Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 11.12.1989)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Dezember 1989 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der 1923 geborene Kläger ist wegen verschiedener Behinderungen, vor allem im Becken-, Hüft- und Wirbelsäulenbereich, als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung um 90 anerkannt; die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G” sind festgestellt, diejenigen für „RF” (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht und Fernsprechgebührenermäßigung) abgelehnt worden (Bescheid vom 26. Februar 1986). Im April 1986 beantragte der Kläger erneut die Anerkennung des Merkzeichens „RF”. Der Antrag ist erfolglos geblieben (Bescheid vom 6. Mai 1986, Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 19. Mai 1987 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 11. Dezember 1989). Das Berufungsgericht hat die landesrechtlichen Voraussetzungen für eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht als nicht gegeben erachtet. Nach hausärztlicher, orthopädischer und urologischer Begutachtung sei der Kläger durch seine Leiden nicht ständig und allgemein daran gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er könne noch Auto fahren und bis zu fünf Minuten beschwerdefrei gehen. Wenn er nach seinen Angaben bei schlechtem Wetter und im Winter das Haus nicht verlassen könne und wenn die Verhältnisse an seinem Heimatort im orthopädischen Gutachten nicht berücksichtigt worden seien, so sei dies nicht rechtserheblich. Seine Harninkontinenz und Miktionsschwäche infolge Prostatahyperplasie, die zu häufigem Harnlassen führten, hinderten ihn nicht, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Selbst wenn er nicht rechtzeitig die Toilette aufsuchen könne und während einer Veranstaltung andere Teilnehmer nicht stören wolle, könne er einmal zu benutzende Windelhosen tragen, die einen geruchfreien Rückhalt bis zu zwei Stunden böten. Dies sei ihm zuzumuten; es verstoße weder gegen die Menschenwürde noch gegen das Rechtsstaatsprinzip.

Der Kläger rügt mit seiner – vom LSG zugelassenen – Revision eine Verletzung des § 3 Abs 1, 4 und 5 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) aF, des § 1 der baden-württembergischen Landesverordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht sowie des § 29 Abs 1 Nr 3 Buchstaben f und i und des § 33 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil (SGB I). Das LSG habe verkannt, daß er infolge Verlustes eines Großteiles der Beckenschaufel große Schwierigkeiten beim Tragen der Kleidung habe, zB mit Hosenträgern seine Unterhose halten müsse. Infolge dieser Behinderung und der behinderungsbedingten Notwendigkeit, ein Hüftkorsett zu tragen, könne er auch nicht die handelsüblichen Windelhosen befestigen; das sei ein allgemeiner Erfahrungssatz. In der überwiegenden Anzahl von Toiletten, die bei öffentlichen Veranstaltungen zugänglich seien, sei es außerdem nicht möglich, die Windelhosen zu wechseln und entzündungsgefährdete Körperstellen mit Salbe zu behandeln. Meistens seien solche Toiletten stiefmütterlich ausgestattet, hätten glitschige Böden, seien unsauber und eng und böten keinen hinreichenden Sichtschutz. Schließlich verstärkten sich auf einer Strecke von 400 bis 500 Metern, die er gehen könne, die anderen Behinderungen, Herzleistungsminderung sowie degenerative Wirbelsäulenveränderung mit Schmerzen. Hinzu komme der seelische Druck, die Befürchtung, daß sich das eine oder andere Gebrechen in der oft lärmenden und rücksichtslosen Menschenmenge verstärken könne.

Der Kläger beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid des Beklagten aufzuheben sowie festzustellen, daß bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „RF” vorliegen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

Der Beklagte hat dem Kläger nicht durch einen Zugunstenbescheid die Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF” zuzuerkennen, damit er von der Rundfunkgebührenpflicht befreit und ihm die Telefongebühr ermäßigt werden könnte (§ 44 SGB Verwaltungsverfahren ≪SGB X≫; Urteil des Senats vom heutigen Tag – 9a/9 RVs 15/89 –, zur Veröffentlichung bestimmt; § 4 Abs 4 und 5 SchwbG idF vom 26. August 1986 – BGBl I 1421 –; § 3 Abs 1 Nr 4 Ausweisverordnung SchwbG vom 15. Mai 1981 – BGBl I 431 – / 18. Juli 1985 – BGBl I 1516 –; § 1 der baden-württembergischen Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die das Revisionsgericht mangels formgerechter Verfahrensrügen gebunden ist (§ 163, 164 Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), ist der Kläger nicht in der erforderlichen Weise durch die anerkannten Behinderungen, vor allem im Becken-, Hüft- und Wirbelsäulenbereich, ständig und allgemein gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Soweit er mit neuem Vortrag beanstandet, eine Herzschwäche sowie Wirbelsäulenschmerzen und psychische Belastungen seien nicht beachtet worden, hat der Kläger dies nicht in Form von gesetzmäßigen Verfahrensrügen vorgebracht. Das Berufungsgericht hat die einschlägige Rundfunkgebührenvorschrift zutreffend auf den festgestellten Sachverhalt angewendet (BSGE 53, 175, 177 f = SozR 3870 § 3 Nr 15; BSG SozR 3870 § 3 Nrn 24 und 25; ZfSH/SGB 1987, 318). Inwiefern das Berufungsurteil § 29 Abs 1 Nr 3 Buchstaben f und i SGB I (Pflicht zur Gewährung von Eingliederungshilfen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der körperlichen und geistigen Beweglichkeit sowie des seelischen Gleichgewichts und zur Freizeitgestaltung sowie sonstigen Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben) und § 33 SGB I (Individualisierungsgrundsatz) verletzen soll, ist nicht verständlich.

Der weitere Teil des Berufungsurteils, der sich mit der von der Revision in den Vordergrund gestellten Harninkontinenz und Miktionsschwäche aufgrund einer Prostatahyperplasie befaßt, mag eine ausreichende Entscheidung über eine zusätzlich festzustellende Behinderung enthalten, die beim Anerkennen von Merkzeichen zu berücksichtigen ist (BSGE 62, 273, 275 = SozR 3870 § 60 Nr 2). Auch wenn diese Behinderung zu berücksichtigen ist, sind aber dem Kläger nicht die Voraussetzungen für „RF” zuzuerkennen. Nach der tatsächlichen Feststellung des LSG könnte der Kläger trotz unwillkürlichen Urinabgangs an den üblichen öffentlichen Veranstaltungen in ausreichendem Maß teilnehmen. Dies wäre durch Anziehen von einmal zu tragenden Windelhosen zu ermöglichen, die den Harn bis zu zwei Stunden ohne Geruchsbelästigung für andere Menschen aufnehmen.

Das Tragen solcher Slips ist zumutbar, wie das LSG zutreffend entschieden hat; es verstößt weder gegen die Würde des Menschen (Art 1 Grundgesetz ≪GG≫) noch gegen den Sozialstaatsgrundsatz (Art 20 Abs 1 GG). Das könnte allenfalls dann rechtlich bedeutsam werden, wenn diese sanitäre Hilfsbekleidung in peinlicher Weise anderen Menschen bekannt würde. Das ist aber für jegliche Art von Unterwäsche regelmäßig ausgeschlossen, weil sie durch Oberbekleidung verdeckt wird. Der Kläger behauptet nicht, er habe, abweichend vom Berufungsurteil, schon im Berufungsverfahren darauf hingewiesen, daß er ein Hüftkorsett tragen müsse und daß sowohl dies als eine Einbuchtung in der Beckenschaufel das Tragen von Windelslips verhinderten. Selbst wenn dieses Vorbringen nicht verfahrensrechtlich ausgeschlossen wäre (§§ 163, 202 SGG iVm § 295 Zivilprozeßordnung; dazu BSG SozR 1500 § 160a Nr 61), wäre nicht erkennbar, aus welchen tatsächlichen Gründen der Kläger wohl eine Unterhose, die an Hosenträgern befestigt werden muß, jedoch entgegen allgemeiner Erfahrung nicht eine Windelhose tragen kann. Was der Kläger zur Notwendigkeit, während öffentlicher Veranstaltungen in einer Toilette die Windelhose zu wechseln, vorbringt, ist nicht überzeugend; der Kläger bringt lediglich statt allgemein bekannter Tatsachen seine persönliche Abneigung gegen ein übliches und bewährtes Hilfsmittel zum Ausdruck.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175126

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