschrift komme - entgegen der Ansicht des LSG - keine eigenständige Bedeutung zu. Sie könne nur auf sozialversicherungsrechtliche Verhältnisse bezogen werden, auf die § 9 AVG insgesamt angewendet werden könne. Das sei aber hier nicht der Fall, weil der Kläger vor dem 1. März 1957 aus der versicherungsfreien Beschäftigung ausgeschieden sei. Möglicherweise sei der Kläger schon mit seiner Beurlaubung im Jahre 1952 als aus dem Beschäftigungsverhältnis ausgeschieden anzusehen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er beruft sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils.

Die Beigeladene tritt den Ausführungen des Klägers bei.

Die Revision ist zulässig und auch begründet. Der Ansicht des LSG, der Kläger sei nach § 9 Abs. 7 AVG idF des RVÄndG auch für die Zeiten nachzuversichern, in denen seine Dienstbezüge die Versicherungspflichtgrenze überstiegen, kann der Senat nicht beitreten.

Die Voraussetzungen der Nachversicherung sind den rechtlichen Bestimmungen zu entnehmen, die bei Eintritt des Nachversicherungsfalles gelten (BSG 1, 219; 16, 112). Hiernach ist die Nachversicherung des Klägers für die strittige Zeit von 1949 bis 1952 allein nach § 18 AVG aF zu beurteilen, und zwar unabhängig davon, ob der Kläger schon mit der Beurlaubung im Jahre 1952 oder erst mit der endgültigen Entlassung aus dem Dienst der Deutschen Bundesbahn, also erst im Januar 1957 aus dem versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnis ohne Versorgungsanspruch ausgeschieden ist. Der Senat brauchte zu dieser umstrittenen Frage (vgl. Compter "Nachversicherung beurlaubter Beamter" in "Die Angestelltenversicherung" 1967 Nr. 11 S. 320) keine Stellung zu nehmen; denn der Nachversicherungsfall ist jedenfalls vor dem Inkrafttreten der durch das AnVNG eingeführten neuen Nachversicherungsvorschriften eingetreten und wird weder von § 9 AVG noch von Art. 2 § 4 Abs. 1 AnVNG erfaßt.

§ 9 AVG in der bis zum Inkrafttreten des RVÄndG geltenden Fassung ist durch Art. 3 § 7 AnVNG zum 1. März 1957 in Kraft gesetzt worden. Er betrifft daher nur versicherungsfreie Zeiten, die nach dem 28. Februar 1957 zurückgelegt wurden und nur Personen, die nach diesem Zeitpunkt aus ihrer Beschäftigung ausgeschieden sind. Die Bedeutung der Übergangsbestimmung des Art. 2 § 4 Abs. 1 AnVNG, wonach § 9 AVG unter gewissen Voraussetzungen auch für frühere Beschäftigungszeiten gilt, wenn die betroffenen Personen "nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes" aus der versicherungsfreien Beschäftigung ausscheiden, liegt nach der in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen einhelligen Auffassung allein darin, § 9 AVG auf die sonst von dieser Vorschrift nicht erfaßten früheren Beschäftigungszeiten zu erstrecken; der begünstigte Personenkreis sollte dadurch aber nicht erweitert werden. Hiervon ist auch das LSG ausgegangen; es hat mit Recht darauf hingewiesen, daß dies offenbar auch die Ansicht des Bundesrats war, wie seiner Stellungnahme zum RVÄndG zu entnehmen sei (vgl. BT-Drucksache IV 2572 S. 39).

Ist somit die Nachversicherung des Klägers nach § 18 AVG aF zu beurteilen, kann sie für die Zeiten nicht durchgeführt werden, in denen die Dienstbezüge des Klägers die Versicherungspflichtgrenze in der AnV (§ 3 AVG aF) überschritten, denn insoweit wäre der Kläger nicht "sonst" versicherungspflichtig im Sinne des § 18 AVG aF gewesen.

