Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 08.05.1984)

SG Dortmund (Urteil vom 30.09.1983)

 

Tenor

Auf die Revisionen der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Mai 1984 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 30. September 1983 wird zurückgewiesen, soweit sie die Rückforderung des Grundstückskaufpreises von 32.912,– DM betrifft. Im übrigen wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Versicherte, dessen Erben die drei Kläger zu gleichen Teilen sind, bezog von der Beklagten Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um zuletzt 80 vH. Mit notariellem Vertrag vom 26. April 1979 kaufte er von der Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft N. H. Nordrhein-Westfalen das von ihm bereits bewohnte Hausgrundstück in B., dessen Kaufpreis von insgesamt 32.912,– DM in zwei Raten zum 1. August und zum 1. Oktober 1979 gezahlt werden sollte. Die Vertragsparteien verpflichteten sich, die Auflassung zu erklären, sobald der Käufer den Kaufpreis bezahlt habe, die katasteramtliche Übernahme erfolgt und die rangrichtigen Eintragungen im Grundbuch gesichert seien. Der Versicherte bevollmächtigte den Notar, ihn bei der Auflassung zu vertreten und alle Erklärungen, im Zusammenhang mit dem Vertrag abzugeben. Antragsgemäß gewährte die Beklagte dem Versicherten eine Rentenabfindung von insgesamt 41.654,20 DM (Bescheid vom 2. August 1979) unter der Auflage, daß die Abfindungssumme unverzüglich, spätestens bis zum 31. Juli 1981, zum Zwecke des Erwerbs und der wirtschaftlichen Stärkung eigenen Grundbesitzes in B. zu verwenden sei. Die Abfindungssumme wurde im September 1979 in Höhe des Kaufpreises von 32.912,– DM an die N. H. und in Höhe von 8.742,20 DM an den Versicherten zur Ausführung von Sanierungsarbeiten überwiesen. Am 3. Juli 1981 verstarb der Versicherte. Nunmehr forderte die Beklagte von der Klägerin zu 2), die sie für die Alleinerbin hielt, den Nachweis der Eigentumsüberschreibung und Belege über die Verwendung der Restabfindung an. Die Klägerin zu 2) übersandte daraufhin eine an den Versicherten gerichtete Rechnung der N. H. vom 26. Februar 1981 über 17.459,33 DM für die laut Kaufvertrag durchzuführenden Modernisierungsmaßnahmen und legte die Kopie einer Auflassungsverhandlung über das gekaufte Grundstück vom 3. August 1981 vor, wonach die Eintragung der Eigentumsänderung im Grundbuch beantragt wurde.

Mit Bescheiden vom 24. März 1982 forderte die Beklagte den Betrag von 34.781,27 DM von den Klägern als den gemeinschaftlichen Erben des Versicherten mit der Begründung zurück, der Versicherte habe die Abfindungssumme nicht bestimmungsgemäß verwendet, weil das Hausgrundstück in B. bei seinem Tode noch nicht auf ihn umgeschrieben gewesen sei. Die Höhe des zurückzuzahlenden valutierten Kapitals ergebe sich aus § 612 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 27. August 1982).

Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die Beklagte am 30. September 1983 verurteilt, die angefochtenen Bescheide aufzuheben. Im Zeitpunkt des Todes des Versicherten sei die Abfindungssumme bereits bestimungsgemäß verwendet gewesen. Dies sei durch Abschluß des notariellen Kaufvertrages über das Hausgrundstück und Zahlung des Kaufpreises an die Verkäuferin sowie durch die bis zum Tode durchgeführten Sanierungsarbeiten im Werte von 17.459,33 DM geschehen.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen die Klagen mit Urteil vom 8. Mai 1984 in Abänderung des Urteils des SG abgewiesen. Für eine bestimmungsgemäße Verwendung der Abfindung im Sinne von § 611 Abs. 1 RVO hat es verlangt, daß der Zweck der Abfindung – Erwerb des Eigentums – spätestens im Todeszeitpunkt des Versicherten erreicht oder wenigstens durch die Eintragung einer Auflassungsvormerkung im Grundbuch gesichert sei. Andernfalls könnte den Erben wegen des mit dem Tode eintretenden Endes der Rente nicht zu Lasten der Versichertengemeinschaft der Genuß der Kapitalabfindung verbleiben, zumal sie die Möglichkeit hätten, die Erbschaft auszuschlagen. Auf den Nachweis der Verwendung des Abfindungsbetrages von 8.742,20 DM für Sanierungsarbeiten komme es unter diesen Umständen nicht mehr an.

