Orientierungssatz

Ein Versicherter steht auf dem Weg zum Verrichten der Notdurft auch dann unter Versicherungsschutz, wenn er hierzu auf seiner Arbeitsstätte nicht die Toilette aufsucht, sondern sie unzulässigerweise an einer hierfür nicht vorgesehenen Stelle verrichten will.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Bremen vom 1. Juni 1972 und des Sozialgerichts Bremen vom 26. Januar 1972 sowie der Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 1970 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 19. August 1969 zu entschädigen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger wollte auf seiner Arbeitsstelle am 19. August 1969 nach Arbeitsschluß seinen Spind im Umkleideraum öffnen. Er vermißte seinen Schlüssel und ließ sich von einem Arbeitskollegen den Schlüssel zur Werkzeugkiste geben, um daraus eine Eisensäge zu holen, mit der er den Spind öffnen wollte. Auf dem Weg zur Werkzeugkiste bog er ab und betrat durch einen Gang einen Pumpenraum, um dort seine Notdurft zu verrichten. Dieser Raum war nur während der Arbeitszeit mit Handlampen ausgeleuchtet und lag, als der Kläger ihn betrat, im Dunkeln. Nach einer von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten Auskunft soll der Zugang zum Pumpenraum durch einen etwa 1 m hohen und 1,50 m breiten Lüfter versperrt gewesen sein, über den der Kläger geklettert sein soll. Der Kläger ging in dem dunklen Gang, der zum Pumpenraum führte, einige Stufen hinab, bog um eine Ecke und stürzte in einen etwa 4 m tiefen ungesicherten Schacht. Beim Sturz in den Schacht erlitt er eine leichte Gehirnerschütterung, eine laterale Schenkelhalsfraktur rechts sowie eine große Platzwunde in der rechten Achselhöhle.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 12. Oktober 1970 ab, dem Kläger eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Durch das Verlassen des direkten Weges von der Waschbaracke zur Werkzeugkiste und das verbotswidrige Überklettern der Absperrung sei der Kläger einer selbst geschaffenen Gefahr erlegen; durch das betriebswidrige Handeln des Klägers sei auch der innere Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit im Unternehmen entfallen.

Der Kläger hat Klage erhoben, die das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 26. Januar 1972 abgewiesen hat. Das SG hat u. a. ausgeführt: Der Kläger habe nicht zur Betriebstoilette gehen wollen. Er sei nicht darauf angewiesen gewesen, seine Notdurft in dem dunklen Gang zu verrichten, der einen besonderen Gefahrenbereich dargestellt habe.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 1. Juni 1972 zurückgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt: Der Kläger habe ausschließlich eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt, als er den Weg von der Waschbaracke zur Werkzeugkiste im Kesselhaus verlassen und den dunklen zum sog. Pumpenraum führenden Seitengang betreten habe, um dort seine Notdurft zu verrichten.

Eine Betriebsbezogenheit seiner Tätigkeit und damit der Versicherungsschutz des Klägers hätte nur fortbestanden, wenn er auf dem Weg zur Werkzeugkiste im Kesselraum die auf der Baustelle eingerichtete Toilette aufgesucht hätte und hierbei verunglückt wäre. Die rechtlich wesentliche Ursache für den Unfall des Klägers sei jedoch nicht die Gefahr, die von dem Weg zur Werkzeugkiste bzw. zur Betriebstoilette ausging. Ursache sei vielmehr das Abweichen von diesem Weg.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Er trägt vor: Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) stehe die Verrichtung der Notdurft sowohl auf der Betriebsstätte als auch auf einem Betriebsweg und auch auf dem Heimweg unter Versicherungsschutz. Der Versicherungsschutz entfalle nicht, wenn der Versicherte zum Verrichten der Notdurft nicht die betrieblichen Toilettenanlagen aufsuche; denn verbotswidriges Handeln schließe die Annahme eines Arbeitsunfalles nicht aus.

Der Kläger beantragt,

die angefochtene Entscheidung, das Urteil des SG Bremen vom 26. Januar 1972 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 1970 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen des Unfalls vom 19. August 1969 Entschädigung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die zulässige Revision ist begründet.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat der Kläger den Weg zur Werkzeugkiste im Kesselhaus verlassen und den dunklen zum sog. Pumpenraum führenden Seitengang betreten, um dort seine Notdurft zu verrichten.

