Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 09.10.1975; Aktenzeichen L 6 J 419/74)

SG Marburg (Urteil vom 08.04.1974)

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. Oktober 1975 wird aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 8. April 1974 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Verfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Rechtsstreit wird um die Gewährung des Kinderzuschusses geführt. Er betrifft die Frage, ob ein Kind, dessen Ehelichkeit der Rentenberechtigte mit Erfolg angefochten hat (im folgenden: außereheliches Kind), sein Stiefkind iS des § 1262 Abs 2 Nr 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist.

Die Klägerin hat am 8. Juni 1967 während der Ehe mit dem Rentner P.… (Versicherter) das Kind Michael geboren. Im Februar 1968 stellte das Landgericht Marburg rechtskräftig fest, Michael sei nicht das Kind des Versicherten. Auch danach blieb Michael im gemeinsamen Haushalt, den der Versicherte mit der Klägerin führte. Im Juni 1972 starb der Versicherte. Seinen Antrag auf Kinderzuschuß für Michael lehnte die Beklagte ab, weil ein Pflegekindschaftsverhältnis nicht vor Eintritt des Versicherungsfalles begründet worden sei (Bescheid vom 2. März 1973).

Die Klägerin hat als Rechtsnachfolgerin des Versicherten mit der Klage den Kinderzuschuß für die Zeit von Juni 1967 bis Juni 1972 beansprucht. Das Sozialgericht (SG) hat Michael als Stiefkind iS des § 1262 Abs 2 Nr 2 RVO angesehen und dem Antrag stattgegeben (Urteil vom 8. April 1974). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Oktober 1975): Michael sei kein Stiefkind des Versicherten, weil darunter nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) und der im Schrifttum herrschenden Meinung nur die in die Ehe eingebrachten ehelichen oder unehelichen Kinder des anderen Ehegatten verstanden werden könnten. Dem stehe der Grundgedanke des § 1262 RVO nicht entgegen. Regelmäßig werde ein Sachverhalt wie der vorliegende von § 1262 Abs 2 Nr 7 RVO (Pflegekindschaftsverhältnis) erfaßt; dies sei hier nur aus den im Bescheid erwähnten Gründen gescheitert.

Die Klägerin hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und ausgeführt, die vom RVA 1928 wiedergegebene Definition des Begriffes “Stiefkind” sei überholt. Es widerspreche auch dem Gleichheitssatz, zwischen den in die Ehe eingebrachten nichtehelichen und außerehelich geborenen Kindern zu unterscheiden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist begründet.

Dem Versicherten stand der Kinderzuschuß für Michael zu. Daß dieses Kind in den Haushalt des Rentenberechtigten aufgenommen war, steht fest. Im Gegensatz zur Ansicht der Vorinstanz ist es aber auch des Versicherten Stiefkind iS des § 1262 Abs 2 Nr 2 RVO.

Der Begriff “Stiefkind” ist nicht gesetzlich definiert, obwohl damit im Bereich der Sozialversicherung und der Versorgung häufig ein Normadressat oder mittelbar Begünstigter bezeichnet wird (außer den § 1262 Abs 2 Nr 2 RVO entsprechenden Bestimmungen des Angestelltenversicherungsgesetzes -AVG- und Reichsknappschaftsgesetzes -RKG- zB § 583 Abs 5 Nr 2 RVO, § 2 Abs 1 Nr 5 Bundeskindergeldgesetz -BKGG-, § 33b Abs 2 Nr 4 Bundesversorgungsgesetz -BVG-, § 265 Abs 2 Satz 3 Lastenausgleichsgesetz -LAG-, § 122 Abs 1 Satz 1 Bundesbeamtengesetz -BBG-, § 32 Abs 4 Nr 4 Einkommensteuergesetz 1975 -EStG-).

Denkbar sind im wesentlichen drei Stufen zur Abgrenzung des Begriffes: entweder sind nur die aus einer früheren Ehe des anderen Ehegatten stammenden Kinder oder alle “eingebrachten” – auch nichtehelichen – Kinder oder schlechthin alle Kinder des anderen Ehegatten Stiefkinder. Daß § 1262 Abs 2 Nr 2 RVO jedenfalls auch nichteheliche Kinder des anderen Ehegatten erfaßt, ergibt sich schon aus der Entwicklungsgeschichte dieser Vorschrift. Der Vorgänger des § 1262 RVO, § 1258 RVO in der Fassung des § 13 Nr 5 Kindergeldergänzungsgesetz vom 23. Dezember 1955, die vom 1. Januar 1955 bis zum 31. Dezember 1956 gegolten hatte, beschränkte die Gewährung des Kinderzuschusses unter Nr 2 auf eheliche Stiefkinder. Diese Beschränkung hat der Gesetzgeber der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze 1957 aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken aufgegeben.

Die Ansicht des LSG, außereheliche Kinder der Ehefrau seien keine Stiefkinder des Ehemannes, geht auf ein Urteil des RVA vom 30. April 1928 zurück (EuM 22, 310), dem auch heute noch ein Teil des Schrifttums zu § 1262 Abs 2 Nr 2 RVO folgt. Das RVA hatte sich damals in einer zur Unfallversicherung ergangenen Entscheidung auf ein Urteil des Reichsversorgungsgerichts aus dem Jahre 1925 berufen (Bd 4 S. 273), demzufolge nach dem Sprachgebrauch unter Stiefkindern nur die in die Ehe eingebrachten Kinder des anderen Ehegatten zu verstehen seien. Auch der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 25. Juli 1963 (SozR Nr 9 zu § 1262 RVO) einen derartigen Sprachgebrauch angenommen; es handelte sich aber nicht um ein außereheliches Kind, sondern es ging um den Fortbestand des Stiefkindverhältnisses nach Scheidung der Ehe. Es ist indessen zumindest zweifelhaft, ob ein derartiger allgemeiner Sprachgebrauch besteht. Ein solcher kann ohnehin zur Auslegung eines Begriffs namentlich dann nur mit Vorsicht herangezogen werden, wenn es sich um Grenzfälle, dh Sachverhalte handelt, die für den Begriff nicht ohne weiteres typisch sind. Tatsächlich gab es sogar innerhalb des RVA unterschiedliche Auffassungen. So heißt es in einer grundsätzlichen Entscheidung vom 29. April 1926 (AN 26, 423), nach dem allgemeinen Sprachgebrauch seien “Stiefkinder eines Ehegatten leibliche eheliche oder uneheliche Kinder des anderen Ehegatten”. Hierzu wurde auf ein Urteil des Bayerischen Landesversicherungsamts (EuM 17, 342) Bezug genommen. Dort war ausgeführt: Für den Begriff “Stiefkinder” sei das bürgerliche Recht maßgebend, das allerdings nur von Verschwägerten spreche (§ 1590 Abs 1 BGB); hiernach sei das leibliche – eheliche oder uneheliche – Kind des einen Ehegatten mit dem anderen Ehegatten verschwägert, der allgemeine Sprachgebrauch bezeichne ein solches Kind als Stiefkind des anderen Ehegatten.

Im übrigen gehen sprachgeschichtliche Hinweise nicht in die Richtung, daß unter Stiefkindern nur die in die Ehe eingebrachten Kinder zu verstehen seien. Mittelhochdeutsch soll als Stiefkind (stiefkint) auch ein Kind bezeichnet worden sein, das in der Ehe geboren, dessen Vater aber nicht der Ehemann ist (Weigand-Hirth, Deutsches Wörterbuch, 1910; Trübners Deutsches Wörterbuch, Verlag de Gruyter, Berlin 1955). In letzter Zeit wird der Begriff zunehmend weiter umschrieben mit “Sohn oder Tochter des Ehepartners” (Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Bertelsmann-Lexikon-Verlag, 1972; Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, [Ost-] Berlin, 1974). Die Tendenz, in diesem Sinne den Begriff aufzufassen, lassen auch die Verwaltungsvorschriften zum BVG erkennen. Während zunächst diese Verwaltungsvorschriften zu § 32 BVG die Einschränkung enthielten, ein während der Ehe geborenes Kind, dessen Unehelichkeit durch rechtskräftiges Urteil festgestellt ist, sei nicht als Stiefkind anzusehen (vgl Nr 16d idF vom 31. August 1953, Bundesanzeiger -BAnz- Nr 170 vom 4. September 1953; Nr 14d vom 3. September 1958 BAnz Nr 176), fehlt seit der Fassung vom 14. August 1961 (BAnz Nr 161) zu dem an die Stelle von § 32 getretenen § 33b BVG dieser Satz.

Hiernach legt schon der Wortlaut nahe, das außereheliche Kind ebenfalls als Stiefkind anzusehen. Der Sinnzusammenhang, in den § 1262 Abs 2 Nr 2 RVO hineingestellt ist, sowie der Zweck der Vorschrift bestätigen dies. Die Gewährung des Kinderzuschusses setzt entweder das Bestehen einer gesetzlichen Unterhaltspflicht voraus (so § 1262 Abs 2 Nr 1, 3 bis 6), oder es genügt eine nur familienhafte Beziehung zum Rentenberechtigten, wenn die Aufnahme in dessen Haushalt hinzukommt (Nr 2). Die letztere Gruppe war noch stärker profiliert, bevor § 1262 Abs 2 Nr 7 und 8 durch § 15 Nr 10 Buchst. b des 19. Rentenanpassungsgesetzes vom 3. Juni 1976 gestrichen wurde; für Pflegekinder (Nr 7) war das familienähnliche Verhältnis näher umschrieben, für Enkel und Geschwister bedurfte es keiner Aufnahme dieser Voraussetzung ins Gesetz. Nach der Systematik des Gesetzes wird also bei Stiefkindern die familienhafte Beziehung unterstellt.

