Entscheidungsstichwort (Thema)

Änderung bindender Verwaltungsakte. Zugunstenbescheid. Sachaufklärungspflicht. Zurückverweisung an die Verwaltung. Berichtigungsvoraussetzung Nachprüfungsrecht

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Voraussetzungen, die eine Ausübung von Verwaltungsermessen bei der Abänderung bindender Verwaltungsakte erst eröffnen, unterliegen der vollen gerichtlichen Überprüfung, so daß vom Gericht zu klären ist, ob die mit dem Abänderungsbegehren angegriffene rechtsverbindliche Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch unrichtig ist.

 

Orientierungssatz

1. Ist die Erteilung eines neuen, berichtigenden Bescheids (KOVVfG § 40 Abs 1) von der Versorgungsbehörde mittels Verwaltungsakt abgelehnt worden, so verstößt das Gericht grundsätzlich gegen die eigene Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, wenn es die Sache unter Aufhebung des Verwaltungsaktes an die Versorgungsbehörde zurückverweist, weil diese trotz konkreter Veranlassung die Unrichtigkeit der bindend gewordenen früheren Bescheide nicht geklärt habe (vgl auch BSG vom 1977-11-24 9 RV 64/76 = SozR 1500 § 103 Nr 16 und vom 1978-02-09 9 RV 24/77).

2. Nach KOVVfG § 40 Abs 1 "kann" ein entsprechender Bescheid erteilt werden, dh die Verwaltungsbehörde kann ihr Ermessen ausüben, wenn eine ältere rechtsverbindliche Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch unrichtig ist. Die Unrichtigkeit ist indessen nicht Gegenstand der Ermessensentschließung, sondern deren - ungeschriebene - Voraussetzung. Sie ist damit unabdingbare Vorbedingung für eine mit der Klage erstrebte Berichtigung (vgl BSG vom 1969-06-24 10 RV 282/66 = BSGE 29, 278, 282). Als solche ist sie wie jedes Tatbestandskriterium auf ihre Anwendbarkeit im Einzelfall durch das Gericht voll nachzuprüfen.

 

Normenkette

SGG § 54 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1974-07-30; KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1955-05-02

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.05.1977; Aktenzeichen L 11 V 73/76)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 26.02.1976; Aktenzeichen S 28 V 51/75)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. Mai 1977 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Den Antrag des Klägers, seinen Herzfehler (Mitralklappenfehler mit Stenose und Insuffizienz bei zu Rückfällen neigendem Gelenkrheumatismus) als Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen, hatte die Versorgungsverwaltung mit Bescheid vom 16. September 1947 abgelehnt. Abschlägig beschied sie auch in den Jahren 1951 und 1959 mehrere Gesuche des Klägers um Überprüfung der Angelegenheit. Jedoch verpflichtete sich der Beklagte in einem Vergleich vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf vom 2. April 1974, über das Begehren des Klägers auf Beschädigtenversorgung "rechtsbehelfsfähig" zu befinden. Schließlich hielten die Versorgungsbehörden aber doch wiederum an der Auffassung fest, daß es bei der früheren, dem Kläger ungünstigen Entscheidung zu bleiben habe (Bescheid vom 20. August 1974, Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 1975).

Die Klage hat das SG abgewiesen; das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil abgeändert, die angefochtenen Verwaltungsakte aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger hinsichtlich des Herzfehlers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts einen Bescheid in der Sache zu erteilen. Es hat ausgeführt, die Versorgungsbehörden hätten ihr Ermessen, frühere Verwaltungsakte zu korrigieren (§ 40 Abs 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung - KOVVfG -), nicht fehlerfrei ausgeübt. Sie hätten es nämlich verabsäumt, sich ausreichende sachliche Entscheidungsgrundlagen zu verschaffen. Sie seien nicht der Behauptung des Klägers nachgegangen, der schon im Februar 1945, im November 1946 und später wiederholt vorgetragen habe, er habe sich, als er 1936 drei Monate Wehrdienst ableistete, bei einer Durchnässung einen Gelenk- und Muskelrheumatismus mit der Folge der Herzerkrankung zugezogen. Daß dieses Vorbringen entscheidungserheblich gewesen sei, hätte die Verwaltung aufgrund eines ärztlichen Gutachtens von Prof. Dr. S erkennen müssen.

