Leitsatz (amtlich)

Ist die Selbstversicherung durch Entrichtung eines Beitrags erst nach Vollendung des 40. Lebensjahres begonnen worden und kann die Gültigkeit des entrichteten 1. Beitrags wegen Ablaufs der Frist von 10 Jahren nicht mehr angefochten werden, so kann auch die Wirksamkeit der zur Fortsetzung der Selbstversicherung entrichteten Beiträge nicht mehr mit der Begründung angefochten werden, der Versicherte sei zum Eintritt in die Selbstversicherung nicht berechtigt gewesen.

 

Orientierungssatz

Zum Begriff  "gültiges Verhältnis" in § 1423 RVO.

 

Normenkette

RVO § 1243 Fassung: 1937-12-21, § 1423 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. April 1964 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Rechtsstreit betrifft die Anrechnung von freiwilligen Versicherungsbeiträgen für Selbstversicherung, die der Kläger erst nach Vollendung seines 40. Lebensjahres begonnen hat (§ 1243 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF, § 1423 Abs. 1 und 2 RVO nF).

Der im Jahre 1894 geborene Kläger, der seit 1945 eine eigene Landwirtschaft betreibt, ließ sich im November 1945 bei der Gemeinde die Quittungskarte Nr. 1 ausstellen. Die Karte wurde am 10. Januar 1947 mit 78 freiwilligen Wochenbeiträgen aufgerechnet; in den folgenden Quittungs-bzw. Versicherungskarten Nr. 2 bis Nr. 12 sind weitere freiwillige Beiträge entrichtet.

Der Kläger beantragte im Oktober 1960 Altersruhegeld. Mit Bescheid vom 27. Dezember 1960 beanstandete die Beklagte unter Hinweis auf § 1423 Abs. 2 RVO nF die in den Versicherungskarten Nr. 4 bis Nr. 12 für die Zeit von 1950 bis Oktober 1960 entrichteten freiwilligen Beiträge mit der Begründung, der Kläger habe bereits am 5. September 1934 das 40. Lebensjahr vollendet gehabt und sei im Jahre 1945 zum freiwilligen Eintritt in die Versicherung nicht mehr berechtigt gewesen; sie lehnte das Altersruhegeld wegen Nichterfüllung der Wartezeit ab; auf die Wartezeit seien nur die in den Quittungskarten Nr. 1 bis Nr. 3 entrichteten 214 Wochenbeiträge (= 50 Beitragsmonate) anrechenbar, die nach § 1423 Abs. 2 RVO nF nicht mehr beanstandet werden könnten.

Das Sozialgericht (SG) Würzburg hat die Beklagte zur Gewährung des Altersruhegeldes verurteilt (Urteil vom 8. März 1962). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 14. April 1964). Es hat angenommen, die Wartezeit sei mit den in den Versicherungskarten Nr. 1 bis Nr. 12 entrichteten Beiträgen erfüllt; mit den in den Versicherungskarten Nr. 4 bis Nr. 12 verwendeten Beitragsmarken seien Beiträge rechtsgültig entrichtet. Wenn der für eine verspätet begonnene Selbstversicherung zuerst geleistete Beitrag infolge Zeitablaufs unanfechtbar geworden sei, sei der Versicherte rechtlich so gestellt, als habe er berechtigterweise die Selbstversicherung begonnen. Die zur Fortsetzung der Selbstversicherung entrichteten Beiträge könnten dann auch nicht mehr innerhalb der Frist von zehn Jahren angefochten werden; denn der Anfechtungsgrund - der unzulässige Eintritt in die Selbstversicherung - habe infolge Fristablaufs seine rechtliche Bedeutung verloren.

Die Beklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt mit dem Antrag, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie rügt eine Verletzung des § 1423 Abs.2 Nr. 2 RVO nF und meint, unwirksame Beiträge blieben, auch wenn sie nach Ablauf der Frist von zehn Jahren nicht mehr angefochten werden könnten rechtsungültig. Sie seien von diesem Zeitpunkt an nur so zu behandeln, als ob sie wirksam entrichtet worden wären. Die materielle Rechtslage bleibe durch den Fortfall des Anfechtungsrechts unverändert, so daß aus der Formalversicherung nicht ein materielles Versicherungsrecht entstanden sei. Die nicht durch Fristablauf geschützten, rechtsungültig entrichteten Beiträge blieben weiterhin unwirksam und anfechtbar.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er hält die Ausführungen im Urteil des LSG für zutreffend.

Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision ist nicht begründet. Die Entscheidung des LSG entspricht dem Gesetz.