Mit der zugelassenen Revision rügen die Kläger eine Verletzung des § 611 Abs. 1 RVO. Bestimmungsgemäß verwendet worden im Sinne dieser Vorschrift sei die Rentenabfindung dadurch, daß sie von der Beklagten direkt an die als Verkäuferin des Hausgrundstücks auftretende Sanierungstreuhänderin für die Stadt B. gezahlt und mit dem Restbetrag zu Sanierungsarbeiten verwendet worden sei.

Die Kläger beantragen sinngemäß,

unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Mai 1984 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 30. September 1983 zurückzuweisen; hilfsweise, das Verfahren unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revisionen der Kläger sind begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, soweit es sich um die Rückforderung des Grundstückskaufpreises von 32.912,– DM handelt. Im übrigen ist der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Zutreffend haben die Vorinstanzen den Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit bejaht. Streitig ist nämlich der öffentlich-rechtliche Rückzahlungsanspruch der Beklagten, der sich aus § 611 RVO ergibt. Dieser zunächst nur dem Versicherten gegenüber bestehende Anspruch wird infolge seines Todes zu einer auf der Erbmasse liegenden, dem öffentlichen Recht angehörenden Belastung. Bei den Rückforderungsbescheiden handelt es sich um hoheitliche Anordnungen der Beklagten zur Regelung eines dem öffentlichen Recht angehörenden Rechtsverhältnisses im Einzelfall und damit um Verwaltungsakte, die gemäß § 51 Abs. 1 SGG von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen sind (vgl BSGE 24, 190, 191 und Urteil des BSG vom 26. Juni 1972 – 2 RU 214/68 – in Die Berufsgenossenschaft – BG– 1973 S 159).

Nach § 611 Abs. 1 RVO hat der Verletzte auf Anforderung des Trägers der Unfallversicherung die Abfindungssumme zurückzuzahlen, soweit sie nicht innerhalb der von dem Träger der Unfallversicherung gesetzten Frist bestimmungsgemäß verwendet worden ist. Was mit der bestimmungsgemäßen Verwendung im Sinne dieser Vorschrift gemeint ist, ergibt sich aus § 607 Abs. 1 RVO. Danach kann einem Verletzten, der Anspruch auf eine Dauerrente von 30 vH der Vollrente oder mehr hat, auf seinen Antrag zum Erwerb oder zur wirtschaftlichen Stärkung eigenen Grundbesitzes oder grundstücksgleicher Rechte eine Abfindung durch einen Geldbetrag gewährt werden. Die Zweckbestimmung der Abfindung besteht also – ua – in der Verwendung zum Erwerb eigenen Grundbesitzes. Dieser vollzieht sich nach den dafür maßgebenden Bestimmungen des bürgerlichen Rechts. Nach § 313 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist zunächst ein der notariellen Beurkundung bedürftiger Kaufvertrag über das Grundstück notwendig. Zur Übertragung des Eigentums an einem Grundstück ist nach § 873 Abs. 1 BGB die Einigung des Berechtigten und des anderen Teiles über den Eintritt der Rechtsänderung und die Eintragung der Rechtsänderung in das Grundbuch erforderlich. Erst mit der Eintragung erwirbt der Käufer das Eigentum an dem Grundstück.

Der von § 607 Abs. 1 RVO bezeichnete Abfindungszweck „Erwerb eigenen Grundbesitzes” ist demnach ein Vorgang, der vom Abschluß des Grundstückskaufvertrages bis zur Eintragung der Rechtsänderung ins Grundbuch reicht. Dabei geht in aller Regel die Zahlung des Grundstückskaufpreises – wenn auch auf Treuhandkonto des Notars – der Eintragung der Rechtsänderung ins Grundbuch voraus. Jedenfalls kann von dem Verkäufer nicht erwartet werden, daß er sich vor Zahlung des Kaufpreises mit dem Übergang des Eigentums auf den Käufer und der entsprechenden Eintragung im Grundbuch einverstanden erklärt und diese beantragt. Schon die Kaufpreiszahlung erfolgt somit „zum Erwerb eigenen Grundbesitzes”. Wird daher dem Versicherten eine Rentenabfindung mit der Auflage gewährt, sie zum Erwerb eigenen Grundbesitzes zu verwenden und bezahlt er damit den Grundstückskaufpreis, so kann die bestimmungsgemäße Verwendung nicht bis zum Übergang des Eigentums an dem Grundstück verneint und sodann erst bejaht werden. Sie ist vielmehr von der Zahlung des Grundstückskaufpreises an als gegeben anzusehen, solange sie nicht nachträglich verändert wird. Die gegenteilige Auffassung des Berufungsgerichts, daß die bestimmungsgemäße Verwendung erst mit der Eintragung der Eigentumsübertragung im Grundbuch zu bejahen sei, würde – entgegen dem oben dargestellten Vorgang des Grunderwerbs – eine vorherige Kaufpreiszahlung nicht zulassen und damit eine Abfindung „zum” Erwerb eigenen Grundbesitzes erschweren, wenn nicht gar ausschließen. Der Versicherte wäre dann in vielen Fällen nicht in der Lage, entsprechend dem Zweck der Abfindung auf dem allgemeinen Grundstücksmarkt ein für ihn geeignetes Objekt aufzusuchen und zu erwerben, um auf diese Weise schließlich zu einer eigenen Wohnung zu kommen und die monatlichen Aufwendungen für eine Mietwohnung zu ersparen.

Aus diesen Erwägungen folgt, daß die bestimmungsgemäße Verwendung einer Rentenabfindung zum Erwerb eigenen Grundbesitzes nicht erst mit dem grundbuchmäßigen Erwerb des Grundeigentums durch den Versicherten, sondern bereits mit der Hingabe des Geldbetrages an den Grundstücksverkäufer zum Zweck des Grunderwerbs erfolgt und fortbesteht, solange die Zahlung diesem Zweck dient und dieser vom Versicherten dadurch gesichert worden ist, daß er den Notar zur Abgabe aller für den Eigentumsübergang notwendigen Erklärungen bevollmächtigt hat. Letzteres war hier durch den Grundstückskaufvertrag vom 26. April 1979 geschehen. Nach den weiteren Feststellungen des LSG wurden außerdem bereits im September 1979 von der Beklagten 32.912,– DM des Gesamtabfindungsbetrages von 41.654,20 DM direkt an den Treuhänder des Grundstücksverkäufers, nämlich an die N. H. Nordrhein-Westfalen, aufgrund des notariellen Kaufvertrages bezüglich des vom Kläger bewohnten Hauses in B. gezahlt. Bei Bedenken hinsichtlich der wahren Zweckbestimmung der Zahlung oder gegen die Redlichkeit dieses Treuhänders hätte allenfalls die Beklagte, nicht aber der Kläger mit der Auszahlung des Grundstückskaufpreises zögern können. Die Zahlung des Grundstückskaufpreises durch die Beklagte direkt an die N. H. macht deutlich, daß hier auch nach Auffassung der Beklagten die Zahlung der Rentenabfindung zum Erwerb eigenen Grundbesitzes dienen sollte und damit eine bestimmungsgemäße Verwendung der Rentenabfindung war.