Der Senat verkennt allerdings nicht, daß die Situation für den Ehemann der Kindesmutter eine wesentlich andere ist, je nachdem, ob das nichteheliche Kind bereits in die Ehe eingebracht oder erst während der Ehe geboren wird. Die Begründung des Stiefkindschaftsverhältnisses hängt indessen nicht vom Willen des Stiefvaters ab, der auch keinen Einfluß darauf hat, daß ein Schwägerschaftsverhältnis iS des § 1590 Abs 1 BGB gerade durch die erfolgreiche Anfechtung der Ehelichkeit des Kindes entsteht. Insbesondere läßt sich – entgegen der erwähnten Entscheidung des Reichsversorgungsgerichts – aus dieser Anfechtung nicht herleiten, daß der Rentenberechtigte “jegliche Beziehungen zu diesem Kunde zurückweise, auch für seinen Unterhalt nicht aufzukommen gedenke”. Die Ehelichkeitsanfechtung wirkt sich unmittelbar auf die gesetzliche Unterhaltspflicht und das Erbrecht aus; sie hatte früher auch namensrechtliche Folgen. Gleichwohl kann der Anfechtende – das zeigt der vorliegende Sachverhalt – den Entschluß fassen, weiterhin für das Kind zu sorgen. Geschieht dies, beläßt er das Kind auch von dem Zeitpunkt an, da dessen Nichtehelichkeit rechtskräftig festgestellt ist, in seinem Haushalt, so hat er damit den Willensakt vollzogen, der in § 1262 Abs 2 Nr 2 RVO zum objektiven Merkmal des Stiefkindschaftsverhältnisses hinzukommen muß. Andere Gesichtspunkte – so die Beurteilung des Verhaltens der Kindesmutter und deren Verhältnis zum Rentenberechtigten – müssen dagegen unberücksichtigt bleiben; nur wertneutrale Kriterien können maßgebend sein (so mit Recht Bay. LSG in Bay. ABl 1971 B 5).

In diesem Zusammenhang muß noch der Gesetzeszweck berücksichtigt werden; die Aufwendungen, die dem Berechtigten durch die Betreuung und den Unterhalt von Kindern entstehen, teilweise auszugleichen (Bundesverfassungsgericht – BVerfG – in SozR 2600 § 60 RKG Nr 1 unter Hinweis auf BVerfGE 17, 1, 10 und BSG in SozR Nr 14 zu § 2 BKGG). Wenn diese beitragsunabhängige, dem sozialen Ausgleich dienende Leistung der Rentenversicherung demjenigen zusteht, der ein vorehelich-nichteheliches Kind der Frau in seinen Haushalt aufnimmt, so kann nach dem vom Gesetz verfolgten Zweck und von der Interessenlage her gesehen nichts anderes in dem hier vorliegenden Fall gelten, daß der Rentner das Kind – nach erfolgreicher Anfechtung der Ehelichkeit – in seinem Haushalt beläßt.

Überdies gebietet die verfassungskonforme Auslegung das hier gefundene Ergebnis. Würde – wie das die Revision möchte – bei nichtehelichen Kindern ein Trennungsstrich gezogen zwischen einem von der Frau in die Ehe mitgebrachten nichtehelichen Kind und einem Kind, das erst während der Ehe außerehelich geboren ist, so ließe dies an eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) denken. Eine solche Differenzierung dürfte schon für sich allein betrachtet im Verhältnis zum Rentenberechtigten (der zugleich Anspruchsberechtigter hinsichtlich des als Teil der Rente geltenden Kinderzuschusses ist) sachfremd sein. Das folgt aber auch aus Art 6 Abs 5 GG, wonach das Gesetz unehelichen Kindern für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft die gleichen Bedingungen zu verschaffen hat wie den ehelichen Kindern. Diese verfassungsrechtliche Wertentscheidung muß auch im Rahmen des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes beachtet werden (BVerfG in SozR Nr 63 Ab 57 unter Hinweis auf BVerfGE 8, 210, 216; 17, 148, 153). Danach darf die gesetzliche Regelung nicht aufgrund sachfremder Erwägungen einzelne Gruppen nichtehelicher Kinder im Verhältnis zu anderen Gruppen schlechterstellen, und sei es auch nur mittelbar (BVerfG aaO Nr 63; BVerfG in SozR Nr 4 zu Art 6 GG). Ob dem im gemeinsamen Haushalt befindlichen Rentenberechtigten Kinderzuschuß gezahlt wird, wirkt sich regelmäßig auf die Lage des Kindes aus. Außerdem muß im Hinblick auf Art 6 Abs 5 GG durch Gesetze (und deren Auslegung) das Mögliche getan werden, um die natürliche Benachteiligung des nichtehelichen Kindes – Fehlen einer Familiengemeinschaft mit Vater und Mutter – auszugleichen (vgl BVerfG aaO Nr 63). Das bedeutet auch, den Verbleib in einer Familie sichern zu helfen. Dem entspricht es, den Kinderzuschuß dem Rentenberechtigten für ein außereheliches Kind der Frau zu gewähren, wenn er dieses Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 893548

BSGE, 147

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