Orientierungssatz

Zur Frage unter welchen Voraussetzungen Versicherungsschutz gemäß RVO § 550 S 2 Fassung: 1963-04-30 bei einem ausländischen Arbeitnehmer (hier: Minderjährige Spanierin) mit einem längerdauernden Arbeitsverhältnis besteht.

 

Normenkette

RVO § 550 S. 2 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. März 1973 wird zurückgewiesen.

Die Revision der Beigeladenen wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Streitig ist, ob der Klägerin Verletztenrente für die Folgen eines Verkehrsunfalls zusteht, den sie am 20. Dezember 1970 in Südfrankreich erlitten hat.

Die 1951 geborene Klägerin ist spanische Staatsangehörige. Bis April 1970 lebte sie mit ihrer Mutter, ihren zwei jüngeren Geschwistern, ihrem Stiefvater und dessen vier Kindern in einem in V (Spanien) gelegenen Einfamilienhaus. Im Erdgeschoß des Hauses befanden sich die Küche und ein Eßzimmer, im Obergeschoß drei Schlafzimmer. In einem der Schlafzimmer schliefen die Eltern, in den beiden anderen die im Hause lebenden sieben Kinder. Die Klägerin war mit einem ebenfalls in V lebenden Spanier verlobt.

Am 24. April 1970 nahm die Klägerin bei der Firma A in H eine Beschäftigung als Arbeiterin auf. Der Arbeitsvertrag war auf ein Jahr befristet, bot aber eine Verlängerungsmöglichkeit. Die Klägerin wurde im Wohnheim der Firma A in H untergebracht; sie schlief in einem Mehrbettzimmer, das sie mit einer anderen Spanierin und mit ihrer Tante bewohnte, mit der sie zusammen von Spanien gekommen war und die ebenfalls eine Tätigkeit bei der Firma A aufgenommen hatte. Für die Benutzung des Zimmers zahlte die Klägerin monatlich 55,- DM. Während der Betriebsferien des Unternehmens im Juli 1970 blieb die Klägerin in H. Nach ihren Angaben hat sie vom Arbeitsverdienst in unregelmäßigen Abständen DM 150,- bis DM 300,- an ihre Familie in Spanien überwiesen.

Infolge Kurzarbeit ruhte die Arbeit der Klägerin vom 14. Dezember 1970 bis zum 15. Januar 1971. Während dieser Zeit wollte die Klägerin mit Zustimmung des Arbeitsamtes ihre Familienangehörigen in Spanien besuchen. Auf der Fahrt, die die sie am 18. Dezember 1970 in einem PKW zusammen mit anderen spanischen Arbeitnehmern antrat, wurde sie am 20. Dezember 1970 in der Nähe von A (Südfrankreich) bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt. Seit Juni 1971 hält sich die Klägerin wieder in H auf; im Dezember 1971 heiratete sie einen ebenfalls in H lebenden Spanier.

Durch Bescheid vom 10. August 1971 lehnte die Beklagte eine Entschädigung ab, da die Klägerin sich nicht auf dem Weg vom Beschäftigungsort zu ihrer Familienwohnung befunden habe (§ 550 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -); ihre Unterkunft in H sei als Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse und damit als ihre Familienwohnung anzusehen.

Im Klageverfahren hat sich die beigeladene Allgemeine Ortskrankenkasse H dem Antrag der Klägerin, ihr Leistungen aus der Unfallversicherung zu gewähren, angeschlossen. Durch Urteil vom 27. Juli 1972 hat das Sozialgericht (SG) Hannover die Klage abgewiesen, da die Wohnung der Eltern zur Unfallzeit nicht die ständige Familienwohnung der Klägerin i. S. des § 550 Satz 3 RVO gewesen sei; ein lediger Versicherter habe bei seinen auswärts wohnenden Eltern nur dann seine Familienwohnung, wenn er ua seine Freizeit regelmäßig dort verbringe.

Die Berufungen der Klägerin und der Beigeladenen gegen dieses Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 8. März 1973 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Klägerin habe nicht nach § 550 Satz 3 RVO unter Versicherungsschutz gestanden. Ein unverheirateter Versicherter behalte seine Familienwohnung bei den Eltern, wenn er seine Freizeit regelmäßig dort verbringe, die Bindung zu den Eltern nicht gelockert seit und er an dem Beschäftigungsort keinen neuen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen gefunden habe. Die angeführten Voraussetzungen könnten im Einzelfall eine mehr oder minder große Bedeutung haben, jedoch sei es nicht möglich, auf das eine oder andere Erfordernis völlig zu verzichten; dies würde für eine bestimmte Gruppe von Versicherten zu einer nicht gerechtfertigten Ausweitung des Versicherungsschutzes führen. Die Klägerin habe nach der Aufnahme ihrer Beschäftigung in H die Bindung zu ihren Eltern zwar nicht aufgegeben, wie aus einer lebhaften Korrespondenz und aus Geldüberweisungen hervorgehe; jedoch habe sie bis zu dem Unfall ihre Freizeit auch nicht wenigstens einmal im Hause ihrer Eltern verbracht. Allerdings sei es ihr - abgesehen von der Zeit der Betriebsferien - wegen der weiten Entfernung zwischen H und V und der mit verbundenen hohen Fahrkosten kaum möglich gewesen, ihre Eltern zu besuchen. Entscheidend sei aber allein, daß sie tatsächlich zur Zeit des Unfalls etwa acht Monate lang nicht zu Hause gewesen sei. Insoweit seien die Verhältnisse unverheirateter Gastarbeiter mit denjenigen deutscher Versicherter zu vergleichen, die für längere Zeit im weit entfernt gelegenen Ausland, z. B. auf Montage, beschäftigt seien. Hinzu komme, daß die Klägerin an ihrem Arbeitsort Hannover einen neuen Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen gefunden habe. Die Klägerin habe sich, selbst wenn sie beabsichtigt habe, später nach Spanien zurückzukehren, in H nicht nur besuchsweise aufgehalten. Sie habe sich durch den Abschluß des Arbeitsvertrages von der häuslichen Umgebung in einem Alter gelöst, in dem auch andere jüngere Menschen das Elternhaus zu verlassen pflegten, um auswärts einer Beschäftigung nachzugehen. Werde - wie hier - eine Beschäftigung im Ausland weit entfernt von der elterlichen Wohnung aufgenommen, so müßten sich unverheiratete Versicherte zwangsläufig darauf einrichten, ihr Leben losgelöst von der elterlichen Obhut und Pflege zu gestalten: sie allein entschieden über den Wechsel des Arbeitsplatzes, die Wahl der Unterkunft, die Verwendung des Arbeitsverdienstes und die Ausgestaltung der Freizeit. Auch die Klägerin habe sich nach der Arbeitsaufnahme in H für längere Zeit - mindestens ein Jahr - darauf eingerichtet und einrichten müssen, daß sich ihr Leben fast ausschließlich an ihrem Arbeitsort abspielte. Jedenfalls sei dies zur Unfallzeit, etwa acht Monate nach dem Verlassen der elterlichen Wohnung, der Fall gewesen. Diese Annahme sei umso mehr gerechtfertigt, als die Wohnverhältnisse in der Unterkunft der Klägerin in H kaum schlechter gewesen seien als im Hause der Eltern in V. Darauf komme es aber nicht entscheidend an. Denn die Wohnverhältnisse in H beruhten auf Umständen, unter denen alleinstehende Arbeitnehmer häufig ihr außerberufliches Leben einrichten müßten, die aber für die versicherungsrechtliche Beurteilung unerheblich seien. Unbeachtlich sei auch, daß der Begriff der häuslichen Gemeinschaft i. S. des § 203 Satz 2 RVO (§ 589 Abs. 1 Nr. 1 RVO) weiter ausgelegt werde als derjenige der ständigen Familienwohnung; eine ähnlich weite Auslegung des Begriffs der ständigen Familienwohnung sei nicht gerechtfertigt.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und wie folgt begründet: Das LSG habe nicht ausreichend berücksichtigt, daß es sich bei der Klägerin um eine minderjährige Spanierin handele; in Spanien sei die Bindung eines minderjährigen Mädchen an die elterliche Familie stärker, in der Regel bleibe die Tochter bis zu ihrer Heirat in der elterlichen Familie. Die verallgemeinernde Betrachtung, daß die Arbeitsaufnahme im weit entfernten Ausland zwangsläufig eine Lösung von der elterlichen Obhut zur Folge habe, treffe somit hier nicht zu. Die große Entfernung zwischen der Familienwohnung und der Arbeitsstätte mache es dem Arbeitnehmer häufig unmöglich, seine Freizeit regelmäßig in der Familienwohnung zu verbringen. In solchen Fällen müsse es für den Versicherungsschutz nach § 550 Satz 3 RVO als ausreichend angesehen werden, daß der Versicherte entsprechend dem Zeit- und Kostenaufwand, den die Reise zur Familienwohnung erfordere nach Möglichkeit in der Freizeit die Familienwohnung aufsuche. Das habe die Klägerin auch getan. Zu Unrecht sei das LSG der Auffassung, die Klägerin habe zur Unfallzeit in Hannover einen neuen Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse gehabt. Die gesamten Umstände des Falles sprächen eindeutig gegen die Annahme, daß die Unterkunft in H der Familienwohnsitz der Klägerin gewesen sei. Der Aufenthalt der Klägerin in der BRD sei ausschließlich arbeitsorientiert gewesen, es sollten lediglich Ersparnisse für die Aussteuer gesammelt werden; die Klägerin sei seinerzeit in Spanien verlobt gewesen. Der Aufenthalt sei nur für eine kurze Zeit beabsichtigt gewesen. Die Annahme einer Familienwohnung verlange jedoch, daß diese Wohnung für längere Zeit den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bilde. Die Klägerin habe im Verhältnis zu ihrem Verdienst hohe Beträge nach Spanien geschickt, für ihre Lebensgestaltung in der BRD also möglichst wenig aufgewendet. Die Unterbringung der Klägerin in einem Wohnheim der Firma AEG in einem Zimmer zusammen mit ihrer Tante und einer weiteren nicht der Familien angehörenden fremden Spanierin habe einer individuellen Lebensgestaltung der Klägerin entgegengestanden. Gegen die Gründung eines neuen Lebensmittelpunktes in H sei schließlich die starke Bindung an die Familie anzuführen, wie sie aus der intensiven Korrespondenz, den Überweisungen und der baldmöglichen Reise zur Familie zum Ausdruck komme.