Dieser Sachverständige habe den Herzklappenfehler ursächlich auf den Gelenkrheumatismus zurückgeführt und im übrigen die Frage aufgeworfen, wann beim Kläger das Rheuma aufgetreten sei. Als Schädigungsfolge käme der Herzfehler in Betracht, wenn das Rheumaleiden während des Dienstes im Jahre 1936 entstanden oder während des Kriegsdienstes im Jahre 1940 wiedergekehrt sei. Das Berufungsgericht vermißt Nachforschungen beim Bundesarchiv, bei der Deutschen Dienststelle, beim Krankenbuchlager sowie die Beiziehung des Soldbuches, die Befragung von Zeugen und die Ermittlung des Krankenhauses, in dem der Kläger 1936 wegen der Rheumaerkrankung behandelt worden sei. Diesen Beanstandungen - so das LSG - könne nicht ein Schriftstück vom 8. März 1945 entgegengehalten werden, in welchem der Kläger erklärt habe, daß seine Entlassung aus dem Wehrdienst wegen eines Leidens erfolge, das er vor dem Wehrdienst gehabt habe und das nicht durch diesen Dienst verschlimmert worden sei. Diese Äußerung hat das LSG für verständlich gehalten. Denn damals habe der Kläger aus dem Krankheitsbefund keine Versorgungsrechte herleiten können. Nach dem damals dafür maßgebenden Wehrmachtsfürsorge- und -versorgungsgesetz vom 26. August 1938 (RGBl I, 1077) hätte der Kläger eine Antragsfrist einhalten müssen (§ 69 Abs 2 aaO), die 1945 mit Sicherheit längst verstrichen gewesen sei. - Das LSG hat sich nicht für verpflichtet gehalten, die Beweiserhebungen, die seines Erachtens noch nötig sind, selbst vorzunehmen. Der Umfang der gerichtlichen Sachaufklärungsaufgabe sei, meint es, bei der Kontrolle des Verwaltungsermessens nicht von dem gleichen Ausmaß wie bei der Prüfung der ersten Geltendmachung des Versorgungsanspruchs oder bei einer Neufeststellung wegen Änderung der Verhältnisse. Vielmehr reiche es für die richterliche Sachermittlungspflicht in solchen Fällen aus, daß sich bloß Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ermessensentscheidung ergäben. Das Ermessen der Verwaltung dürfe auch nicht dadurch eingeengt werden, daß ihr die Auswahl der Sachverständigen und sonstiger geeigneter Beweismittel vorgeschrieben oder aufgedrängt werde. Dies müsse um so mehr gelten, wenn - wie hier - bereits nach der Möglichkeit eingehender Prüfung Vorentscheidungen unanfechtbar geworden seien. Bei entgegenstehender Ansicht übersehe man, daß das Gesetz zwischen einem in das Verwaltungsermessen gestellten und einem zwingend vorgeschriebenen Zugunstenbescheid unterscheide (§ 40 Abs 1 und 2 KOVVfG) sowie darüber hinaus das Institut der Verfahrenswiederaufnahme bereitstelle (§ 179 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Der Beklagte hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Er hält dem Berufungsurteil entgegen, daß mit den angefochtenen Verwaltungsakten eine Ermessensentscheidung gar nicht getroffen worden sei. Vielmehr habe die Verwaltung die früheren Bescheide als richtig angesehen und sich deshalb für außerstande gehalten, ihr Ermessen obwalten zu lassen. Die Feststellung, ob die älteren Verwaltungsakte richtig seien oder nicht, betreffe nicht das Ermessen selbst, sondern seine Voraussetzung. Diese Voraussetzung tatsächlich zu klären, sei in vollem Umfang Aufgabe des Richters. Er dürfe den angefochtenen Verwaltungsakt nicht aufheben, solange er nicht von dessen Unrichtigkeit und damit dessen Rechtswidrigkeit überzeugt sei.

Der Beklagte beantragt,

das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen;

hilfsweise:

die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten hat Erfolg.

Das Berufungsurteil ist nicht aufrechtzuerhalten. Die angefochtenen Verwaltungsakte, mit denen die Erteilung neuer, berichtigender Bescheide (§ 40 Abs 1 KOVVfG) abgelehnt worden waren, durften beim gegenwärtigen Stande der Sache nicht aufgehoben werden. Diese Entscheidung wäre nur gerechtfertigt, wenn feststünde, daß diese Verwaltungsakte rechtswidrig sind. Ihre Rechtswidrigkeit ist jedoch bislang nicht dargetan. Das LSG hat sich von der abweichenden Ansicht leiten lassen, daß die Verwaltung ermessenfehlerhaft entschieden habe, weil sie sich bei ihrer Entschließung auf unzureichende tatsächliche Grundlagen gestützt habe. Mit dieser Überlegung ist das LSG aber an der Aufgabe vorbeigegangen, die ihm oblag, nämlich den Sachverhalt zu klären, der nach zwingender Rechtsnorm gegeben sein muß, um das Verwaltungsermessen überhaupt erst zu eröffnen. Der Kläger fordert im Wege einer ihm günstigen Neubescheidung die Anerkennung seines Herzfehlers als Schädigungsfolge iS des § 1 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Ein entsprechender Bescheid "kann" erteilt werden - die Verwaltungsbehörde kann ihr Ermessen ausüben -, wenn eine ältere rechtsverbindliche Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch unrichtig ist. Die Unrichtigkeit ist indessen nicht Gegenstand der Ermessensentschließung, sondern deren - ungeschriebene - Voraussetzung. Sie ist damit unabdingbare Vorbedingung für eine mit der Klage erstrebte Berichtigung (BSGE 29, 278, 282 f uö). Als solche ist sie wie jedes Tatbestandskriterium auf ihre Anwendbarkeit im Einzelfall durch das Gericht voll nachzuprüfen. Das LSG durfte es deshalb nicht bei der - an sich zutreffenden - Feststellung bewenden lassen, die für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der ursprünglich getroffenen Regelung maßgeblichen Umstände seien noch erst durch Beiziehung von Unterlagen, Einholung von Auskünften und Zeugenvernehmungen zu ermitteln (vgl Seiten 6 und 7 des Abdrucks der Gründe des angefochtenen Urteils). Indem das Berufungsgericht diese Nachforschungen nicht selbst anstellte, verletzte es das Gebot, die Spruchreife der Streitsache herbeizuführen. Durch § 131 Abs 2, § 103 Satz 1, § 123 SGG ist dem Tatsachenrichter die Pflicht auferlegt, den Sachverhalt zu ermitteln und festzustellen, der für die Entscheidung über das Klagebegehren erheblich ist. Diese Pflicht gilt gleichermaßen für die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Verwaltungsaktes, mit dem die Behörde von ihrem Ermessen Gebrauch macht, wie von einer behördlichen Regelung, welche ganz oder zum Teil auf zwingendem Recht beruht (BSG-Urteil vom 24. November 1977 - 9 RV 64/76; 9. Februar 1978 - 9 RV 24/77). Der erste Fall ist hier gegeben.

Dies hat der Senat bereits in dem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 24. November 1977 näher ausgeführt. Mit jenem Urteil war über die Revision gegen eine Entscheidung desselben Berufungsgerichts zu befinden. Dort hatte das LSG ebenfalls - mit im wesentlichen gleichlautenden Argumenten wie jetzt - geglaubt, von eigenen Sachermittlungen freigestellt zu sein, wenn es um die Unrichtigkeit nach § 40 Abs 1 KOVVfG geht. Der gegenwärtige Fall unterscheidet sich im Rechtlichen nicht von dem damaligen. Es genügt daher, auf die Erwägungen zu verweisen, mit denen den Argumenten des LSG begegnet worden ist. Neue Gesichtspunkte, die den Senat veranlassen könnten, von der früher vertretenen Auffassung abzugehen, sind inzwischen nicht aufgetreten.

Damit das LSG über den Teil der Sache, der nicht dem Verwaltungsermessen vorbehalten ist, entscheiden und insoweit die in Betracht zu ziehenden Tatsachen erforschen und würdigen kann, ist das Berufungsurteil aufzuheben. Der Rechtsstreit ist an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Erstattung der Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG zu fällen haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651991

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