Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 15.05.1990)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 15. Mai 1990 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.

Die 1932 geborene Klägerin war von 1960 bis Anfang 1968 mit dem am 15. Juni 1985 verstorbenen F. F. … (im folgenden Versicherter) verheiratet. Aus der am 10. Januar 1968 aus Alleinverschulden des Versicherten geschiedenen Ehe ist der im Januar 1961 geborene Sohn H. … R. hervorgegangen. Der Versicherte war als Feinmechaniker in der Zeit von 1964 bis 1971 beschäftigt. Im Zeitpunkt der Scheidung bezog er kein versicherungspflichtiges Entgelt. Im Jahr vor der Scheidung verdiente er 12.572,24 DM brutto (monatlich 1.047,69 DM durchschnittlich). Seit Mai 1968 erzielte er wieder stetig Arbeitseinkommen (1968 monatlich durchschnittlich 1.048,69 DM). Seit 1973 war er bei einem neuen Arbeitgeber tätig. Sein Arbeitseinkommen stieg von 1972: 17.719,75 DM, auf 1973: 24.220,– DM. Seit November 1981 erhielt der Versicherte die Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er arbeitete bis zu seinem Tode bei seinem bisherigen Arbeitgeber halbtags. In der Zeit vom 1. Juni 1984 bis 31. Mai 1985 erzielte der Versicherte ein Nettoentgelt von 15.776,92 DM. Die Berufsunfähigkeitsrente betrug im Zeitpunkt seines Todes 1.053,83 DM netto einschließlich eines Kinderzuschusses in Höhe von 152,90 DM für den gemeinsamen Sohn R. …, der Student war. Die Klägerin war vor der Scheidung und bis zu dem Tode des Versicherten bei dem letzten Arbeitgeber des Versicherten beschäftigt. Im Zeitpunkt der Scheidung verdiente sie 911,92 DM brutto. Im Jahr vor dem Tode des Versicherten betrug ihr Nettoentgelt 22.058,67 DM.

Die Klägerin beantragte im Juli 1985 die Hinterbliebenenrente. Sie trug vor, der Versicherte habe seit Dezember 1976 monatlich 300,– DM Unterhalt gezahlt. Seit diesem Zeitpunkt habe sie auch mit ihm zusammengelebt. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 26. November 1985). Den Widerspruch, mit dem die Klägerin vortrug, der Versicherte habe seit seiner Arbeitsunfähigkeit monatlich 700,– DM freiwillig in bar gezahlt, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. September 1986 zurück.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage durch Urteil vom 4. März 1987 abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG das Urteil des SG und die vorgenannten Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. August 1985 die Hinterbliebenenrente aus der Versicherung des Versicherten zu zahlen. Das LSG ist davon ausgegangen, daß die Klägerin gegen den verstorbenen Versicherten jedenfalls einen Unterhaltsanspruch in ausreichender Höhe gehabt habe. Für den Unterhaltsanspruch seien die Einkommensverhältnisse im Zeitpunkt des Todes des Versicherten maßgebend. Die individuelle Einkommensentwicklung habe im wesentlichen der allgemeinen Entwicklung entsprochen. Der Verdienstausfall, den der Versicherte durch den Übergang zur Halbtagsbeschäftigung erlitten habe, sei durch die Berufsunfähigkeitsrente ausgeglichen worden. Die Klägerin habe allerdings keinen ausreichenden Unterhaltsanspruch gehabt, wenn man den Unterhaltsanspruch nach der vom Bundessozialgericht (BSG) bisher zugrunde gelegten Anrechnungsmethode berechne (Gesamteinkommen in der Zeit vom 1. Juni 1984 bis 31. Mai 1985: 48.646,75 DM; hiervon 3/7: 20.848,61 DM; Nettoeinkommen der Klägerin 22.058,67 DM). Der Unterhaltsanspruch sei aber nicht nach der Anrechnungsmethode, sondern nach der Differenzmethode zu ermitteln. Die Einkommensdifferenz zwischen dem Einkommen des Versicherten (26.588,08 DM) und dem Einkommen der Klägerin (22.058,67 DM) habe 4.529,41 DM betragen. Die Klägerin habe nach der Differenzmethode berechnet, einen Unterhaltsanspruch von 163,76 DM bzw 150,98 DM monatlich gehabt (3/7 bzw 2/5 der Differenz). Der Sozialhilfesatz habe in Hamburg damals 363,– DM monatlich betragen. Der Differenzmethode für die Berechnung des Unterhaltsanspruchs sei der Vorzug zu geben, da diese Methode sich in der zivilgerichtlichen Praxis durchgesetzt habe. Der Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den Versicherten habe auch nicht durch das Zusammenleben untergehen können.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision gegen dieses Urteil rügt die Beklagte die Verletzung des § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO. Sie beruft sich darauf, daß der erkennende Senat noch mit Urteil vom 13. September 1990 (5 RJ 52/89 = SozR 3 – 2200 § 1265 Nr 4) den Unterhaltsanspruch nach dem Ehegesetz (EheG) in den Fällen der sog Doppelverdienerehen nach der Anrechnungsmethode ermittelt hat.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 4. März 1987 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Revisionsklägerin vom 26. November 1990 zurückzuweisen.

Sie beruft sich darauf, daß die Differenzmethode in Fällen wie dem vorliegenden inzwischen in der Zivilrechtsprechung durchweg angewandt würde.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist iS der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung durch das LSG begründet. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung über den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nicht aus.

Der geltend gemachte Hinterbliebenenrentenanspruch richtet sich nach § 1265 RVO, denn die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten ist vor dem 1. Juli 1977 geschieden worden. Nach Abs 1 Satz 1 dieser Vorschrift hat die frühere Ehefrau eines Versicherten Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte, oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Ein Unterhaltsanspruch aus sonstigen Gründen im Sinne dieser Vorschriftbestand nicht. Zu Unrecht ist das LSG auch davon ausgegangen, daß die Klägerin nach dem EheG im Zeitpunkt des Todes des Versicherten einen ausreichend hohen Unterhaltsanspruch gegen diesen gehabt habe. Nach den Vorschriften des EheG hatte die Klägerin keinen Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten.

Nicht zu beanstanden ist zunächst, daß das LSG für die Feststellung dieses Unterhaltsanspruchs, der sich aus § 58 EheG ergeben könnte, die Einkommensverhältnisse zugrunde gelegt hat, wie sie im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten bestanden haben. Das LSG hat festgestellt, daß der Versicherte und die Klägerin bis zum Tode des Versicherten jeweils in dem Beruf tätig waren, in dem sie schon im Zeitpunkt der Scheidung tätig waren und die individuelle Einkommensentwicklung der allgemeinen Einkommensentwicklung entsprochen hat. Auch ist nicht zu beanstanden, daß das LSG als Einkommen des Versicherten sowohl das Einkommen aus Erwerbstätigkeit als auch die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (letztere nach Abzug des Kinderzuschusses) zugrunde gelegt hat. Durch die volle Berücksichtigung der Einkünfte des Versicherten ist die Klägerin jedenfalls nicht beschwert. Das LSG ist auch zu Recht davon ausgegangen, daß hier der Fall einer Doppelverdienerehe (Erwerbstätigkeit der Ehegatten im Zeitpunkt der Scheidung und zumutbare Erwerbstätigkeit der Klägerin und des Versicherten im Zeitpunkt des Todes des Versicherten) gegeben gewesen ist.