Die Klägerin beantragt,

unter Änderung der angefochtenen Urteile und unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 10. August 1971 diese zu verurteilen, Verletztenrente wegen der Folgen des Unfalls vom 20. Dezember 1970 zu gewähren.

Die Beigeladene hat ebenfalls Revision eingelegt, innerhalb der Revisionsfrist jedoch keinen Antrag gestellt. Ihre Ausführungen in der Revisionsbegründung stimmen im wesentlichen mit denjenigen der Klägerin überein.

Die Beklagte hat beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für zutreffend.

II

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.

Das LSG hat mit Recht entschieden, daß die Klägerin auf der Fahrt von ihrem Beschäftigungsort H zum Besuch ihrer in V (Spanien) lebenden Eltern und Geschwister nicht unter Unfallversicherungsschutz (UV-Schutz) gestanden hat. Die Klägerin befand sich am 20. Dezember 1970 zwar auf dem Weg von ihrem Arbeitsort; die Voraussetzungen des § 550 Satz 1 RVO sind jedoch schon deshalb nicht gegeben, weil die während der einmonatigen Arbeitsunterbrechung von der am Arbeitsort gelegenen Wohnung aus unternommene Fahrt nicht mit dem Arbeitsverhältnis der Klägerin, sondern wesentlich allein mit ihrem unversicherten persönlichen Lebensbereich zusammenhing. Die innere Bindung an die Familie als Anlaß der Reise nach Spanien ist nicht geeignet, einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit zu begründen.

Die Klägerin war auf ihrer Fahrt auch nicht nach § 550 Satz 2 RVO in der Fassung bis zum Inkrafttreten des Gesetzes über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I 237) am 1. April 1971 (RVO aF = § 550 Satz 3 RVO idF dieses Gesetzes) versichert. Nach dieser Vorschrift schließt der Umstand, daß der Versicherte wegen der Entfernung seiner ständigen Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft hat, die Versicherung auf dem Weg von und nach der Familienwohnung nicht aus. Für die Wege zur Familienwohnung hat der Gesetzgeber zwar einen Versicherungsschutz geschaffen, der über den Versicherungsschutz nach § 550 Satz 1 RVO hinausgeht und es ermöglicht, rechtlich die dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Beweggründe für das Zurücklegen des Weges weitgehend unberücksichtigt zu lassen; die Anwendbarkeit des § 550 Satz 2 RVO aF hängt jedoch in jedem Fall davon ab, daß es sich bei dem Ziel des Weges oder seinem Ausgangspunkt um die Familienwohnung handelt und der Versicherte am Beschäftigungsort oder in dessen Nähe nur eine Unterkunft hat (ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats, vgl. BSG 1, 171, 173; Urt. v. 28.4.1968 - 2 RU 118/66 -; vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 7. Aufl. S. 486 h I, 486 1, 486 m).

Die "ständige Familienwohnung" im Sinne des § 550 Satz 2 RVO aF ist eine Wohnung, die für nicht unerhebliche Zeit den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bildet (ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats, vgl. ua BSG 1, 171, 173; 20, 110, 111; 25, 93, 95; vgl. auch Brackmann, aaO S. 486 h II; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 550 Anm. 20). Die Beurteilung der Frage, ob die hiernach erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind, richtet sich nach der tatsächlichen Gestaltung der Verhältnisse.

Wie das LSG unter Berücksichtigung aller Einzelumstände des Falles zutreffend angenommen hat, befand sich der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Klägerin zur Unfallzeit nicht mehr im Haus ihrer Eltern in V (Spanien). Dieser Mittelpunkt hatte sich vielmehr an den Ort ihrer Beschäftigung in H vorlagert.

Im Unfallzeitpunkt lebte die damals 19-jährige Klägerin bereits 8 Monate in einem Wohnheim ihrer Arbeitgeberin in Hannover und wollte zunächst noch mindestens bis zum Ablauf des auf ein Jahr befristeten, jedoch eine Verlängerungsmöglichkeit bietenden Arbeitsvertrages dort wohnen. Für ihre Auffassung, die Klägerin habe gleichwohl den Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse bei ihren Eltern in deren Haus in Spanien beibehalten, führt die Revision in erster Linie die enge Bindung der noch jungen Klägerin an ihr Elternhaus an, die in einer intensiven Korrespondenz und in Geldüberweisungen aus ihrem Arbeitsverdienst zum Ausdruck gekommen sei. Bei den psychologischen (und soziologischen) Gegebenheiten, die bei der Prüfung der den Mittelpunkt der Lebensbeziehungen mitbestimmenden tatsächlichen Verhältnissen zu berücksichtigen sind (vgl. Brackmann, aaO mit Nachweisen aus der Rspr. des Senats), ist der aufrechterhaltenen Bindung eines ledigen Versicherten zu seinen Eltern zwar eine erhebliche Bedeutung beizumessen. Fehlt es schon an dieser inneren Bindung bei einem ledigen Versicherten, der in einem von der elterlichen Wohnung weit entfernten Ort eine Beschäftigung aufnimmt und sein in der elterlichen Wohnung noch zur Verfügung stehendes Zimmer oder seine Schlafstelle nur in großen Zeitabständen aufsucht, so dürfte, von besonderen Fallgestaltungen abgesehen, die Beibehaltung des Mittelpunkts der Lebensverhältnisse in der Wohnung der Eltern grundsätzlich zu verneinen sein. Hieraus folgt zugleich, daß die in der Korrespondenz und den Geldüberweisungen zum Ausdruck kommende Bindung der Klägerin an ihr Elternhaus für sich allein jedenfalls nicht ausreicht, im Unfallzeitpunkt ihr Elternhaus in Spanien noch als ihre Familienwohnung anzusehen.

Sofern die Klägerin zu dieser Zeit noch die Absicht hatte, ihren ebenfalls in V lebenden damaligen Verlobten zu heiraten, so läßt sich daraus allenfalls auf ihren Rückkehrwillen nach Spanien schließen; ein Zusammenwohnen mit dem ohnehin überfüllten Haus ihrer Eltern dürfe kaum in Betracht gezogen worden sein. Der Rückkehrwille und der, wie die Revision meint, "arbeitsorientierte" Aufenthalt in H bilden jedoch keine ausreichenden Kriterien für die Frage, wo sich der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Klägerin im Unfallzeitpunkt befand (vgl. Urteil des erk. Senats in SozR Nr. 21 zu § 550 RVO), da hierfür nicht die in Zukunft geplante, sondern die tatsächliche Gestaltung der Lebensverhältnisse im Unfallzeitpunkt maßgebend ist.

Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 28. Mai 1957 (BSG 5, 165, 166) ausgeführt hat, entspricht es der Lebenserfahrung, daß ledige Arbeitnehmer, die - wie im vorliegenden Fall - auswärts beschäftigt und am Ort ihrer Tätigkeit untergebracht sind, sich in meist stärkerem Maße vom Elternhaus lösen, als dies im Regelfall bei Versicherten mit eigenem Hausstand am Wohnort der Eltern der Fall zu sein pflegt. Zu einer solchen Lösung kommt es auch leichter, wenn sich ledige Arbeitnehmer, was hier ebenfalls zutrifft, in einem länger dauernden, ihre persönliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit stärkenden Arbeitsverhältnis befinden. Diese auf eine Verlagerung des Mittelpunkts des Lebensverhältnisse hinweisenden Umstände können in ihrer Bedeutung im Einzelfall zurückgedrängt werden, wenn sich die aufrechterhaltene enge Bindung an die Eltern zB dadurch ausdrückt, daß der Versicherte, ohne an seinem auswärtigen Betätigungsort einen neuen Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse gefunden zu haben, seine Freizeit regelmäßig bei seinen Eltern verbringt (vgl. BSG aaO; SozR Nr. 17 zu § 543 RVO aF; Brackmann, aaO m. w. N.). Diesen Gesichtspunkt kann die Klägerin nicht zu ihren Gunsten anführen, da sie im Unfallzeitpunkt nach 8-monatiger Abwesenheit erstmals ihre Eltern besuchen wollte und die ihr nach etwa 3-monatigem Aufenthalt an ihrem auswärtigen Beschäftigungsort gebotene Möglichkeit zur Heimfahrt während ihres Urlaubs, wenn auch aus finanziellen Erwägungen, nicht genutzt hat. Allerdings kann andererseits nicht allein daraus, daß der Versicherte nicht regelmäßig wöchentlich oder auch nur monatlich von seinem Beschäftigungsort zu dem Ort fährt, in dem seine Angehörigen wohnen, auf die Verlagerung des Mittelpunktes der Lebensinteressen an den Beschäftigungsort geschlossen werden, zumal dann, wenn - wie hier - schon die Entfernung zwischen den beiden Orten ein Verbindung mit der finanziellen Lage des Versicherten eine häufigere Heimfahrt verhindert oder erheblich erschwert (vgl. Urteil des erk. Senats vom 29.5.1973 - 2 RU 24/72).

Art und Ausstattung der Wohnräume am Beschäftigungsort können nach Lage des Einzelfalles ein Indiz für die Beibehaltung der Familienwohnung bei den Eltern sein. Der Senat hat jedoch bereits in seinem Urteil vom 15. Dezember 1959 (SozR Nr. 17 zu § 543 RVO aF) darauf hingewiesen, daß zB das Bewohnen eines nur dürftig ausgestatteten Zimmers am Beschäftigungsort auf Umständen beruhen kann, unter denen alleinstehende Arbeitnehmer häufig ihr außerberufliches Leben einrichten müssen, die aber für die versicherungsrechtliche Beurteilung unerheblich sind (Knappheit an möblierten Zimmern, Sparsamkeit im Wohnungsaufwand zwecks Ermöglichung von Anschaffungen usw). Hinzu kommt, daß nach den unangefochtenen Feststellungen des LSG die Wohnverhältnisse im Wohnheim am Arbeitsort, in dem die Klägerin mit ihrer Tante und einer anderen Spanierin ein Mehrbettzimmer besaß, jedenfalls nicht wesentlich ungünstiger gewesen sind als diejenigen in ihrem Elternhaus in Spanien.

Hiernach ist bei der Beurteilung der maßgebenden tatsächlichen Verhältnisse zwar zu berücksichtigen, daß sich die Klägerin auch während ihres Aufenthalts in H mit ihrer Familie noch innerlich verbunden fühlte. Bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung darf dieser Verbundenheit jedoch keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen werden, zumal da eine in der finanziellen Unterstützung von Eltern, in der Korrespondenz und in Besuchen zum Ausdruck kommende Bindung nicht selten auch noch bei Versicherten besteht, die sich seit langer Zeit vom Elternhaus gelöst und auswärts eine eigene Familie gegründet haben.

Aufgrund der tatsächlichen Gestaltung der gesamten Lebensverhältnisse der Klägerin im Unfallzeitpunkt schließt sich der Senat der Auffassung des LSG an, daß sich die Familienwohnung der Klägerin nicht bei deren Eltern in Spanien befand. Ausschlaggebend für die rechtliche Beurteilung ist es nach der Auffassung des Senats, daß die Klägerin in H ein längerdauerndes, auf ein Jahr befristetes Arbeitsverhältnis eingegangen war, das eine noch weitere Verlängerungsmöglichkeit bot; hierdurch ergab sich eine Stärkung ihrer Unabhängigkeit besonders in wirtschaftlicher, aber auch in persönlicher Hinsicht; die Klägerin war zwar erst 19 Jahre alt, hatte aber bereits durch ihre Verlobung den Weg zur Trennung von ihrem Elternhaus und zur persönlichen Unabhängigkeit von den Eltern beschritten; an dem auswärtigen Arbeitsort hatte sie - wenn auch zusammen mit ihrer Tante und einer anderen Spanierin - ein Zimmer, in dem sich während ihres längerdauernden Aufenthalts am Arbeitsort der wesentliche Teil ihres persönliches Lebens abspielte; von dort aus vollzog sich der den Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse mitbestimmende soziale Kontakt zu anderen Personen, auch den eigenen Landsleuten; dort mußte sie, losgelöst von der elterlichen Obhut, ihre gesamten Lebensverhältnisse für einen längeren Zeitraum regeln; ihre Freizeit verbrachte sie ausschließlich am Arbeitsort; nach bereits 8-monatigem Aufenthalt war sie zur Unfallzeit erstmals - wenn auch aus Sparsamkeitserwägungen und wegen der großen Entfernung - unterwegs, um ihre Angehörigen zu besuchen. Diese Gestaltung der Verhältnisse rechtfertigt es nicht, die Wohnung der Eltern noch als Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Klägerin anzusehen.

Die Auslegung des Begriffs der häuslichen Gemeinschaft im Sinne des § 203 Satz 2 RVO (§ 589 Abs. 1 Nr. 1, vgl. auch § 630 RVO) knüpft an andere rechtliche und tatsächliche Gesichtspunkte an; zur Bestimmung dessen, was als Familienwohnung im Sinne des § 559 Satz 2 RVO aF anzusehen ist, können deshalb die bei der Auslegung des Begriffs der häuslichen Gemeinschaft gefundenen Abgrenzungsmerkmale nicht ohne weiteres angewendet werden. Die Revision der Klägerin war somit zurückzuweisen.

Die Revision der Beigeladenen war als unzulässig zu verwerfen. Die Beigeladene hat das Rechtsmittel zwar fristgerecht eingelegt und begründet, die Revisionsschrift enthält jedoch nicht einen bestimmten Antrag (§ 164 Abs 2 Satz 1 SGG); der Antrag ist auch innerhalb der Revisionsfrist nicht nachgeholt worden. Die Revision entspricht daher nicht der gesetzlichen Form (vgl. BSG 1, 50; SozR Nr. 14 zu § 164 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646610

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