Entscheidungsstichwort (Thema)

Entscheidung des Versicherungsträgers über Zinsanspruch von Amts wegen. Einbeziehung der Entscheidung in Berufungsverfahren. Verletzung des rechtlichen Gehörs

 

Orientierungssatz

1. Der Versicherungsträger hat nach dem Wortlaut des SGB 1 § 44 über einen etwaigen Zinsanspruch des Leistungsempfängers auch ohne besonderen Antrag von Amts wegen zu entscheiden, was der Rechtsnatur der Zinsen als akzessorische Nebenleistung entspricht.

2. Das LSG verletzt den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (SGG §§ 62, 128 Abs 2), wenn es den Kläger nicht auf die Einbeziehung eines Bescheides des Versicherungsträgers (SGG § 96 Abs 1) in das Berufungsverfahren hinweist.

 

Normenkette

SGG § 96 Abs 1 Fassung: 1953-09-03, § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs 2 Fassung: 1953-09-03; SGB 1 § 44 Fassung: 1975-12-11

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 28.05.1979; Aktenzeichen L 9 J 696/78)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 28.03.1978; Aktenzeichen S 7 J 1215/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten in der Revisionsinstanz darüber, ob die Beklagte eine der Klägerin zuerkannte Rentennachzahlung für die Zeit vom 1. Januar 1978 an zu verzinsen hat.

Die am 10. Oktober 1917 geborene Klägerin, die bis 1936 in Deutschland gelebt und Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter (ArV) entrichtet hatte, wanderte danach als Verfolgte des Nationalsozialismus nach Argentinien aus, wo sie auch jetzt noch lebt. Mit dem am 30. Mai 1975 bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) eingegangenen Schreiben vom 28. Mai 1975 beantragte sie die Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen. Mit dem am 31. Mai 1975 bei der BfA eingegangenen Schreiben vom selben Tage beantragte sie die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) oder Berufsunfähigkeit (BU).

Nachdem die Klägerin erklärt hatte, zunächst solle der Rentenantrag mit den nachgewiesenen Zeiten bearbeitet und erledigt werden, gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 11. März 1977 die Versichertenrente wegen EU für die Zeit vom 1. Mai 1975 an. Als Eintritt des Versicherungsfalles wurde der 28. Januar 1975 angenommen.

Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage machte die Klägerin zunächst mit Rücksicht auf ihren Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen geltend, der Versicherungsfall sei entweder auf den 31. Mai 1975 (Tag der Rentenbeantragung) oder längere Jahre vorher (spätestens Ende Januar 1972) festzustellen. Nachdem die Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz mit Bescheid vom 14. Februar 1978 die Nachentrichtung von Beiträgen zugelassen hatte, machte die Klägerin mit der Klage einen Anspruch auf eine höhere Rente für die Zeit vom 1. Juli 1975 an geltend.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 28. März 1978 die Klage als unzulässig abgewiesen. Mit der Berufung machte die Klägerin zunächst einen Anspruch auf eine höhere Rente unter Berücksichtigung der nachentrichteten Beiträge mit der Begründung geltend, der Versicherungsfall sei entweder vor dem 1. Februar 1972 oder nach der Beitragsentrichtung (28. Mai 1975) eingetreten. Während des Berufungsverfahrens stellte die Beklagte mit Bescheid vom 13. November 1978 die Versichertenrente wegen EU für die Zeit vom 1. Juli 1975 an unter Berücksichtigung der nachentrichteten Beiträge neu fest. Als Versicherungsfall legte sie den 30. Juni 1975 zugrunde. Die Nachzahlung in Höhe von 24.736,80 DM behielt sie vorsorglich zur Befriedigung von Ersatzansprüchen ein. Daraufhin machte die Klägerin in der Berufungsinstanz geltend, ihr stehe die höhere Rente auch für den Monat Juni 1975 zu.

Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 28. Mai 1979 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Klage gegen den Bescheid vom 3. November 1978 (richtig 13. November 1978) abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Berufung sei nicht nach § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen, denn das Begehren der Klägerin sei nicht auf eine Vorverlegung des Rentenbeginns, sondern auf die Feststellung eines bestimmten Zeitpunkts als Eintritt des Versicherungsfalles gerichtet. Die Berufung sei jedoch unbegründet, denn das SG habe die Klage im Ergebnis mit Recht als unzulässig abgewiesen. Es handele sich um eine Feststellungsklage über einzelne Elemente oder Vorfragen eines Rechtsverhältnisses, die nicht zulässig sei. Das SG habe die Klageänderung, mit der die Klägerin eine höhere Rente geltend machte, zutreffend als nicht sachdienlich angesehen. Der Bescheid der Beklagten vom 13. November 1978 sei nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Der Bescheid sei jedoch rechtmäßig, denn der Klägerin stehe für den Monat Juni 1975 eine höhere Rente nicht zu. Der Versicherungsfall der EU sei weder vor dem 1. Februar 1972 noch genau am 31. Mai 1975 eingetreten. Die Klägerin sei bis etwa in das Jahr 1973 hinein nicht daran gehindert gewesen, leichte Arbeiten halbschichtig zu verrichten. Sie sei bis dahin nicht erwerbsunfähig gewesen, denn der Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland sei ihr damals nicht verschlossen gewesen. Die zur EU führende Beschränkung der Leistungsfähigkeit auf drei bis vier Stunden täglich sei auch nicht plötzlich am 31. Mai 1975, sondern vorher eingetreten. Die Klägerin könne auch nicht mit ihrer - vor dem SG noch anhängigen - Klage auf Zahlung von Zinsen auf die geschuldeten Geldleistungen Erfolg haben. Auch insoweit sei zwar der Anspruch nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens vor dem Berufungsgericht geworden. Nach § 44 Abs 2 des Allgemeinen Teils zum Sozialgesetzbuch (SGB 1) beginne die Verzinsung frühestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags beim zuständigen Leistungsträger. Diese Frist habe erst mit Vorliegen des Verwendungsnachweises vom 10. Juli 1978 beginnen können. Noch vor Ablauf der Frist von sechs Monaten sei die Nachzahlung dem Bevollmächtigten der Klägerin überwiesen worden.

Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision angefochten. Sie macht geltend, das Berufungsurteil beruhe auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, denn es habe den Bescheid der Beklagten vom 13. November 1978 in das Verfahren einbezogen, ohne die Klägerin vorher darauf hinzuweisen. Sie habe keine Gelegenheit gehabt, vor dem Berufungsgericht zur Rechtmäßigkeit dieses Bescheides Stellung zu nehmen. Die Beitragsnachentrichtung gelte als im Mai 1975 durchgeführt. Es könne der Klägerin nicht zur Last gelegt werden, daß über ihren Antrag auf Beitragsnachentrichtung erst im Februar 1978 entschieden worden sei. Die Leistungen seien daher vom 1. Januar 1978 an zu verzinsen. Im übrigen müßten der Beklagten die außergerichtlichen Kosten insoweit auferlegt werden, als der Bescheid vom 13. November 1978 hinsichtlich der Einbehaltung der Nachzahlung angefochten worden sei.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die

Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom

13. November 1978 zu verurteilen, die geschuldeten

Geldleistungen vom 1. Januar 1978 an zu verzinsen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Klägerin sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die Klägerin hat das Berufungsurteil nicht angefochten, soweit es über das Begehren der Klägerin auf Feststellung eines anderen Zeitpunkts des Eintritts des Versicherungsfalles und über den Anspruch auf eine höhere Rente für den Monat Juni 1975 entschieden hat. Mit der Revision macht die Klägerin lediglich einen Anspruch auf Zinsen auf die geschuldeten Geldleistungen für die Zeit vom 1. Januar 1978 an geltend. Die darauf beschränkte Revision der Klägerin ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird.

Der Bescheid der Beklagten vom 13. November 1978 hat den früheren Bescheid vom 11. März 1977 aufgehoben und ersetzt, so daß er gemäß den §§ 96, 153 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist. Dieser Bescheid enthält zwar keine ausdrückliche Entscheidung über einen gemäß Art II § 23 Abs 2 SGB 1 erst ab 1. Januar 1978 in Betracht kommenden Zinsanspruch der Klägerin. Der Versicherungsträger hat indes nach dem Wortlaut des § 44 SGB 1 über einen etwaigen Zinsanspruch des Leistungsempfängers auch ohne besonderen Antrag von Amts wegen zu entscheiden, was der Rechtsnatur der Zinsen als akzessorische Nebenleistung entspricht (vgl Kommentar zum Recht der Gesetzlichen Rentenversicherung, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Anm 9 zu § 44 SGB 1). Es muß daher davon ausgegangen werden, daß die Beklagte im Bescheid vom 13. November 1978 einen Zinsanspruch der Klägerin mangels eines dahingehenden positiven Ausspruchs abgelehnt hat. Dies ist offenbar auch die Auffassung der Beklagten selbst, wie sich aus ihrer materiellen Einlassung zum Zinsanspruch aufgrund der vor dem SG Stuttgart unter dem Aktenzeichen S 7 J 2941/78 erhobenen Klage gegen den Bescheid vom 13. November 1978 ergibt.

Dem LSG ist auch insoweit zu folgen, als es - zwar ohne nähere Begründung - angenommen hat, daß die negative Entscheidung über den Zinsanspruch im Bescheid vom 13. November 1978 Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist. Insoweit scheidet zwar im Hinblick auf die erst mit Wirkung vom 1. Januar 1978 anwendbare Verzinsungsvorschrift des § 44 SGB 1 eine Abänderung oder Ersetzung des ursprünglich angefochtenen Bescheides vom 11. März 1977 aus. Gleichwohl ist hier § 96 Abs 1 SGG entsprechend anzuwenden, weil der die Ablehnung des Zinsanspruchs betreffende Teil des Bescheides vom 13. November 1978 den Streitstoff des bereits anhängigen Rechtsstreits berührt und der Grundgedanke der genannten Vorschrift - eine sinnvolle Prozeßökonomie - die Einbeziehung auch dieses Teils des neuen Verwaltungsaktes rechtfertigt (vgl BSG in SozR 1500 § 96 Nr 13 mit weiteren Nachweisen).

Die Klägerin macht indes mit Recht geltend, das LSG habe den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§§ 62, 128 Abs 2 SGG) dadurch verletzt, daß es die Klägerin nicht auf die Einbeziehung des Bescheides der Beklagten vom 13. November 1978 in das Berufungsverfahren hingewiesen hat. Angesichts der Rechtsmittelbelehrung in diesem Bescheid und der daraufhin erfolgten besonderen Klageerhebung in dem bereits genannten anderen Verfahren vor dem SG brauchte die Klägerin nicht ohne einen besonderen Hinweis des Berufungsgerichts damit zu rechnen, daß das LSG über die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides und damit auch über den nunmehr allein noch streitigen Zinsanspruch entscheiden würde. Da die Klägerin lediglich in jenem anderen Verfahren vor dem SG eine Verzinsung der geschuldeten Geldleistungen begehrt hatte, fehlte es insoweit ohne das - unterbliebene - Hinwirken auf eine ergänzende Antragstellung (vgl § 112 Abs 2 SGG) auch an einem im Berufungsverfahren von der Klägerin geltend gemachten Anspruch, über den das LSG gemäß § 123 SGG hätte entscheiden können.

Auf den vorliegenden Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs kann das angefochtene Urteil auch beruhen, weil die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß das LSG hinsichtlich des noch streitigen Zinsanspruchs anders entschieden hätte, wenn die Klägerin nach dem gebotenen Hinweis auf die Einbeziehung des Bescheides vom 13. November 1978 in das Berufungsverfahren Ausführungen zur Rechtmäßigkeit der Ablehnung einer Verzinsung der geschuldeten Geldleistungen gemacht hätte. Der aufgezeigte Verfahrensmangel muß gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG zur Zurückverweisung des Rechtsstreits und zur erneuten Entscheidung des LSG über den Zinsanspruch schon deswegen führen, weil insoweit der erkennende Senat als Revisionsgericht das tatsächliche Vorbringen der Klägerin nicht berücksichtigen darf.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666146

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