Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiederaufnahme. Frist

 

Leitsatz (amtlich)

Ist die Wiederaufnahmeklage gegen ein Urteil eines LSG bei dem in erster Instanz mit dem Rechtsstreit befaßten SG erhoben worden, so ist sie nicht schon deshalb unzulässig, weil sie nicht vor Ablauf der Notfrist von einem Monat bei dem LSG eingegangen ist.

 

Orientierungssatz

Durch die rechtzeitige Erhebung der Restitutionsklage gegen ein Urteil des LSG bei dem SG, das die erstinstanzliche Entscheidung des Vorprozesses erlassen hat, ist die Frist des ZPO § 586 Abs 1 gewahrt worden.

Für die Rechtzeitigkeit der Erhebung der Restitutionsklage ist es unerheblich, daß der Rechtsstreit nicht durch Beschluß des SG nach SGG § 98 an das zuständige LSG verwiesen worden ist, das SG die Akten vielmehr formlos an das LSG weitergeleitet hat.

 

Normenkette

SGG § 179 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 584 Abs. 1 Fassung: 1877-01-30, § 586 Abs. 1 Fassung: 1877-01-30, Abs. 2 Fassung: 1877-01-30; SGG § 98

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 1969 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Restitutionsklage (§ 179 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, § 580 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) durch Urteil vom 21. Februar 1969 als unzulässig verworfen. Sie sei, so hat es ausgeführt, erst nach der am 13. Mai 1968 ablaufenden Notfrist von einem Monat (§ 179 SGG i. V. m. § 586 Abs. 1 und 2 ZPO) - nämlich am 14. Januar 1969 - beim LSG eingegangen. Für die Restitutionsklage sei das LSG ausschließlich zuständig, weil dieses das angefochtene Urteil erlassen habe. Um fristgerecht zu sein, habe die Klage beim LSG erhoben werden müssen. Die Frist sei nicht dadurch gewahrt worden, daß die Klageschrift möglicherweise innerhalb der Notfrist beim Sozialgericht (SG) in Duisburg, das im Vorprozeß erstinstanzlich entschieden habe, eingegangen und später von dort aus formlos an das LSG weitergeleitet worden sei. Die sonst für die Erhebung der Klage geltende Regelung des § 91 SGG sei auf die Wiederaufnahmeklage nicht anzuwenden. Infolgedessen hätten die in § 91 SGG aufgeführten Stellen die Klageschrift nicht wirksam entgegennehmen können. Auch auf die Vorschrift über die Verweisung vom unzuständigen an das zuständige Gericht (§ 98 SGG) könne sich der Kläger nicht stützen; denn diese Vorschrift enthalte keine Bestimmung, durch welche die zwingende Zuständigkeitsnorm des § 584 Abs. 1 ZPO abgeändert oder erweitert werde.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen; der Kläger hat gleichwohl das Rechtsmittel eingelegt. Er sieht einen wesentlichen Verfahrensfehler darin, daß das LSG zu Unrecht ein Prozeßurteil erlassen habe. Zwar sei die Notfrist von einem Monat zu beachten. Trotz der ausschließlichen Zuständigkeit des LSG sei aber die Frist durch die rechtzeitige Einlegung der Restitutionsklage beim SG in Duisburg gewahrt worden. Damit sei diese Klage rechtshängig geworden.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig. Das Verfahren vor dem LSG leidet an dem vom Kläger ordnungsgemäß gerügten wesentlichen Mangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 SGG).

Die Restitutionsklage hätte nicht als unzulässig verworfen werden dürfen, weil die Klageschrift nicht fristgerecht beim LSG eingegangen war. Entgegen der Auffassung des LSG konnte sie wirksam bei dem SG eingereicht werden. Zwar ist das LSG für die Restitutionsklage ausschließlich zuständig, weil sie sich gegen ein Urteil dieses Gerichts richtet (§ 179 SGG i. V. m. § 584 ZPO). Daraus folgt aber nicht auch, daß die Klageschrift vor Fristende bei dem zuständigen Gericht vorgelegen haben muß. Anders als in den Fällen der Berufungs- oder Revisionseinlegung (vgl. die §§ 518, 553 ZPO) zwingt der Wortlaut des Gesetzes nicht zu einer solchen Auslegung. Vielmehr geht für den Zivilprozeß eine verbreitete Meinung dahin, daß die Notfrist des § 586 Abs. 1 ZPO auch dann gewahrt ist, wenn mit der Wiederaufnahmeklage das im Vorprozeß in erster Instanz mit dem Rechtsstreit befaßte Gericht angerufen wird, obgleich ein Urteil des Berufungsgerichts angefochten wird (vgl. Baumbach/Lauterbach, Komm. zur ZPO, 28. Aufl., § 584 ZPO Anm. 1; Stein/Jonas, Komm. zur ZPO, 18. Aufl., § 586 ZPO Anm. I, 3; Wieczorek, Komm. zur ZPO, § 586 ZPO, Anm. B I).