An dieser Rechtslage hat sich entgegen der Auffassung des LSG auch dadurch nichts geändert, daß dem § 9 AVG durch das RVÄndG ein Absatz 7 zugefügt worden ist, wonach das Überschreiten der Versicherungspflichtgrenze der Nachversicherung nicht entgegensteht. Diese neue Gesetzesbestimmung kann sich - wie der bisherige § 9 AVG, den sie ergänzt - nur auf Nachversicherungsfälle seit dem 1. März 1957 beziehen. Zwar ist diese Vorschrift durch Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. a RVÄndG ausdrücklich zum 1. Januar 1957 in Kraft gesetzt worden. Warum dies geschehen ist, ist jedoch nicht ersichtlich. Die Gesetzesmaterialien geben hierüber keinen Aufschluß (vgl. BT-Drucks. IV zu Drucks. 3233, Begründung zu Art. 4 § 8 Abs. 1). Ob - wie im Schrifttum teilweise angenommen wird (so u. a. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1966, S. 626 h) - die Inkraftsetzung des Abs. 7 zum 1. Januar 1957 möglicherweise auf einem redaktionellen Versehen beruht, kann offen bleiben. Denn jedenfalls kann sich diese später eingefügte Gesetzesbestimmung nach ihrem Sinn und Zweck nur auf die überhaupt von § 9 AVG erfaßten Nachversicherungsfälle beziehen, setzt also eine Nachversicherung nach Abs. 1 dieser Vorschrift voraus. Mit der Einfügung des Abs. 7 in § 9 AVG sollte nicht dessen Anwendungsbereich erweitert, sondern nur die bereits in Art. 2 § 4 Abs. 1 Satz 3 AnVNG enthaltene Regelung wegen ihres allgemeinen Charakters in das AVG übernommen werden (vgl. BT-Drucks. IV/2572 Begr. zu § 1 Nr. 4 sowie Pappai, BABl 1965, S. 597, 598).

Wäre mit jenem zusätzlichen Absatz 7 zu § 9 AVG beabsichtigt gewesen, nur - oder auch - bisher von dem neuen Nachversicherungsrecht nicht berührte "alte" Fälle zu erfassen, hätte es nahegelegen, die Übergangsbestimmung des Art. 2 § 4 Abs. 1 AnVNG entsprechend auf vor dem 1. März 1957 eingetretene Nachversicherungsfälle auszudehnen. Das wäre umso mehr geboten gewesen, als der Gesetzgeber das RVÄndG nicht nur die allgemeine Auffassung kannte, daß sich Art. 2 § 4 Abs. 1 AnVNG auf nach dem 28. Februar 1957 aus der versicherungsfreien Beschäftigung ausgeschiedene Personen bezieht, sondern auch weil er vom Bundesrat gebeten worden war, eine Ausdehnung des Art. 2 § 4 Abs. 1 AnVNG auf frühere Fälle zu prüfen. Das Unterlassen einer Änderung dieser Vorschrift und die stattdessen getroffene Regelung, nämlich die Schaffung eines zusätzlichen Absatzes 7 in § 9 AVG sowie das Fehlen jeglicher Begründung für das Inkraftsetzungsdatum sprechen dafür, daß mit jener Regelung keine Ausdehnung des § 9 AVG auf frühere Nachversicherungsfälle beabsichtigt war, sondern nur - klarstellend für die Zukunft auch im Gesetzestext selbst das nachgeholt wurde, was schon in Art. 2 § 4 AnVNG geregelt war. Im Hinblick auf die Zweckbestimmung der Gesetzesänderung ist der Senat der Auffassung, daß dem Wortlaut der Übergangsvorschrift in Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. a RVÄndG keine entscheidende Bedeutung zukommt; die gesetzesgerechte Sinnermittlung führt vielmehr zu dem Ergebnis, daß der Abs. 7 des § 9 AVG keine eigenständige Bedeutung hat, sondern nur für die nach § 9 AVG zu beurteilenden - also die nach dem 28. Februar 1957 eingetretenen - Nachversicherungsfälle gilt. Dagegen sind für die früheren Nachversicherungsfälle die Versicherungspflichtgrenzen weiterhin zu beachten.

Die Revision muß daher Erfolg haben. Das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380124

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge