Entscheidungsstichwort (Thema)

Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Wegfall des Merkzeichens G auch bei dessen Zubilligung vor dem 1.10.1979

 

Orientierungssatz

Die durch § 58 Abs 1 S 2 SchwbG idF der Bekanntmachung vom 8.10.1979 begründete Vermutung, wonach Schwerbehinderte mit einer MdE von mindestens 80 vH als in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt galten, ist durch § 58 Abs 1 S 2 SchwbG idF vom 22.12.1983 mit Ablauf des 31.3.1984 beseitigt worden. Dazu bedurfte es, wie vom Senat mehrfach entschieden, keiner Umsetzung durch Verwaltungsakt; die früheren Bescheide verloren ihre Wirksamkeit vielmehr kraft Gesetzes (vgl BSG vom 24.4.1985 - 9a RVs 11/84 = BSGE 58, 72 = SozR 3870 § 58 Nr 1 und BSG vom 23.10.1985 - 9a RVs 5/84). Dasselbe trifft auch auf solche Bescheide zu, durch die Schwerbehinderten mit einer MdE von wenigstens 80 vH vor dem 1.10.1979 das Merkmal "G" zugesprochen worden war. Diese Schwerbehinderten können nicht anders behandelt werden als vergleichbare Schwerbehinderte, denen das Merkzeichen "G" nach dem 1.10.1979 zugebilligt worden ist.

 

Normenkette

SchwbG § 58 Abs 1 S 2 Fassung: 1979-10-08; SchwbG § 58 Abs 1 S 2 Fassung: 1983-12-22; KraftStG § 3 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1972-12-01, § 3a Abs 2 S 1 Fassung: 1983-12-22, § 3 Nr 11 Fassung: 1979-02-01

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 08.10.1985; Aktenzeichen L 4 Vs 42/85)

SG Speyer (Entscheidung vom 20.03.1985; Aktenzeichen S 5 Vs 525/84)

 

Tatbestand

Umstritten ist, ob dem Kläger das Merkzeichen "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" (G) über den 31. März 1984 hinaus zusteht.

Das Versorgungsamt hatte bei dem 1914 geborenen Kläger im Jahre 1978 verschiedene Behinderungen (1. Durchlöcherung des linken Trommelfells und Taubheit des linken Ohres mit zeitweiligen Schwindelerscheinungen bei geringer Herabsetzung der Hörfähigkeit rechts; 2. Coronarinsuffizienz mit Erregungsrückbildungsstörung des Herzens; 3. Lungenemphysem; 4. Lumbalsyndrom; 5. Restzustand nach Apoplexie) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH anerkannt; ferner hatte es eine "erhebliche Gehbehinderung/Geh- und Stehbehinderung/erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen: G)" festgestellt (Bescheid vom 3. Februar 1978). Im September 1979 übersandte es dem Kläger auf dessen Antrag einen Schwerbehindertenausweis mit orangefarbenem Flächenaufdruck, der zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr berechtigte. Im Jahre 1982 änderte es die Bezeichnung der Behinderungen (Nr 2: Herzschrittmacherimplantation 1981 zur Behebung von Herzrhythmusstörungen; Nr 3: Restzustand nach Apoplexie, cerebrale Durchblutungsstörungen) und erhöhte die MdE auf 100 vH; weiter hob es hervor, daß die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" wie bisher vorlägen (Bescheid vom 26. Februar 1982). Nachdem es im Jahre 1984 eine weitere Behinderung (Nr 6: Operativ beseitigte Enge der rechten Halsschlagader) anerkannt hatte (Bescheid vom 22. März 1984), stellte es mit Bescheid vom 23. März 1984 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 1984 fest, daß eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr iS des § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG nicht vorliege. Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, beim Kläger das Vergünstigungsmerkmal "G" über den 31. März 1984 hinaus festzustellen und einen entsprechenden Änderungsvermerk im Schwerbehindertenausweis des Klägers einzutragen (Urteil vom 20. März 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat die - in den Entscheidungsgründen zugelassene - Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 8. Oktober 1985). Nach seiner Auffassung ist eine Änderung der Verhältnisse weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht eingetreten. Zwar sei mit dem 1. April 1984 die gesetzliche Rechtsvermutung, wonach alle Behinderten mit einer MdE um mindestens 80 vH als im Straßenverkehr erheblich bewegungsbehindert gegolten hätten, fortgefallen. Jedoch habe sich diese Rechtsänderung auf die am 1. Oktober 1979 in Kraft getretene Rechtsvermutung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF beschränkt. Im Fall des Klägers sei diese Rechtsvermutung für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" deswegen nicht ausschlaggebend gewesen, weil die Zuerkennung des Merkzeichens "G" bei ihm bereits vor dieser Rechtsänderung, nämlich im Jahre 1978, bescheidmäßig festgestellt worden sei. Diese Feststellung sei für die Beteiligten bindend.

Der Beklagte hat - die vom Senat zugelassene - Revision eingelegt. Er weist darauf hin, daß das Merkzeichen "G" bei einer Gesamt-MdE um wenigstens 80 vH schon in der Zeit vor dem 1. Oktober 1979 für steuerliche Zwecke unabhängig davon habe festgestellt werden müssen, ob der Schwerbehinderte in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr tatsächlich erheblich beeinträchtigt gewesen sei. Durch die Regelung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF sei die Freifahrtsberechtigung, wie das Bundessozialgericht (BSG) inzwischen mehrfach entschieden habe, mit Wirkung ab 1. April 1984 in allen Fällen entfallen, in denen die Voraussetzungen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr tatsächlich nicht erfüllt seien. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" seien beim Kläger tatsächlich nicht gegeben.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er nimmt auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist erfolgreich. Die bisherigen Feststellungen genügen nicht, um den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger das Merkzeichen "G" über den 31. März 1984 hinaus zuzuerkennen.

Zutreffend hat das LSG eine Sachentscheidung getroffen. Eine Zulassung der Berufung in den Entscheidungsgründen reicht, sofern sie - wie hier durch das SG - eindeutig ausgesprochen worden ist, für die Statthaftigkeit der Berufung gemäß § 150 Nr 1 SGG aus (BSG vom 11. November 1987 - 9a RVs 7/86 - mwN).

Gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist in den rechtlichen Verhältnissen, die dem Bescheid vom 3. Februar 1978 - einem Bescheid mit Dauerwirkung, ergänzt durch die Bescheide vom 26. Februar 1982 und 22. März 1984 - zugrunde lagen, mit Wirkung ab 1. April 1984 eine wesentliche Änderung eingetreten. Sie besteht darin, daß die durch § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG idF der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 - BGBl I 1649 - begründete Vermutung, wonach Schwerbehinderte mit einer MdE von mindestens 80 vH als in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt galten, durch § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG idF des Art 20 Nr 2 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983 - BGBl I 1532 - mit Ablauf des 31. März 1984 beseitigt worden ist. Dazu bedurfte es, wie von den Vorinstanzen richtig gesehen und vom Senat mehrfach entschieden, keiner Umsetzung durch Verwaltungsakt; die früheren Bescheide verloren ihre Wirksamkeit vielmehr kraft Gesetzes (BSGE 58, 72 = SozR 3870 § 58 Nr 1; BSG vom 23. Oktober 1985 - 9a RVs 5/84 -). Dasselbe trifft entgegen der Ansicht der Vorinstanzen aber auch auf solche Bescheide zu, durch die Schwerbehinderten mit einer MdE von wenigstens 80 vH vor dem 1. Oktober 1979 das Merkmal "G" zugesprochen worden war. Diese Schwerbehinderten können nicht anders behandelt werden als vergleichbare Schwerbehinderte, denen das Merkzeichen "G" nach dem 1. Oktober 1979 zugebilligt worden ist. Dies verbietet sich ua deswegen, weil eine sachliche Prüfung in dem Sinne, ob die Voraussetzungen der tatsächlichen Bewegungsbehinderung gegeben waren, bereits längere Zeit vor dem 1. Oktober 1979 entfallen war. Das beruhte ursprünglich auf einer ministeriellen Weisung, die § 3 Abs 1 Nr 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz (KraftStG) vom 1. Dezember 1972 - BGBl I 2210 - für die Verwaltung verbindlich auslegte. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hatte darin angeordnet, Behinderte mit einer MdE um wenigstens 80 vH "in jedem Fall" als im Straßenverkehr erheblich bewegungsbehindert iS des § 3 Abs 1 Nr 2 KraftStG aF anzusehen (Rundschreiben vom 11. Juli 1975, BVBl 1975, 107 Nr 63). Die entsprechenden Bescheinigungen wurden von den Finanzbehörden anerkannt. Mit Wirkung ab 1. Juni 1979 wurde das Merkzeichen "G" für den genannten Personenkreis dann aufgrund des § 3 Nr 11 KraftStG idF der Bekanntmachung vom 1. Februar 1979 - BGBl I 132 - berücksichtigt. Seit dem 1. April 1984 ist für die Inanspruchnahme von Kraftfahrzeugsteuerermäßigung der Nachweis der tatsächlichen Bewegungsbehinderung erforderlich (§ 3a Abs 2 Satz 1 KraftStG idF des Art 10 Nr 2 des Steuerentlastungsgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983 - BGBl I 1583 -). Damit ist für Schwerbehinderte mit einer MdE um wenigstens 80 vH sowohl im Bereich der unentgeltlichen Personenbeförderung wie auf dem Gebiet der Kraftfahrzeugsteuerermäßigung eine unerwünschte Entwicklung rückgängig gemacht worden. Der gesetzliche Eingriff erfolgte unabhängig davon, ob das Merkzeichen "G" vor oder nach dem 1. Oktober 1979 zuerkannt worden war. Das alles hat der Senat - nach den Entscheidungen der Vorinstanzen - in mehreren Urteilen ausführlich dargelegt (BSGE 59, 242 = SozR 3870 § 3 Nr 20; BSG vom 26. Februar 1986 - 9a RVs 35, 41 und 50/85 -). Es besteht keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.

Das LSG hat nun aufzuklären, ob der Kläger tatsächlich erheblich bewegungsbehindert ist. Ebenso hat es über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

BSGE, 273

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