Leitsatz (redaktionell)

Der Tatsachenrichter kann auch andere Beweismittel als die Versicherungsunterlagen zum Beweis der Beschäftigung, der Lohnhöhe und der Beitragsentrichtung heranziehen.

 

Normenkette

SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; VuVO § 4 Anl 1 Buchst. A Nr. 1 Fassung: 1960-03-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 13. Februar 1964 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Es war zu entscheiden, ob bei der Rente der Klägerin eine Beschäftigung in B von 1941 bis 1944 mit fünf Sechsteln dieser Zeit und zu Tabellenwerten oder kalendermäßig in vollem Umfang mit einem monatlichen Arbeitsentgelt von 180,- RM anzurechnen ist.

Die Klägerin, geboren im Dezember 1894, erhielt seit 1954 Invalidenrente und bezieht seit 1959 Altersruhegeld (Art. 2 §§ 32, 38 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -). Die Rente ist nach den Beiträgen in den Quittungskarten der früheren Landesversicherungsanstalt B - letzte Karte Nr. 17 mit Beitragsmarken bis 17. Aug. 1941 - sowie nach einer Lohnkarte der H-B-AG, Berlin, für die ersten Monate des Jahres 1945 und nach den Versicherungskarten der Versicherungsanstalt B (VAB) für die Jahre 1945 und folgende berechnet.

Für die Zeit vom 18. August 1941 bis 31. Dezember 1944 sind keine Versicherungsunterlagen vorhanden. Über eine Beschäftigung der Klägerin als sogenannte Kalte Mamsell in dieser Zeit liegt eine Bestätigung des inzwischen verstorbenen Küchenmeisters W vom 10. April 1957 vor, und Louise St, die wie die Klägerin im Restaurant K, Berlin, beschäftigt war, hat als Zeugin vor dem Landessozialgericht (LSG) über die Beschäftigung ausgesagt.

Die Beklagte hatte die Beschäftigung in der strittigen Zeit zunächst mit den Werten der Tabelle der Anlage 2 zu § 5 der Ersten Durchführungsverordnung (DVO) zum Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz vom 31. Juli 1954 (FAG) angerechnet (Bescheid vom 23. September 1954). Die Einwendungen der Klägerin gegen diese Berechnung wurden durch Beschluß des Bundessozialgerichts (BSG) vom 2. Oktober 1958 - 4 RJ 73/57 (§ 216 Abs. 1 Nr. 4 a des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) als unbegründet zurückgewiesen.

Im August 1960 beantragte die Klägerin die Neuberechnung unter Bezugnahme auf das Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz vom 25. Februar 1960 (FANG). Die Beklagte sah die Beschäftigung in der strittigen Zeit als glaubhaft gemacht an. Sie ordnete die Klägerin im Bescheid vom 23. September 1960 unter Hinweis auf Art. 6 Abs. 2 FANG, § 1250 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des FANG und die Versicherungsunterlagenverordnung vom 3. März 1960 (VuVO) der Leistungsgruppe 2 zu. Sie rechnete für die Zeit vom 18. August 1941 bis 28. Juni 1942 38 Beitragswochen der Beitragsklasse V an. Für den Rest des Jahres 1942 und die Jahre 1943 und 1944 legte sie den Steigerungsbeträgen jeweils fünf Sechstel der tabellenmäßigen Durchschnittsarbeitsentgelte zugrunde.

Die Klägerin hat gegen den Bescheid vom 23. September 1960 Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) Berlin (Urteil vom 4. Oktober 1961) hat die Klage abgewiesen, weil die strittige Zeit nur glaubhaft gemacht sei. Das LSG Berlin hat die Beklagte verpflichtet, bei der Rentenberechnung für die Zeit seit dem 1. Januar 1959 den Zeitraum vom 18. August 1941 bis 31. Dezember 1944 voll anzurechnen und dabei einen Monatslohn von 180,- RM zu berücksichtigen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 13. Februar 1964). Das LSG hat sinngemäß ausgeführt, die Vorschrift über die Glaubhaftmachung der rechtserheblichen Tatsachen - § 4 des Fremdrentengesetzes (FRG) - greife nur hilfsweise ein, wenn ein Nachweis dieser Tatsachen nicht zu führen sei. Es genüge dann die überwiegende Wahrscheinlichkeit. Eine volle Beweisführung werde durch diese die Feststellung erleichternde Bestimmung aber nicht ausgeschlossen. Es sei bewiesen, daß die Klägerin in der strittigen Zeit ohne über den Urlaub hinausgehende Unterbrechungen mit einem Monatslohn von 180,- RM gearbeitet und der Arbeitgeber dafür die Versicherungsbeiträge abgeführt habe. - Bei der Feststellung der Dauer der Beschäftigung und der Zahl der anzurechnenden Beiträge sei zu berücksichtigen, daß die Klägerin nach den Quittungskarten seit 1937 praktisch keine Ausfallzeiten gehabt habe und nur während der ersten Aprilhälfte 1940 krank gewesen sei. Sie sei danach arbeitsam und arbeitsfähig gewesen. Außerdem habe das Fernbleiben von der Arbeit im Kriege alsbald Nachforschungen des Arbeitsamtes veranlaßt. Regelmäßige Arbeit habe auch deshalb im Interesse der Klägerin gelegen, weil sie im Betrieb des Arbeitgebers einen besonderen Vorteil durch das dort ausgegebene vorzügliche Essen gehabt habe. Die Zeugin könne sich nicht an ein Fernbleiben der Klägerin wegen Krankheit erinnern. - Für die Feststellung der Höhe des Lohnes seien die Zeit vorher, in der Beiträge durch Markenkleben entrichtet worden seien, und die Zeit seit 1945, für die Unterlagen vorhanden seien, zu berücksichtigen. Aus den bis 1941 abwechselnd in Klasse VII und VIII entrichteten Beiträgen sei ein Durchschnittslohn von etwa 180,- RM monatlich zu errechnen. Der gleiche Lohn sei für die Zeit nachher aus der Lohnkarte der H-B-AG für 1945 festgestellt. Darin sei ein Monatslohn von 135,- RM zuzüglich regelmäßigen Überstundenentgelts von etwa 29,- RM, Sachbezügen von etwa 21,- RM und Verpflegungs- und Wäschegeldes von etwa 8,- RM bescheinigt. Aus den Nachweisen für die Zeiten vor und nach der strittigen Zeit sei zu folgern, daß die Klägerin auch in der strittigen Zwischenzeit einen Monatslohn von etwa 180,- RM verdient habe.

Die Beklagte hat gegen das Urteil des LSG Revision eingelegt und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Berlin vom 4. Oktober 1961 zurückzuweisen.

Sie bringt vor, sie habe die strittige Zeit nach der VuVO abgegolten. Versicherungsunterlagen seien nicht vorhanden. Eine Versicherungszeit könne daher nur als glaubhaft gemacht anerkannt werden. Die genaue Zahl der Arbeitstage könne mangels Unterlagen nicht mehr ermittelt werden. Somit sei es nicht mehr möglich, den genauen Verdienst zu errechnen (Hinweis auf BSG vom 24. März 1964 - 12/3 RJ 132/61). Die Versicherungsunterlagen aus den Jahren vorher und die Aussage der Zeugin reichten nicht zum Beweis aus. Die Klägerin habe nicht nur im April 1940, sondern auch vom 9. Oktober bis 12. November 1939 nicht gearbeitet, für diese Zeit seien nämlich keine Beitragsmarken in der Quittungskarte enthalten. Eine lückenlose Beschäftigungszeit könne daher nicht nachgewiesen werden. Die vom LSG berücksichtigten Beweismittel (Quittungskarten, Lohnbescheinigung, Erklärungen der Zeugen) hätten bereits dem ersten Streitverfahren zugrunde gelegen, das durch den Beschluß des BSG vom 2. Oktober 1958 beendet worden sei; an diesem Sachstand habe sich für die strittige Zeit nichts geändert.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

II

Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet. Das LSG hat ohne Verletzung des Gesetzes angenommen, daß die für die Rentenberechnung rechtserheblichen einzelnen Tatsachen bei Fehlen der Versicherungsunterlagen, die zu ihrem Nachweis dienen (§ 1401 RVO), auch durch andere Beweismittel nachgewiesen werden können. Bei der Bildung seiner Überzeugung, daß diese Tatsachen hier vorliegen, hat es sein Recht der freien Beweiswürdigung nicht überschritten.

Die Rechtskraft der Entscheidung des BSG vom 2. Oktober 1958 steht einer sachlichen Entscheidung des LSG nicht entgegen. Die Klägerin begehrte in jenem Streitverfahren gegen den Rentenbescheid vom 23. September 1954 eine höhere Rente. Die damalige Entscheidung betraf die Höhe ihrer Rente nach altem Recht unter Anwendung der Ersten DVO zum FAG. Die Umstellung dieser Rente nach dem ArVNG ist bindend geworden. In Art. 6 §§ 5, 6 Abs. 2 FANG, §§ 13, 14 Abs. 2 VuVO wurde die erneute Umstellung der Renten, die auf Versicherungsfällen vor dem 1. Januar 1957 beruhen, vorgeschrieben. Damit war die Bindung bisheriger Bescheide insoweit beseitigt (§ 77 SGG). Die erneute Umstellung erfolgte auf Antrag; eine Umstellung von Amts wegen war nicht ausgeschlossen (Art. 6 § 6 Abs. 5 FANG, § 14 Abs. 4 Satz 2 VuVO). Die Beklagte hatte deshalb auf den Antrag der Klägerin vom August 1960 ohne Rücksicht auf bisherige, die Rentenhöhe betreffende Entscheidungen die Umstellung erneut vorzunehmen. Dabei waren, da für die strittige Zeit Beiträge nur nach den Vorschriften der früheren reichsgesetzlichen Invalidenversicherung entrichtet sein konnten (§ 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO idF des FANG), die Vorschriften der §§ 1 bis 10 VuVO zu berücksichtigen (§ 14 Abs. 2 Satz 1 VuVO).

Für den anzurechnenden zeitlichen Umfang von Beschäftigungszeiten bestimmt § 3 VuVO, daß für das einzelne Jahr "nicht nachgewiesener Beitragszeiten" fünf Sechstel als Beitragszeit angerechnet werden. Bei der Anwendung dieser Vorschrift muß deshalb zunächst festgestellt werden, ob die strittige Beitragszeit "nachgewiesen" ist; denn nur "nicht nachgewiesene" - aber glaubhaft gemachte - Beitragszeiten werden zu fünf Sechsteln angerechnet. Dementsprechend hat das LSG zu Recht in vollem Umfang geprüft, ob die strittige Beschäftigungszeit eine "nachgewiesene" Beitragszeit ist.

Das BSG hat bereits entschieden, daß der Nachweis der für die Rentenberechnung erheblichen Tatsachen auch durch andere Beweismittel als die Versicherungsunterlagen geführt werden kann (SozR VuVO § 4 Nr. 1; BSG 20, 275; SozR FRG § 19 Nr. 1).

Ein Beweis kann allerdings durch andere Beweismittel als die Versicherungsunterlagen nur geführt werden, wenn sich aus diesen Beweismitteln mit ähnlicher Sicherheit wie aus Versicherungsunterlagen ergibt, daß alle im einzelnen für die Rentenberechnung festzustellenden Tatsachen vorliegen. Es darf also auch bei Benutzung anderer Beweismittel als der Versicherungsunterlagen kein vernünftiger, im konkreten Sachverhalt begründeter Zweifel an der kalendermäßigen Dauer der entgeltlichen Beschäftigung, dem Entgelt und der Höhe der jeweiligen Beitragsentrichtung für die einzelnen Zeitabschnitte mehr bestehen. Ob dies der Fall ist, hat das LSG im Rahmen seiner Beweiswürdigung zu entscheiden (§ 128 SGG), und das Revisionsgericht kann nur prüfen, ob das LSG etwa die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten hat, nicht aber kann es eigene Beweiswürdigung an die Stelle der Beweiswürdigung des LSG setzen. Im vorliegenden Falle ist aber eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung, insbesondere durch Verstoß gegen Denkgesetze oder Verkennung der allgemeingültigen Regeln der Lebenserfahrung, nicht festzustellen. Zwar weist die Beklagte mit Recht darauf hin, daß das LSG aus den Beitragsunterlagen der Jahre 1937 bis 1941 nur die Unterbrechung durch Krankheit im April 1940 erwähnt und nicht auch die Lücke in der Beitragsentrichtung zwischen dem 9. Oktober und 12. November 1939 angeführt hat. Ein Verstoß gegen § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG durch Nichtberücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens, auf dem das Urteil beruhen würde und der deshalb zu seiner Aufhebung führen müßte, ist indes nicht festzustellen. Das LSG hat die Bejahung einer lückenlosen Versicherungszeit vom 18. August 1941 bis 31. Dezember 1944 vorwiegend auf die Aussage der Zeugin St gegründet. Die Quittungskarten vor dieser Zeit und die Lohnkarte des Arbeitgebers für die Zeit seit Anfang 1945 dienten lediglich zur Charakterisierung der Klägerin als arbeitsam und arbeitsfähig und im weiteren auch zur Stütze dafür, daß die Angaben der Zeugin über eine ununterbrochene Beschäftigung in der strittigen Zeit glaubwürdig seien. Allerdings hätte das LSG gegen Denkgesetze verstoßen und einen nicht bestehenden Erfahrungssatz angewandt, wenn es die Beitragsdichte bis 1941 und seit 1945 als Beweis dafür angesehen hätte, daß auch in der Zwischenzeit durchgehend Beiträge in derselben Höhe geleistet worden seien.

Ein Anscheinsbeweis in dieser Richtung wäre nicht möglich; denn die fortlaufende Beitragsentrichtung stellt nicht einen typischen Geschehensablauf dar, sondern unterliegt der individuellen Gestaltung, sei es daß der Versicherte aus eigener Entschließung (besondere Ereignisse im Krieg) der Arbeit fernbleibt oder durch Krankheit an der Arbeit gehindert ist. Aus dem Urteil ist jedoch nicht zu erkennen, daß das LSG die Grenzen der freien Beweiswürdigung in derartiger Richtung überschritten hätte.

Da das LSG eine lückenlose Beschäftigung mit Beitragsentrichtung während der strittigen Zeit und einen gleichbleibenden durchgehenden Arbeitsverdienst von monatlich 180,- RM ermittelt hat, sind die für die Rentenberechnung erforderlichen einzelnen Tatsachen hier vollständig festgestellt.

Die Revision der Beklagten ist aus diesen Gründen nicht begründet und zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2290850

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