Entscheidungsstichwort (Thema)

Gehörlosigkeit. Hilflosigkeit. hilflos. Ausbildung, berufliche. Weiterbildung. Nachteilsausgleich „H.”. Anhaltspunkte

 

Leitsatz (amtlich)

Der Nachteilsausgleich H. steht Hörsprachgeschädigten nach Abschluß einer beruflichen Erstausbildung regelmäßig nicht mehr zu. Hilflosigkeit liegt später auch dann nicht – wieder – vor, wenn der Behinderte an einer beruflichen Weiterbildung teilnimmt, deren Dauer sechs Monate nicht überschreitet.

 

Normenkette

SchwbG § 4; EStG § 33b

 

Verfahrensgang

SG Augsburg (Urteil vom 10.08.1995; Aktenzeichen S 10 Vs 212/95)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 10. August 1995 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der seit Geburt (1952) gehörlose Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H. (Hilflosigkeit) erfüllt. Der Kläger hat nach dem Besuch der Gehörlosenschule eine Ausbildung zum Mechaniker absolviert und ist seit 1971 in diesem Beruf bei der Firma O. GmbH beschäftigt. Das Versorgungsamt stellte 1975 als Behinderung „Taubheit beiderseits. Stark verzögerte Sprachentwicklung” fest und bewertete den Grad der Behinderung (GdB) mit 100.

Im November 1994 beantragte der Kläger nach zwei erfolglosen Versuchen erneut, ihm den Nachteilsausgleich H. zuzuerkennen. Der Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, für gehörlos geborene oder früh ertaubte Jugendliche bestehe nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Juni 1993 – 9/9 a RVs 1/91 – Anspruch auf das Merkzeichen H. nur bis zum Abschluß einer ersten Berufsausbildung (Bescheid vom 29. Dezember 1994; Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 1995).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. August 1995): Auch die Notwendigkeit lebenslangen Lernens im beruflichen wie im privaten Bereich rechtfertige es nicht, das Merkzeichen H. über den Abschluß einer beruflichen Erstausbildung hinaus zuzuerkennen.

Mit der Sprungrevision macht der Kläger geltend, er sei trotz seiner vor Jahren abgeschlossenen Berufsausbildung hilfslos iS des § 33 b Abs. 3 Satz 3 Einkommensteuergesetz (EStG). Bei ihm bestehe aufgrund seiner Behinderung ein erhebliches Kommunikationsdefizit. So könne er Fortbildungsveranstaltungen im Rahmen einer notwendigen beruflichen Weiterbildung nicht wahrnehmen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 10. August 1995 sowie den Bescheid vom 29. Dezember 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 1995 aufzuheben und dem Kläger das Merkzeichen H. zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, daß bei ihm die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H. festgestellt werden. Er ist nicht hilflos, weil er nicht zu dem im Einkommensteuerrecht beschriebenen Kreis von Personen gehört, die „für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd” bedürfen (§ 33 b Abs. 3 Satz 3, Abs. 6 Satz 2 EStG in der seit dem 1. Januar 1995 geltenden Fassung des Pflege-Versicherungsgesetzes vom 26. Mai 1994 ≪BGBl I S 1014≫, durch das die Vorschrift, ohne sie inhaltlich zu ändern, neu gefaßt worden ist: BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 12). Zwar können auch gehörlos geborene oder vor Spracherwerb ertaubte Personen hilflos iS dieser Vorschrift sein, obwohl sie nur bei einer Verrichtung des täglichen Lebens – nämlich bei der ständig erforderlichen Kommunikation – fremder Hilfe bedürfen. Ob das Kommunikationsdefizit fremde Hilfe in erheblichem Umfang erforderlich macht, läßt sich nicht schematisch nach der Anzahl der Verrichtungen festlegen. Die Hilfsbedürftigkeit in einem entscheidenden und zentralen Punkt kann ausreichen, wenn dieser Hilfebedarf die gesamte Lebensführung prägt. Das Kommunikationsdefizit der vor Spracherwerb Ertaubten prägt deren gesamte Lebensführung aber regelmäßig nur bis zum Ablauf einer ersten Berufsausbildung, in der Lebensspanne also, während derer Lernen, Kenntnis- und Fertigkeitserwerb zu den zentralen Verrichtungen des täglichen Lebens gehören (BSGE 72, 285, 290 = SozR 3-3870 § 4 Nr. 6). Der Kläger hat die Ausbildung zum Mechaniker vor mehr als zwanzig Jahren abgeschlossen. Seitdem ist er ohne Unterbrechung bei der Fa. O. beschäftigt. Zwar bewirkt der Kommunikationsmangel weiter eine Behinderung, die mit einem GdB von 100 bewertet wird, für den der Kläger den damit verbundenen Steuervorteil eines Pauschbetrages von jährlich 2.760,– DM erhält. Neben diesem für außergewöhnliche Belastungen gewährten Ausgleich besteht aber kein weiterer Hilfebedarf in dem Umfang, wie ihn das Einkommensteuerrecht für den Nachteilsausgleich H. und den daran geknüpften mehr als doppelt so hohen Pauschbetrag von 7.200,– DM jährlich fordert.

