Orientierungssatz

Eine Versicherte, die vor der Rentengewährung als Büro- und Küchenhilfe sowie zuletzt mehrere Jahre als angelernte Verkäuferin versicherungspflichtig beschäftigt war, kann weitgehend auf ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden. Das LSG darf sich nicht darauf beschränken, lediglich die Leistungsfähigkeit der Versicherten für die bisher von ihr ausgeübten Berufe zu ermitteln.

 

Normenkette

AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 63 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1286 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Juli 1974 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Klägerin die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) entzogen werden darf.

Die 1926 geborene Klägerin war früher als Büro- und Küchenhilfe und von 1962 bis 1968 als angelernte Verkäuferin versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Nachdem bei ihr im November 1968 ein Krebsleiden festgestellt worden war, gewährte ihr die Beklagte aufgrund des im Mai 1969 gestellten Antrags Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 17. November 1969).

In der Folgezeit veranlaßte die Beklagte mehrere medizinische Nachuntersuchungen der Klägerin. Außerdem bewilligte sie ein Heilverfahren, das vom 19. Oktober bis 23. November 1972 durchgeführt wurde. Mit Bescheid vom 2. Januar 1973 entzog sodann die Beklagte die Rente mit Wirkung vom 1. März 1973 an, weil die Klägerin nicht mehr erwerbsunfähig und auch nicht berufsunfähig sei. Das zur Rentengewährung führende Unterleibsleiden sei als geheilt anzusehen; Neubildungen seien nicht aufgetreten. Ansonsten seien lediglich eine involutive Verstimmung im psycho-vegetativen Bereich, eine Periarthritis humero-scapularis sowie ein Halswirbelsäulen-Syndrom vorhanden.

Auf die Klage hob das Sozialgericht (SG) den Rentenentziehungsbescheid auf (Urteil vom 13. April 1973). Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) ging aufgrund der Beurteilungen der gehörten ärztlichen Sachverständigen davon aus, daß die Klägerin durch die ausgeheilte Krebserkrankung und deren Behandlungsfolgen in ihrer Erwerbsfähigkeit nicht mehr oder nur noch ganz unwesentlich behindert sei. Insoweit sei daher eine Änderung in den für die Rentengewährung maßgebenden Verhältnissen im Sinne des § 63 Abs. 1 AVG eingetreten. Auch könne die Klägerin nunmehr als Bürokraft oder als Verkäuferin mindestens halbschichtig eingesetzt werden. Gleichwohl sei ihr nach den Beschlüssen des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 mit diesem eingeschränkten Leistungsvermögen der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, weil sich aus den in den Vierteljahresstatistiken der Bundesanstalt für Arbeit (BA) für die Berufsgruppen "Warenkaufleute" und "Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe" ausgewiesenen Zahlen ergebe, daß das Verhältnis der für sie in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger sei als 75 zu 100. Die Klägerin sei deshalb trotz einer wesentlichen Besserung ihres Gesundheitszustandes weiterhin erwerbsunfähig (Urteil vom 4. Juli 1974).

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die unrichtige Anwendung des materiellen Rechts sowie eine Verletzung der dem LSG obliegenden Amtsermittlungspflicht.

Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Speyer vom 13. April 1973 die Klage abzuweisen; hilfsweise beantragt sie, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist.

Es kann offen bleiben, ob die Rüge einer Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) mit dem von der Beklagten vorgetragenen Inhalt zutrifft. Der Rechtsstreit muß schon deshalb an das LSG zurückverwiesen werden, weil die festgestellten Tatsachen aus anderen Gründen für eine abschließende Entscheidung nicht ausreichen. Das LSG hat § 23 Abs. 2 AVG i. V. m. § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG unrichtig angewandt. Es hat deshalb die für eine richtige Anwendung der genannten Vorschriften erforderlichen Tatsachenfeststellungen unterlassen, die das Revisionsgericht nicht selbst treffen kann.

Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AVG wird die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit entzogen, wenn deren Empfänger infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist. Eine Änderung im Sinne dieser Vorschrift ist insofern zu bejahen, als nach den unstreitigen und damit für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) zur Zeit der Rentengewährung die Klägerin ihre Arbeitskraft im Hinblick auf die damals noch bestehenden Folgen der Carzinombehandlung (Radium- und Röntgenbestrahlungen) überhaupt nicht wirtschaftlich verwerten konnte und demgegenüber die Krebserkrankung und die Behandlungsfolgen jedenfalls schon vor Erlaß des Rentenentziehungsbescheides im Januar 1973 ausgeheilt sind, so daß die Klägerin als Bürokraft oder als Verkäuferin zumindest wieder halbtags arbeiten kann.

Nach den weiteren unstreitigen Feststellungen des LSG war die Klägerin vor der zur Rentengewährung führenden Erkrankung aber als Büro- und Küchenhilfe sowie zuletzt mehrere Jahre lang als "angelernte" Verkäuferin versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Ob die Klägerin dabei eine vorgeschriebene Anlernzeit für einen anerkannten Anlern- bzw. Ausbildungsberuf (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 107 zu § 1246 RVO) durchlief oder nur für kurze Zeit in die erforderlichen Tätigkeiten eingewiesen wurde, ist bisher vom LSG nicht geprüft worden. Auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Ausbildung als angelernte Verkäuferin und etwaiger besonderer Anforderungen dieses Berufs kann indes die Klägerin weitgehend auf ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Sinne von § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG verwiesen werden (vgl. BSG in SozR Nr. 32 und Nr. 103 zu § 1246 RVO sowie BSG 30, 167, 189). Das LSG durfte sich demzufolge nicht darauf beschränken, lediglich die Leistungsfähigkeit der Klägerin für die bisher von ihr ausgeübten Berufe zu ermitteln. Vielmehr hätte es ebenfalls prüfen müssen, ob und inwieweit sie aufgrund der festgestellten Besserung ihres Gesundheitszustandes auch ihr zumutbare ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verrichten konnte. Erst von dem Ergebnis dieser Prüfung wird es sodann abhängen, ob für die Klägerin unter Einbeziehung der zusätzlich in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten der Arbeitsmarkt im Sinne der Beschlüsse des GS des BSG vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167, 192) praktisch verschlossen ist.

Das LSG durfte somit bei seiner Erforschung des Teilzeitarbeitsmarktes nicht ausschließlich auf das für die Berufsgruppen "Warenkaufleute" und "Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe" von der BA herausgegebene statistische Zahlenmaterial abstellen. Der erkennende Senat hat zwar mit Urteil vom 27. März 1974 (SozR 2200 § 1247 Nr. 3) entschieden, daß die Tatsachengerichte ihre Aufklärungspflicht nicht verletzen, wenn sie unter bestimmten Voraussetzungen das Ergebnis eines für den Versicherten verschlossenen Arbeitsmarktes auch auf die in den Amtlichen Nachrichten der BA zu den einzelnen Berufsgruppen veröffentlichten Vierteljahresstatistiken stützen. Wie aus den dortigen Ausführungen erhellt, gilt dies aber nur, wenn für den Versicherten das allgemeine Arbeitsfeld für ungelernte Tätigkeiten infolge eines qualitäts- und quantitätsmäßig erheblich reduzierten Leistungsvermögens von vornherein stark eingeschränkt ist. Eine derartige Einschränkung des Leistungsvermögens der Klägerin für ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts ist indes bisher vom LSG nicht festgestellt worden.

Das angefochtene Urteil, das zu Unrecht die im Sinne von § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG zumutbare Verweisung der Klägerin auf berufsfremde ungelernte Tätigkeiten außer acht gelassen hat, kann deshalb keinen Bestand haben. Der Rechtsstreit ist gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit das LSG die aufgezeigten und für den Klageanspruch rechtserheblichen Tatsachenfeststellungen nachholen kann.

Der Kostenausspruch bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650156

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge