Leitsatz (amtlich)

Ein Schwerbehinderten-Bescheid, der auf dem Verdacht einer bösartigen Geschwulstkrankheit beruht, kann auch dann, wenn dieser Verdacht dem Behinderten nicht ausdrücklich zur Kenntnis gebracht worden ist, bei Wegfall des Verdachts wegen Änderung der Verhältnisse zurückgenommen werden (Ergänzung zu BSG vom 22.5.1974 12 RJ 298/73).

 

Orientierungssatz

Die Praxis der Verwaltung, fünf Jahre nach dem den Verdacht auslösenden Eingriff den Grad der Behinderung zu reduzieren oder die Schwerbehinderteneigenschaft zu entziehen, wenn der Verdacht unbegründet war, ist rechtmäßig, auch wenn sich herausstellt, daß der Verdacht von Anfang an hätte widerlegt werden können.

 

Normenkette

SGB 10 § 48 Abs. 1 S. 1; SchwbG § 3

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 08.12.1986; Aktenzeichen L 1 Vs 68/86)

SG Mainz (Entscheidung vom 09.06.1986; Aktenzeichen S 4 Vs 204/85)

 

Tatbestand

Beim Kläger stellte das Versorgungsamt 1977 Fehlen der rechten Hand und beiderseitige Hochtonschwerhörigkeit als Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH fest (Bescheid vom 30. August 1977), außerdem 1980 auf seinen Antrag als weitere Behinderung "Verlust der linken Niere", die 1979 wegen der Annahme eines Karzinoms entfernt worden war, bei Neufestsetzung der Gesamt-MdE auf 100 vH (Bescheid vom 27. August 1980). Mit dem jetzt angefochtenen Verwaltungsakt vom 15. August 1985 stellte die Verwaltung gemäß § 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) die Gesamt-MdE wegen Heilungsbewährung nach Verlust der linken Niere auf 70 vH fest. Sie anerkannte antragsgemäß zusätzlich Halswirbelsyndrom bei degenerativen Veränderungen sowie arteriellen Hypertonus als weitere Behinderungen. Diese Gesundheitsstörungen hätten die für die MdE maßgeblichen gesundheitlichen Verhältnisse aber nicht verändert. Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, weiterhin die MdE mit 100 vH festzustellen (Urteil vom 9. Juni 1986). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die - vom SG zugelassene - Berufung des Beklagten die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. Dezember 1986). Gegenüber den objektiven gesundheitlichen Verhältnissen zur Zeit der letzten Festsetzung sei eine Änderung eingetreten, die die nach § 48 SGB X getroffene Neufeststellung rechtfertige. Bei diesem Vergleich komme es nicht darauf an, was sich die Verwaltung früher vorgestellt habe. Der Nierenzustand habe sich nicht verändert; ein Krebsleiden, das eine operative Entfernung geboten hätte, habe in Wirklichkeit nicht bestanden. Gleichwohl sei eine fünfjährige Heilungsbewährung anzunehmen, weil 1980 die Versorgungsverwaltung einen "Verlust der linken Niere wegen eines Karzinoms" - irrtümlich - anerkannt und durch eine entsprechende MdE bewertet habe. Dies ergebe eine Auslegung des Bescheides unter Berücksichtigung des zugrundeliegenden Berichtes von Prof. Dr. E, des festgesetzten MdE-Grades und der eigenen Äußerungen des Klägers über Einzel-MdE-Grade zu seinem Antrag. Wegen der tatsächlichen Änderung gegenüber der fehlerhaften Anerkennung sei nunmehr die MdE, die durch den Nierenverlust bedingt werde, mit 25 vH statt mit 80 vH und die Gesamt-MdE unter Beachtung der gesamten Funktionsbeeinträchtigungen mit 70 vH zu bewerten.

Der Kläger rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision eine unrichtige Anwendung der zu § 48 SGB X vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Rechtsgrundsätze. Der Beklagte habe allein aufgrund des Berichtes über einen Schnellschnitt ein Nierenkrebsleiden angenommen und es versäumt, den endgültigen histologischen Befund, der dem Operateur bekannt gewesen sei, beizuziehen und auszuwerten. Der Kläger habe nicht wissen müssen, daß die Verwaltung aufgrund eines Irrtums für den Nierenverlust eine Einzel-MdE von 80 vH angenommen habe. Die mit 100 vH festgesetzte MdE habe er auf eine Adrenalektomie und Lymphadenektomie zurückgeführt. Außerdem habe er mit der Berücksichtigung seines schweren Hörschadens gerechnet, der nach seinem Antrag vom 10. Mai 1980 zusätzlich hätte bewertet werden sollen. Dieser Fall einer unrichtigen Leidensbeurteilung könne nicht ebenso behandelt werden wie eine unzutreffende rechtliche Subsumtion eines objektiv richtigen Befundes. Jedenfalls sei die Gesamt-MdE nicht unter zutreffender Bewertung der einzelnen Funktionsstörungen und ihres Zusammenwirkens gebildet worden.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Der Beklagte betont, daß eine irrtümliche Anerkennung eine Neufeststellung nach § 48 SGB X nicht ausschließe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Das LSG hat im Ergebnis mit Recht die Klage abgewiesen.

Der Beklagte durfte die Neufeststellung des Grades der MdE (in Zukunft: der Behinderung -GdB- § 3 Abs 2 SchwbG idF vom 26. August 1986 -BGBl I 1421-) auf eine wesentliche nachträgliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die bei Erlaß des rechtsverbindlichen Bescheides vom 27. August 1980 "vorgelegen haben", nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) stützen. Diese Vorschrift ist im Schwerbehindertenverfahren anzuwenden (st Rspr des Senats, zB BSGE 60, 287, 288 = SozR 1300 § 48 Nr 29). Sie erlaubt auch die Aufhebung von Bescheiden, die vor dem Inkrafttreten der Bestimmung (1. Januar 1981) erlassen worden sind (Art II § 40 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 1 und 2 SGB X). Der teilweise zurückgenommene Bescheid war ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, der grundsätzlich nach § 48 SGB X aufgehoben werden kann (BSGE 60, 289 f); in ihm wurde zusätzlich der "Verlust der linken Niere" als Behinderung anerkannt (§ 3 Abs 1 SchwbG idF vom 8. Oktober 1979 -BGBl I 1649-) und die Gesamt-MdE auf 100 vH statt bis dahin 60 vH neu festgestellt (§ 3 Abs 1 und 3 SchwbG 1979; BSGE 60, 287, 290).

Gegenüber den objektiven tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlaß dieses rechtsverbindlichen Bescheides vorlagen und die für den Vergleich mit dem jetzt bestehenden objektiven tatsächlichen Verhältnissen nach § 48 SGB X maßgebend sind (BSGE 7, 8, 11 f; seitdem st Rspr, zB SozR 3100 § 62 Nr 16 und 21; Schneider-Danwitz in: Gesamtkommentar Sozialgesetzbuch Sozialversicherung, Verfahrensrecht, § 48, Anm 20, a und b), ist nachträglich eine wesentliche Änderung eingetreten, der die neue Bewertung der MdE mit 70 vH statt mit 100 vH entspricht. Die bestätigende tatsächliche Feststellung des LSG, daß nunmehr der Grad der Gesamt-MdE/Behinderung mit 70 vH zu bewerten ist, ist für das Revisionsgericht bindend; der dagegen erhobene Angriff des Klägers genügt nicht der erforderlichen Form (§ 163, 164 Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Allerdings liegt die Änderung nicht in einer "Heilungsbewährung" (dazu BSGE 17, 63, 64 f = SozR Nr 17 zu § 62 BVG; Anhaltspunkte für die ärztliche Beurteilung Behinderter nach dem Schwerbehindertengesetz, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Ausgabe 1977, S 92 f; jetzt: Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entscheidungsrecht und nach dem SchwbG 1983, S 26, 37, 39, 83; Geschwinder, Behindertenrecht 1981, S 79 ff; Schimanski, Die Sozialversicherung 1987, 121, 123 ff), von der der Beklagte und das LSG ausgegangen sind. Eine solche hätte vorausgesetzt, daß der Kläger 1979/80 tatsächlich an Krebs erkrankt gewesen wäre. Sein Fall liegt indes zwischen einem solchen Sachverhalt und einer eindeutig ursprünglichen Unrichtigkeit eines Verwaltungsaktes. Die nachträgliche Erkenntnis einer Fehldiagnose ist keine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse iS des § 48 SGB X (st Rspr, zB BSGE 17, 63, 64; 17, 295, 296 = SozR Nr 4 zu § 1286 RVO). In solchen Fällen kann die von vorneherein unrichtig gewesene Entscheidung allein nach § 45 SGB X zurückgenommen werden. Die dabei zu beachtende Zweijahresfrist (Abs 3 Satz 1) könnte gegenüber dem Kläger nach Satz 2 iVm § 580 Nr 2 oder 3 Zivilprozeßordnung ausgeschlossen gewesen sein. Dies ist aber hier, abgesehen davon, daß der bis zuletzt allein auf § 48 SGB X gestützte Bescheid nicht in einen andersartigen Verwaltungsakt iS des § 45 SGB X umgedeutet werden könnte, wegen der im folgenden darzulegenden Sach- und Rechtslage dieses Falles nicht zu prüfen.

Beim Kläger hat die Verwaltung als Behinderung lediglich den Verlust der Niere zusätzlich anerkannt, aber nicht dementsprechend bloß eine Teil-MdE von etwa 20 bis 25 vH zusätzlich berücksichtigt (BSG SozR 2200 § 581 Nr 6; Anhaltspunkte 1977, S 70), sondern wegen einer Krebserkrankung die MdE mit 100 vH bewertet statt vorher mit 60 vH. Diese Entscheidung hat sie mit Rücksicht auf den Empfänger nicht ausdrücklich im einzelnen erläutert. Sie ist aber aus der Höherbewertung der MdE zu erkennen. Als objektive Sachlage konnte nicht mehr als ein Verdacht auf Krebs festgestellt werden, der demnach weder bestätigt noch ausgeräumt werden konnte. Der auf einen bloßen Verdacht einer Erkrankung gestützte Bescheid ist jedenfalls dann nicht rechtswidrig, wenn, wie bei Krebs, schon der Verdacht besondere Maßnahmen erforderlich macht. Wenn auch die nachträgliche feingewebliche Untersuchung keine Anzeichen für einen Krebs an der Niere ergab, ging der Operateur doch weiterhin von der Möglichkeit einer Krebserkrankung aus und nahm aufgrund dessen gebotene Metastasenuntersuchungen vor. Das Ergebnis der feingeweblichen Untersuchung teilte er der Verwaltung nicht ausdrücklich mit. Das LSG hat nicht etwa gemäß § 163 SGG für das BSG verbindlich festgestellt, daß sich 1980 mit Gewißheit ein Krebs in der Niere ausschließen ließ. Dafür hätte es die noch vorhandenen Beweismittel fachärztlich begutachten lassen und sodann eine Beweiswürdigung vornehmen müssen. Das ließe sich indes nicht vollständig nachholen; denn Prof. Dr. E, der den Kläger 1979 operierte, ist verstorben und kann deshalb nicht mehr nach den Gründen und Erkenntnisquellen für seine endgültige Krebsdiagnose befragt werden. Das LSG hat lediglich seine Rechtsauffassung zu § 48 SGB X auf die Annahme, der Kläger sei nicht an Krebs erkrankt gewesen, gestützt. Selbst für diesen Fall hält es den nach § 48 SGB X erlassenen Bescheid für rechtmäßig. Dem folgt der Senat nur im Ergebnis, und zwar auch bei Unterstellung eines anderen Sachverhalts. Angesichts der vorhandenen, einander widersprechenden Erkenntnismittel kann nach allgemeiner Erfahrung - ohne weitere Sachaufklärung - jedenfalls von einem Krebsverdacht, der einen Irrtum einschloß, ausgegangen werden. Dies bestimmte die maßgebenden objektiven Gesundheitsverhältnisse.

Dieser Verdacht wurde endgültig dadurch ausgeräumt, daß nach über fünf Jahren keine Krebserkrankung beim Kläger in Erscheinung getreten ist. Darin liegt eine nachträgliche wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die die Entscheidung nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X rechtfertigt (BSGE 17, 295, 296 f). Grundsätzlich mag die Neufeststellung in solchen Fällen um der rechtsstaatlichen Klarheit willen voraussetzen, daß der bloße Verdacht einer Erkrankung im aufgehobenen Bescheid deutlich erkennbar ausgesprochen worden war (für die Rentenversicherung: BSGE 22. Mai 1974 - 12 RJ 298/73 - mN). Dies ist aber ausnahmsweise in besonderen Fällen der bösartigen Geschwulstkrankheiten wegen humaner Rücksicht auf die Betroffenen (Anhaltspunkte 1983, S 17 f) für die Neufeststellung nicht erforderlich.

Die Rechtsprechung des BSG zur Aufhebung ursprünglich unrichtiger Verwaltungsakte nach § 48 SGB X, auf die das Berufungsurteil gestützt ist (BSGE 35, 277 ff, bes 279 = SozR Nr 21 zu § 1286 RVO; SozR 1300 § 48 Nr 13; BSGE 60, 218 ff; bes 220 = SozR 1300 § 48 Nr 27), muß hier außer Betracht bleiben. Sie hält die Aufhebung für berechtigt, falls sich ein Sachverhalt, der objektiv zur Zeit der rechtsverbindlichen Entscheidung bestand, aber unrichtig (rechtlich) bewertet wurde, nachträglich wirklich geändert hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 243

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