Zu Unrecht macht der Kläger demgegenüber geltend, daß auch nach Ende der Erstausbildung ein hoher Hilfebedarf bestehe. Er weist in diesem Zusammenhang auf die Anforderungen des heutigen Wirtschafts- und Bildungswesens hin. Die strikte Trennung in Abschnitte der Berufsausbildung und einer anschließenden beruflichen Tätigkeit sei inzwischen aufgehoben. Jeder Berufstätige müsse berufsbegleitend und lebenslang neue Fähigkeiten erlernen und weiteres Fachwissen erwerben. Daran ist richtig, daß nur noch in seltenen Fällen mit den einmal während einer mehrjährigen Berufsausbildung erworbenen Fähigkeiten und Kenntnissen eine gesicherte Stellung im Beruf erreicht, gesichert und auf Dauer behauptet werden kann. Daraus läßt sich aber nicht generell der Schluß ziehen, daß ein Gehörloser lebenslang hilflos iS des Einkommensteuerrechts ist. Das wäre er nur, wenn sich das Kommunikationsdefizit wegen der Notwendigkeit der ständigen Anpassung des beruflichen Könnens und Wissens während des Berufslebens prägend auf die Lebensführung auswirken würde. Daran fehlt es, weil zu den zentralen Verrichtungen im täglichen Leben eines Arbeitnehmers regelmäßig nicht die Anpassung und Erweiterung seiner beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten gehört, sondern die Verrichtung von Arbeit im erlernten Beruf. Auch kann regelmäßig nicht davon ausgegangen werden, daß der Gehörlose nach Abschluß der Erstausbildung im nichtberuflichen Bereich weiter hilfslos iS von § 33 b Abs. 3 Satz 3 EStG ist, wenn er in dem einem Gehörlosen möglichen Umfang (vgl. dazu BSGE 72, 285, 288 = SozR 3-3870 § 4 Nr. 6) Schreiben und Lesen erlernt hat.

Allerdings ist nicht ausgeschlossen, daß ein Gehörloser nach Wegfall der Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H. mit Abschluß der Erstausbildung und nach anschließender beruflicher Integration erneut hilflos werden kann. Davon geht auch der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) in seinem Rundschreiben vom 27. April 1994 (BArbBL 1994, 6/69) aus. Danach besteht bei einem Gehörlosen nicht nur während einer beruflichen Erstausbildung Hilflosigkeit, sondern auch während einer Weiterbildung und während vergleichbarer Maßnahmen der beruflichen Bildung. Dies kann jedoch nicht unterschiedslos für jede berufliche Weiterbildung gelten. Das Rundschreiben des BMA trägt lediglich dem Umstand Rechnung, daß während einer beruflichen Weiterbildung wieder diejenigen Bedingungen eintreten können, die schon während der Erstausbildung zur Hilflosigkeit geführt haben. Das ist aber nur der Fall, wenn die Weiterbildung gleich hohe Anforderungen an Lernen und Fertigkeitserwerb stellt und wie eine Erstausbildung länger als sechs Monate dauert. Letzteres ergibt sich schon aus § 33 b Abs. 3 Sätze 1 und 3 EStG. Danach ist der erhöhte Pauschbetrag nur zu gewähren, wenn der Behinderte dauernd, dh nicht nur vorübergehend fremder Hilfe bedarf. Darunter ist ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten zu verstehen (BFH 142, 377, 381). Außerdem muß es sich um eine institutionalisierte Weiterbildung handeln. Die Fortbildungsveranstaltungen des Arbeitgebers des Klägers entsprechen nach den Feststellungen des LSG und dem Revisionsvorbringen diesen Anforderungen weder hinsichtlich der Mindestdauer noch hinsichtlich der Intensität des Lernens und des Fertigkeitserwerbs.

Der Kläger gehört auch nicht zu den Gehörlosen, bei denen die Kommunikationsstörung ausnahmsweise eine lebenslange Hilflosigkeit bedingt. Eine solche Annahme kommt nur in Betracht, wenn der Gehörlose wegen Minderbegabung, einer geistigen Behinderung oder einer zusätzlichen Gesundheitsstörung nicht in der Lage ist, das Mindestmaß an Verständigungsmöglichkeiten mit der hörenden Umwelt zu erlernen, das bei einem erfolgreichen Besuch einer Gehörlosenschule vermittelt wird. Da bei dem Kläger als Behinderung nur „Taubheit beiderseits. Stark verzögerte Sprachentwicklung” festgestellt ist und er die Gehörlosenschule mit Erfolg besucht hat, ist er – wenn auch stark eingeschränkt – in der Lage, sich mit anderen Menschen ohne Gebärdendolmetscher zu verständigen und schriftliche Informationen aufzunehmen. Während der anschließenden Berufsausbildung blieb er nur deshalb hilflos, weil das Informationsbedürfnis in dieser Lebensphase deutlich gesteigert ist. Der Abschluß einer berufsqualifizierenden Ausbildung markiert aber, gleichgültig, in welchem Lebensalter er erreicht wird, und gleichgültig, ob es sich um eine Lehre, ein Fachschul- oder ein Hochschulstudium handelt, das Ende der seit „Beginn der Frühförderung” (vgl Nr. 22 Abs. 4 Buchst. h der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz ≪AHP≫) bestehenden Hilflosigkeit. Von diesem Zeitpunkt an läßt sich Hilflosigkeit nicht mehr allgemein annehmen, sondern nur noch aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall feststellen. Durch den erfolgreichen Abschluß einer Berufsausbildung zeigt ein Gehörloser, daß er die erworbenen Verständigungsmöglichkeiten in einem wichtigen Lebensbereich zu nutzen versteht. Damit ist es regelmäßig ausgeschlossen, seine Behinderung als prägend für die gesamte Lebensführung und damit ihn selbst als hilflos im Sinne des Steuerrechts anzusehen.

Die Kostenentscheidung entspricht § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Haufe-Index 954107

BSGE, 231

Breith. 1997, 355

SozSi 1997, 320

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