Ein möglicher Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den Versicherten im Rahmen von § 1265 RVO ist in diesem Fall aber nach der Anrechnungsmethode und nicht nach der vom LSG zugrunde gelegten Differenzmethode zu berechnen. Der Senat hat in seinem Urteil vom 13. September 1990 (SozR 3-2200 § 1265 Nr 4) an der Berechnung des Unterhaltsanspruchs nach der Anrechnungsmethode im Fall der sog. Doppelverdienerehe festgehalten. Es hat bereits in diesem Urteil darauf hingewiesen, daß es keine zwingenden sachlichen Argumente gibt, weshalb die eine oder die andere Methode vorzuziehen ist. Er sieht auch weiterhin keine Veranlassung, von der Anrechnungsmethode abzuweichen. Die Unterhaltsberechnung nach der Anrechnungsmethode ist vom BSG seit Beginn seiner Rechtsprechung zugrunde gelegt worden (vgl zB BSG SozR Nr 16 zu § 1265 RVO). Der Senat verkennt nicht, daß inzwischen in der Zivilrechtsprechung in Fällen wie dem vorliegenden die Differenzmethode ganz allgemein für die Berechnung der Höhe des Unterhaltsanspruchs zugrunde gelegt wird und das BSG erwogen hat, auch diese Berechnungsmethode anzuwenden (vgl BSG Urteil vom 13. August 1981 – SozR 2200 § 1265 Nr 56 und Senatsurteil vom 6. Juni 1986 – SozR aaO Nr 79). Angesichts der Kontinuität der Rechtsprechung des BSG und der darauf beruhenden Verwaltungspraxis der Versicherungsträger sieht der Senat allein in der abweichenden zivilgerichtlichen Praxis aber keine hinreichende Begründung, von der bisherigen Rechtsprechung des BSG abzuweichen. Dabei berücksichtigt der Senat auch, daß die Versicherungsträger bzw die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit einen Unterhaltsanspruch regelmäßig nur dann berechnen müssen, wenn ein Unterhaltsanspruch gegen den verstorbenen Versicherten nicht (mehr) realisiert worden ist. D.h. es wird im allgemeinen keine Diskrepanz auftreten zwischen einem durch Urteil eines Zivilgerichts nunmehr in der Regel nach der Differenzmethode festgestellten Unterhaltsanspruch, der noch bis zum Tode des Versicherten erfüllt worden ist und einem erst nach dem Tode des Versicherten durch den Versicherungsträger bzw die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nach der Anrechnungsmethode (fiktiv) festzustellenden Unterhaltsanspruch für die Zeit vor dessen Tode. Darüber hinaus gewährleistet aber auch allein die Berechnung des Unterhaltsanspruchs nach der Anrechnungsmethode, daß die Fälle, in denen ein Unterhaltsverzicht im Rahmen des § 1265 Abs 2 Satz 1 RVO unbeachtlich sein kann, einheitlich beurteilt werden. Da nach der Rechtsprechung ein Unterhaltsverzicht – wie er zB in Scheidungsverfahren bei Sachverhalten wie dem vorliegenden häufig erklärt worden ist – nur dann unbeachtlich ist, wenn im Zeitpunkt der Scheidung und im Zeitpunkt des Todes des Versicherten kein sozialrechtlich relevanter Unterhaltsanspruch bestanden hat (vgl BSG SozR 2200 § 1265 Nr 93 und SozR 3-2200 § 1265 Nr 4), ist es naheliegend, den möglichen Unterhaltsanspruch für diese beiden Zeitpunkte nach einheitlichen Kriterien zu bestimmen. Dafür bietet sich aber allein die Anrechnungsmethode an, die bisher vom BSG stets zugrunde gelegt worden ist, denn der Zeitpunkt der Scheidung muß jedenfalls vor dem 1. Juli 1977 (dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des 2. Ehereformgesetzes) gelegen haben und wird häufig sehr viel länger zurückliegen. Im Zeitpunkt der Scheidung wird deshalb die Frage, ob ein Unterhaltsanspruch aktuell oder in Zukunft überhaupt in Betracht kommen könnte, regelmäßig ausgehend von der Anrechnungsmethode beurteilt worden sein. Vor 1980 ist nämlich die Anrechnungsmethode für die Unterhaltsberechnung in der Rechtsprechung des BSG jedenfalls noch nicht in Zweifel gezogen worden. Dies ist erstmals in dem von der Klägerin zitierten Urteil vom 13. August 1981 (BSG SozR 2200 § 1265 Nr 56) geschehen.

Nach der Anrechnungsmethode berechnet, hatte die Klägerin – wie das LSG zutreffend ausgeführt hat – im Zeitpunkt des Todes des Versicherten keinen Unterhaltsanspruch, denn das Einkommen der Klägerin war mit 22.058,67 DM höher als 3/7 der Einkünfte der Klägerin und des Versicherten zusammen (48.646,75 DM).

Die vom LSG getroffenen Feststellungen lassen auch nicht die Entscheidung zu, daß aus anderen Gründen ein höherer Unterhaltsanspruch der Klägerin bestanden hat. Das LSG hat zwar zu Recht darauf abgestellt, daß ein möglicher Unterhaltsanspruch der Klägerin nach § 58 EheG nicht dadurch ausgeschlossen ist, daß die Klägerin mit dem Versicherten seit 1976 wieder zusammenlebte. Andererseits ist ein Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den Versicherten nach dem EheG aufgrund des Zusammenlebens auch nicht etwa höher anzusetzen, als er bei getrennt lebenden geschiedenen Ehegatten anzusetzen wäre.

Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat gleichwohl nicht möglich, da das LSG, von seinem Standpunkt aus zu Recht, keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob der Versicherte an die Klägerin im Sinne der letzten Alternative des § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO – tatsächlich – Unterhalt gezahlt hat. Ob die Geldzahlungen, die der Versicherte möglicherweise an die Klägerin erbracht hat, als Unterhalt anzusehen sind oder als Leistungen zur gemeinsamen Haushaltsführung der zusammenlebenden früheren Ehegatten, die insoweit kein Unterhalt wären (vgl dazu zuletzt BSG-Urteil vom 25. Juni 1986 – 4a RJ 43/85 – unter Hinweis auf BSGE 19, 185 = SozR Nr 13 zu § 1265 RVO), wird das LSG bei seiner erneuten Entscheidung zu prüfen haben.

Das LSG wird ggf auch Feststellungen treffen müssen zur Frage, ob der Anspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO begründet sein kann.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

NJW 1992, 1254

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