Das LSG ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats davon ausgegangen, daß der Versicherte auf dem Weg zum Verrichten der Notdurft auf der Betriebsstätte unter Versicherungsschutz steht; denn der Versicherte ist durch die Anwesenheit auf der Betriebsstätte gezwungen, seine Notdurft an einem anderen Ort zu verrichten, als er das von seinem häuslichen Bereich aus getan haben würde (vgl. ua BSG 16, 73, 76; BSG BG 1964, 253; BSG Urteile vom 31. Mai 1967 - 2 RU 218/64 - und vom 11. November 1971 - 2 RU 133/68 -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 7. Aufl., S. 482 c mit weiteren zahlreichen Nachweisen).

Der Versicherungsschutz besteht aber nicht nur, wovon das Berufungsgericht ausgeht, auf dem Weg zur Toilette, sondern auch zu anderen Örtlichkeiten auf der Betriebsstätte oder dem sich anschließenden Gelände, an denen der Versicherte die Notdurft zu verrichten beabsichtigt. Ebenso wie ein verbotswidriges Handeln bei der eigentlichen versicherten Tätigkeit oder auch auf dem Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit den Versicherungsschutz nicht ausschließt (s. § 548 Abs. 3 RVO; vgl. Brackmann aaO, S. 484 y), verliert der Versicherte den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung auf dem Wege zum Verrichten der Notdurft auch nicht deshalb, weil er sie - z. B. aus Bequemlichkeit - nicht auf der Toilette, sondern an einem Ort verrichten will, an dem dies nicht zulässig ist. Das LSG hat deshalb zu Unrecht den Versicherungsschutz des Klägers verneint, weil er nicht die Toilette, sondern den dunklen Gang zum Pumpenraum zum Verrichten der Notdurft aufgesucht hat.

Der Kläger ist demnach auch nicht, wie das Berufungsgericht meint, auf einem nicht versicherten Umweg zur Toilette verunglückt. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist der Kläger zwar von dem Weg zur Werkzeugkiste, nicht aber von dem Weg zu dem Ort abgewichen, an dem er seine Notdurft verrichten wollte.

Der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Weg zum Verrichten der Notdurft ist entgegen der Auffassung des LSG nicht ausgeschlossen, weil der Kläger auf diesem Weg einer Gefahr erlegen ist, die ihm bei dem Gang zur Toilette nicht begegnet wäre. Bei einem verbotswidrigen Verhalten, das den Versicherungsschutz nicht ausschließt, wird der Unfall regelmäßig auf Gefahren zurückzuführen sein, die bei einem nicht verbotswidrigen Handeln nicht eingetreten wären (vgl. u. a. BSG 6, 164, 169; RVA AN 20, 151, 153; BSG 25, 102, 104; s. auch Brackmann aaO S. 484 y).

Der Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit wäre allerdings ausgeschlossen, wenn der Kläger einer sog. selbstgeschaffenen Gefahr erlegen wäre. Der erkennende Senat hat eine sog. selbstgeschaffene Gefahr - die das LSG auf Grund seiner Rechtsauffassung nicht geprüft, aber erwähnt hat - in seiner Rechtsprechung stets nur mit größter Vorsicht und in Ausnahmefällen angenommen (s. u. a. BSG 6, 164, 169; 14, 64, 67; BSG SozR Nr. 53, 55, 77 zu § 542 RVO aF; Brackmann aaO S. 484 i; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 548 Anm. 52). Eine sog. selbstgeschaffene Gefahr schließt den Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall und damit den Versicherungsschutz nur aus, wenn sie in so hohem Grad vernunftwidrig war, zu einer solchen besonderen Gefährdung geführt hat, daß die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen ist (vgl. ua BSG 14, 64, 67; BSG SozR aaO Nrn. 53, 77; BSG SozR Nr. 5 zu § 550 RVO; Brackmann aaO S. 484 k). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist dies hier nicht der Fall. Der Kläger hat den Gang in Unkenntnis der gegebenen Gefahren aufgesucht. Das Betreten eines dunklen, wenn auch gesperrten und dem Versicherten - wohl - unbekannten Ganges bildet aber allein noch kein in hohem Grad so vernunftwidriges Handeln, daß deshalb kein ursächlicher Zusammenhang mehr zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall angenommen werden kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668793

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