Die bestimmungsgemäße Verwendung ist nicht dadurch entfallen, daß innerhalb der dem Versicherten von der Beklagten gesetzten Frist – bis spätestens 31. Juli 1981 – der Eigentumsübergang in das Grundbuch nicht eingetragen wurde. Denn der Versicherte hatte alles dafür Erforderliche seinerseits getan und durfte deshalb darauf vertrauen, daß der von ihm bevollmächtigte Notar an seiner Stelle bei der Auflassung mitwirken und auch die Eintragung der Rechtsänderung in das Grundbuch veranlassen würde. Die bestimmungsgemäße Verwendung des für den Grundstückskauf überwiesenen Teils der Abfindungssumme hat somit auch beim Tode des Versicherten noch bestanden, zumal der Antrag auf Eintragung der Eigentumsänderung in das Grundbuch aufgrund der Auflassungsverhandlung vom 3. August 1981 – nach dem Tode des Versicherten – gestellt worden ist.

Soweit die Beklagte auf das nach ihrer Meinung dieser rechtlichen Wertung entgegenstehende Urteil des BSG vom 26. Juni 1972 (2 RU 214/68) – BG 1973, S 159 – verweist, vermag dies ihren Rückforderungsanspruch nicht zu stützen. Das Urteil betrifft nämlich eine bescheidmäßig vorbehaltene Rückzahlung des Rentenabfindungsbetrages für den Fall, daß die mit der Rentenabfindung finanzierte Wohnung von der Abfindungsempfängerin nach Fertigstellung durch den Sohn nicht bewohnt werde. Aus dieser Besonderheit und dem Umstand, daß das Dauerwohnrecht der Abfindungsempfängerin schon vor Gewährung der Abfindung bestellt und im Grundbuch eingetragen war, hat das BSG gefolgert, daß nach der Auflage im Abfindungsbescheid erst mit dem Bezug der Wohnung, an der das Dauerwohnrecht bestellt worden war, die Abfindungssumme bestimmungsgemäß verwendet gewesen wäre. Der erkennende Senat hat keinen Anlaß auf diese Entscheidung näher einzugehen, weil ihre Besonderheit, nämlich der Rückforderungsvorbehalt für den Fall des Nichtbezuges der Wohnung, im vorliegenden Fall nicht gegeben ist. Im Gegensatz zu dem Sachverhalt jener Entscheidung bewohnte der Versicherte hier das Haus, dessen Eigentum er zu erwerben beabsichtigte, bereits vor Gewährung der Rentenabfindung. Somit konnte der Zweck der Rentenabfindung, dem Versicherten zum mietfreien Bewohnen des zunächst noch der Stadt B. gehörenden Hauses zu verhelfen, nach Zahlung des Kaufpreises durch seinen Tod nicht mehr entfallen. Es besteht schon deshalb kein Anlaß, zur Auslegung des Begriffs der bestimmungsgemäßen Verwendung iS von § 611 iVm § 607 RVO den Großen Senat anzurufen, zumal sie in der genannten Entscheidung nicht näher erörtert worden ist.

War somit die Beklagte nicht berechtigt, hinsichtlich des für den Grundstückskauf verwendeten Teils der Abfindungssumme eine Rückforderung auszusprechen, so muß es jedenfalls in diesem Umfang bei der Aufhebung der Rückforderungsbescheide durch das SG verbleiben.

Soweit es sich um die Frage handelt, ob der Rest der Abfindungssumme bestimmungsgemäß zur Ausführung von Sanierungsarbeiten verwendet worden ist, fehlt es an den für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Rückforderung durch den Senat erforderlichen Feststellungen, weil diese das LSG im Hinblick auf seine abweichende Rechtsauffassung nicht getroffen hat. Insoweit muß daher der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 89

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