Nach § 1243 RVO aF waren alle deutschen Staatsangehörigen im In-und Ausland, die nicht versicherungspflichtig waren, zum freiwilligen Eintritt in die Versicherung (Selbstversicherung) bis zum vollendeten 40.Lebensjahr berechtigt. Die Selbstversicherung wurde wirksam mit der rechtzeitigen Entrichtung eines Beitrages begonnen. Zu ihrer Fortsetzung waren keine weiteren Voraussetzungen erforderlich (Verb.Komm., 5.Aufl., Anm. 1 e und 2 a zu § 1243 und Anm. 3 zu § 1244 RVO aF; vgl. auch Art. 2 § 4 Abs. 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -, dessen Regelung ebenfalls darauf beruht, daß bereits mit einem rechtzeitig entrichteten Beitrag das Recht zur Fortsetzung der Selbstversicherung erworben worden ist). Danach war der Kläger, als er sich 1945 die Quittungskarte Nr. 1 ausstellen ließ und den ersten Beitrag entrichtete, nicht zum Eintritt in die Versicherung berechtigt, weil er das 40. Lebensjahr schon vollendet hatte.

Wenn auf der rechtzeitig umgetauschten Versicherungskarte Beitragsmarken von freiwillig Versicherten ordnungsgemäß verwendet sind, wird vermutet, daß während der mit Beitragsmarken belegten Zeiten ein gültiges Versicherungsverhältnis vorgelegen hat (§ 1423 Abs. 1 Nr. 2 RVO nF). Nach Ablauf von zehn Jahren nach Aufrechnung der Versicherungskarte kann die Rechtsgültigkeit der Verwendung der in der Aufrechnung der Versicherungskarte bescheinigten Beitragsmarken nicht mehr angefochten werden (§ 1423 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 RVO nF). Die Ausnahme, daß die Verwendung der Marken in betrügerischer Absicht herbeigeführt worden ist, ist nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG nicht gegeben.

Die Vorschrift des § 1423 Abs. 1 RVO nF enthält eine Rechtsvermutung (vgl. § 292 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Voraussetzung für diese Vermutung in tatsächlicher Hinsicht ist, daß auf der rechtzeitig umgetauschten Versicherungskarte Beitragsmarken von freiwillig Versicherten ordnungsgemäß verwendet sind. Daraus zieht das Gesetz den Rechtsschluß, daß ein gültiges Versicherungsverhältnis während der mit Beitragsmarken belegten Zeiten vorgelegen hat. Der Begriff "gültiges Versicherungsverhältnis" bedeutet, daß ein wirksamer Beitrag entrichtet ist (vgl. BSG 24, 85, 87). Ein Beitrag ist - neben frist- und formgerechter Entrichtung- wirksam, wenn er aufgrund Versicherungspflicht oder Versicherungsberechtigung entrichtet ist. Der Begriff "gültiges Versicherungsverhältnis" umfaßt demnach auch den Rechtsgrund, aus dem sich die Wirksamkeit des Beitrages herleitet, so daß die Rechtsvermutung des § 1423 Abs. 1 RVO, soweit das Versicherungsverhältnis der Selbstversicherung in Frage steht, das Recht zur Selbstversicherung betrifft.

Die Vermutung des § 1423 Abs. 1 RVO nF ist widerlegbar, d.h. der Beweis des Gegenteils ist zulässig, sofern das Gesetz nichts anderes vorschreibt (vgl. § 292 ZPO). Etwas anderes schreibt aber § 1423 Abs. 2 RVO nF für den Fall vor, daß wegen Zeitablaufs die Rechtsgültigkeit der Verwendung der in der Aufrechnung bescheinigten Beitragsmarken nicht mehr angefochten werden kann; dann bleibt für die mit diesen Beitragsmarken belegten Zeiten die Vermutung eines "gültigen Versicherungsverhältnisses" einschließlich des Rechtsgrundes für die Entrichtung wirksamer Beiträge, also des Rechts zur freiwilligen Versicherung bestehen. Wenn hiernach ein einziger Beitrag zur Selbstversicherung unwiderlegbar "zu Recht" entrichtet ist, so liegt ein "gültiges Versicherungsverhältnis" der Selbstversicherung vor und damit ist auch der Rechtsgrund für die Entrichtung weiterer wirksamer Beiträge zur Selbstversicherung gegeben (vgl. auch Art. 2 § 4 Abs. 1 ArVNG). Das LSG hat insofern für die Entrichtung wirksamer Beiträge, zu Recht zwischen den Voraussetzungen unterschieden, die durch einen einmaligen rechtserheblichen Tatbestand abschließend für die Zukunft geschaffen worden sind, wie den Beginn der Selbstversicherung durch Entrichtung des ersten wirksamen Beitrags, und solchen Voraussetzungen, die bei jeder Beitragsentrichtung stets neu vorliegen müssen, wie z.B. Nichteintritt des Versicherungsfalles oder kein Bezug von Altersruhegeld. Da die nach § 1423 Abs. 2 Nr. 2 RVO nF unwiderlegbar gewordene Rechtsvermutung den Rechtsgrund für die Wirksamkeit des ersten Beitrags umschließt, können die späteren, zur Fortsetzung der Selbstversicherung entrichteten Beiträge nicht mehr mit der Begründung beanstandet werden, bei der Entrichtung des ersten Beitrages habe der Rechtsgrund gefehlt.

Dieses Ergebnis entspricht auch dem Sinn und Zweck der Rechtsvermutung des § 1423 Abs. 1 RVO nF. Sie erleichtert die Feststellungen über das Versicherungsverhältnis insofern, als dafür grundsätzlich die Versicherungsunterlagen ausreichen sollen und nicht im einzelnen das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses mit Versicherungspflicht oder die besonderen Voraussetzungen einer freiwilligen Versicherung festgestellt werden müssen. § 1423 Abs. 2 RVO nF dient der Rechtssicherheit und dem Vertrauensschutz der Versicherten einschließlich der nur Formalversicherten, wie Satz 2 des Absatzes 2 über die betrügerische Markenverwendung deutlich zeigt. Das Gesetz nimmt gegenüber diesen Rechtsgütern in Kauf, daß Leistungen auch eine solche Person erhält, die das Gesetz nach den sonst geltenden Grundsätzen nicht in den Kreis der durch die Rentenversicherung zu sichernden Personen einbezieht.

Schon das Reichsversicherungsamt (RVA) hat zu dem vom 19. Juli 1911 (RGBl S. 509) bis zum 31. Dezember 1956 unverändert gebliebenen § 1445 RVO aF den Vorrang des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit betont (AN 1912, 680, 681; 1913, 406; 1914, 604). Es hat sich ausführlich mit den bereits damals vorgebrachten Einwendungen befaßt (AN 1913, 406, 408) und auf die bei Schaffung des § 1445 Abs. 3 RVO aF verfolgte Absicht hingewiesen, Härten zu beseitigen, die sich in der Praxis dadurch ergeben hatten, daß Rentenbewerber, für die viele Jahre hindurch Marken verwendet worden waren, abgewiesen werden mußten, weil sie zur Markenverwendung nicht berechtigt gewesen waren (AN 1912, 680). Das RVA hat deshalb § 1445 Abs. 3 RVO aF dahin ausgelegt, daß die durch § 1445 Abs. 1 RVO aF geschützten Marken als geeignet anzusehen seien, "das Recht der Fortsetzung der Selbstversicherung mit Wirkung auf die später verwendeten, nicht mehr unter diesem Schutz stehenden Marken zu begründen, so daß letztere als zur Fortsetzung der Selbstversicherung verwendet zu gelten haben, selbst wenn sie - für sich betrachtet - als ungültig anzusehen wären" (AN 1912, 681). Diese Grundsätze treffen auch für § 1423 Abs. 2 RVO nF zu; denn diese Vorschrift stimmt nach ihrem Zweck und Inhalt im wesentlichen mit dem früheren Recht überein.

Zwar lautete § 1243 RVO in der Fassung, die den Entscheidungen des RVO zugrunde lag, anders als in der im Jahre 1945 geltenden Fassung, als der Kläger in die Selbstversicherung eingetreten ist; doch betreffen die Unterschiede nur den zur Selbstversicherung zugelassenen Personenkreis. Während er ursprünglich auf bestimmte Berufe beschränkt war, ist er später auf alle nicht versicherungspflichtigen Deutschen ausgedehnt worden. Die Altersgrenze für den Eintritt in die Selbstversicherung bis zum vollendeten 40. Lebensjahr war aber in allen Fassungen des § 1243 RVO stets gesetzt (vgl. § 1243 RVO idF vom 19.7.1911, RGBl. S. 509; ferner die Änderungen und Neufassungen des § 1243 RVO aF durch die Gesetze: vom 30.1.1922, RGBl. I, 465, vom 10.11.1922, RGBl. I. 849, vom 15.12.1924, RGBl. I, 779, vom 23.12.1936, RGBl. I, 1128, vom 21.12.1937, RGBl. I, 1393).

Wesentlich ist, daß die Fassung des § 1445 Abs. 1 und 3 RVO aF, zu dem die Entscheidungen des RVA ergangen sind, unverändert geblieben ist und diese Vorschrift mit dem Inhalt und Zweck der entsprechenden Regelungen des § 1423 RVO aF im wesentlichen übereinstimmt.

Die Beklagte verkennt die Bedeutung der unwiderlegbar gewordenen Rechtsvermutung nach § 1423 Abs. 1 und 2 RVO nF, wenn sie für die materiell-rechtliche Beurteilung die Vermutung nicht gelten lassen will. Die Regelung in § 1423 Abs.3 RVO nF über die Anerkennung der Versicherungsberechtigung durch den Versicherungsträger betrifft einen anderen Fall, der von den in § 1423 Abs. 1 und 2 RVO nF geregelten Fällen abweicht. Auch kann die Beanstandung von Beiträgen, bei deren Entrichtung der Versicherungsfall schon eingetreten war, nicht mit der Beanstandung späterer Beiträge zur Selbstversicherung verglichen werden, da es sich, wie dargelegt, um verschiedenartige Voraussetzungen einer wirksamen Beitragsentrichtung handelt.

Die Revision der Beklagten ist somit nicht begründet und zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 26

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