Ob diese Auslegung für den Zivilprozeß zwingend ist, kann offen bleiben. Jedenfalls sind für die Wiederaufnahme eines sozialgerichtlichen Verfahrens keine strengeren Anforderungen zu stellen. Das Verfahren vor den Sozialgerichten ist in den Tatsacheninstanzen weniger formell gestaltet als der Zivilprozeß. Schon der Vergleich zwischen den Vorschriften über Klageerhebung und Berufungseinlegung (§§ 91, 151 SGG; §§ 253, 518 ZPO) läßt deutliche Unterschiede erkennen, die vor allem dadurch geboten sind, daß für den Zivilprozeß weitgehend Anwaltszwang besteht (§ 78 ZPO), während die Beteiligten des sozialgerichtlichen Verfahrens - soweit es sich um natürliche Personen handelt - in den Tatsacheninstanzen sich regelmäßig nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen müssen. Dem Umstand, daß diese Beteiligten häufig gesetzesunkundig sind, tragen Verfahrensrecht und Rechtsprechung in starkem Maße Rechnung. Dafür liefert in jüngerer Zeit die in BSG 28, 31 ff veröffentlichte Entscheidung ein Beispiel, indem sie die Zulässigkeit der Anschlußberufung im sozialgerichtlichen Verfahren abweichend von den strengen Formvorschriften des Zivilprozesses beurteilte (vgl. ferner BSG GS 12 , 230, 233).

Diese Erwägungen führen dazu, daß selbst dann, wenn man unterstellt, daß die zu entscheidende Frage für den Zivilprozeß nicht einheitlich beantwortet wird, im sozialgerichtlichen Verfahren die weniger formelle Lösung den Vorzug verdient. Der Senat verkennt nicht, daß die Institution der Wiederaufnahmeklage eine Durchbrechung der Rechtskraft, also des Grundsatzes bedeutet, daß ein Urteil für dasselbe Verfahren unabänderlich ist. Aus diesem Grunde sind die gesetzlichen Wiederaufnahmegründe in ihren engen Grenzen zu halten. Deshalb ist es indessen nicht geboten, die Wiederaufnahme eines sozialgerichtlichen Verfahrens über die Formerfordernisse, die im Zivilprozeß gestellt werden, hinaus zu erschweren.

Hiernach ist durch die rechtzeitige Erhebung der Restitutionsklage bei dem Gericht, das die erstinstanzliche Entscheidung des Vorprozesses erlassen hat, die Frist des § 586 Abs. 1 ZPO gewahrt worden.

Für den Zivilprozeß wird die von dem erkennenden Senat vertretene Auffassung verschiedentlich mit dem Zusatz versehen, daß sie dann gelte, wenn das unzuständige Gericht den Rechtsstreit nach § 276 ZPO durch Beschluß an das zuständige Gericht verwiesen habe. Eine solche Verweisung - in Anwendung des § 98 SGG - ist in dem vorliegenden Fall nicht erfolgt. Der Rechtsstreit ist vielmehr formlos - im Einverständnis mit dem Kläger - vom SG an das ausschließlich zuständige LSG abgegeben worden. Durch das Fehlen eines formellen Verweisungsbeschlusses kann jedoch die Entscheidung darüber, ob eine fristgerecht erhobene Wiederaufnahmeklage vorliegt, nicht beeinflußt werden. Die Verweisung bewirkt unter anderem, daß der Rechtsstreit mit Verkündung des - dies aussprechenden - Beschlusses als bei dem im Beschluß bezeichneten Gericht anhängig gilt (vgl. § 276 Abs. 2 ZPO). Der Entscheidung kommt also keine rückwirkende Kraft zu. Daraus folgt, daß sie nicht geeignet sein kann, die Versäumung einer Frist, die bereits vor Verkündung des Beschlusses eingetreten war, zu beseitigen. Auch in derartigen Fällen kann eine Frist daher nur dann gewahrt sein, wenn sie ohne die Verweisung beachtet ist. Für die Rechtzeitigkeit der Klageerhebung ist es hiernach unerheblich, daß der Rechtsstreit nicht durch Beschluß an das zuständige Gericht verwiesen worden ist, das Sozialgericht die Akten vielmehr formlos weitergeleitet hat.

Auch aus § 98 Abs. 2 SGG läßt sich eine andere Entscheidung nicht rechtfertigen. Dort heißt es - anders als in der Vorschrift des § 276 ZPO, in der eine solche Regelung nicht ausdrücklich enthalten ist -, daß im Falle der Verweisung die Wirkungen der Rechtshängigkeit bestehen bleiben. Hierdurch wird keine Sonderregelung für den Fall der Verweisung nach § 98 SGG getroffen; es handelt sich lediglich um eine Klarstellung, die nach übereinstimmender Auffassung auch für den Zivilprozeß gilt; einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung hätte es nicht bedurft. Wenn durch die Erhebung der Klage beim unzuständigen Gericht die Rechtshängigkeit eintritt, so können deren Wirkungen nicht dadurch beseitigt werden, daß der Rechtsstreit zu dem zuständigen Gericht gelangt. Es kann - jedenfalls für das sozialgerichtliche Verfahren - keinen Unterschied machen, ob dies durch Verweisungsbeschluß oder - wie es hier der Fall war - formlos geschieht.

Das LSG hätte hiernach die Wiederaufnahmeklage nicht schon deshalb als unzulässig verwerfen dürfen, weil sie nicht innerhalb der Notfrist von einem Monat bei dem nach § 584 Abs. 1 ZPO ausschließlich zuständigen Gericht erhoben worden ist. Dieser Verfahrensfehler führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 126

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