Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch auf die höhere Witwenrente wegen Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes entfällt - abweichend vom Regelfall - nicht bei Eintritt seiner Volljährigkeit, wenn es wegen Geistesschwäche ständig der erzieherischen Tätigkeit durch die Witwe bedarf und sie sich dieser Aufgabe fortwährend widmet (Ergänzung zu BSG 1967-08-30 4 RJ 43/67 = BSGE 27, 139).

 

Normenkette

RVO § 1268 Abs. 2 S. 1 Nr. 2

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. April 1973 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Klägerin war die erhöhte Witwenrente (§ 1268 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) bewilligt worden. Sie war noch nicht 45 Jahre alt, hatte sich aber um eine Tochter zu kümmern, die wegen angeborenen Schwachsinns mittleren Grades (Imbezillität) nicht, auf sich selbst gestellt, bestehen konnte. Das Kind lebte bei der Mutter und wurde im übrigen in einer beschützenden Werkstatt betreut. Nachdem es das 21. Lebensjahr vollendet hatte, wandelte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) die Witwenrente in die niedrigere Stufe nach § 1268 Abs. 1 RVO um; sie erklärte, die Pflicht der Klägerin das Kind zu erziehen, habe mit Eintritt von dessen Volljährigkeit an geendet (Bescheid der Beklagten vom 11. Dezember 1970).

Mit der Klage verfolgt die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur höheren Leistung für die Zeit vom 1. Januar 1971 bis 31. März 1972. - Im März 1972 hatte die Klägerin das 45. Lebensjahr zurückgelegt. Von da an gestand ihr die Beklagte auch die erhöhte Hinterbliebenenrente wieder zu. - Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen; das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Auch die Vorinstanzen gehen davon aus, daß das elterliche Erziehungsrecht nur solange dauere, wie das Kind minderjährig sei (§ 1626, § 1631 Abs. 1 iVm § 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Daran ändere nichts, daß noch nachher für das Kind hätte gesorgt werden müssen und ihm Unterhalt zu gewähren gewesen sei.

Die Klägerin hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Sie beantragt, die vorinstanzlichen Urteile sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. Dezember 1970 aufzuheben und die Beklagte zur Leistung der erhöhten Witwenrente für die fragliche Zeit zu verurteilen. Sie weist darauf hin, daß § 1268 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 RVO das Lebensalter der Waisen nicht begrenzt, sondern lediglich von deren Erziehung spricht. Dieser Tatbestand sei - meint sie - stets gegeben, wenn es dem Erziehungsberechtigten nach familienrechtlicher Ordnung obliege, auf die geistige, seelische und körperliche Entwicklung des Kindes einzuwirken, seine Eingliederung in die menschliche Lebenswelt vorzubereiten und zu unterstützen und die Entfaltung zur eigenen Persönlichkeit zu fördern. Von dieser Verantwortung sei die Klägerin auch gegenüber ihrer erwachsenen Tochter nicht entbunden gewesen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision hat Erfolg.

Dem Anspruch der Klägerin auf Erhöhung der Witwenrente (§ 1268 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 RVO) steht - ausnahmsweise - nicht entgegen, daß das waisenrentenberechtigte Kind, dessen Erziehung die Klägerin sich annimmt, das 21. Lebensjahr vollendet hat.

Dieses Ergebnis ist indessen ungewöhnlich. Regelmäßig enden Recht und Pflicht der Eltern zur Erziehung ihres Kindes mit Eintritt seiner Volljährigkeit (§§ 2, 1626, 1631 Abs. 1 BGB; dazu BSG 27, 139, 140). Erlischt so der Erziehungsauftrag, wenn die Erziehung als solche nicht tatsächlich schon vorher abgeschlossen war, so entfällt auch das Recht der Witwe auf die gesteigerte Rentenleistung. Diese Leistung steht der Witwe nur "solange" (§ 1268 Abs. 2 Nr. 2 RVO) zu, wie sie die Erziehung ausübt und auszuüben befugt ist. Diese Befugnis reicht nach bürgerlichem Recht auch dann nicht über das Mündigkeitsalter hinaus, wenn für die Erziehung eines jungen Menschen nach seiner körperlichen, geistigen und sittlichen Entwicklung noch weiterhin ein Bedürfnis besteht. Ist der junge Mensch nach erreichter Volljährigkeit noch schutzbedürftig, z.B. geistesschwach, so ist eine Vormundschaft oder Pflegschaft einzuleiten. Die Eltern haben dann das Recht, den Vormund zu benennen (§ 1776 BGB); sie sind auch in erster Linie als Vormund berufen (§ 1899 Abs. 1 BGB). Der Vormund hat aber im allgemeinen den volljährigen Mündel nicht zu erziehen, sondern lediglich zu betreuen (Staudinger/Engler. Kommentar zum BGB, 10./11. Aufl., § 1901 Rdnr. 3). Erzieherische Aufgaben hat der Vormund nur wahrzunehmen, wenn diese zur Bekämpfung derjenigen Mängel nötig sind, die zur Entmündigung führten (Erman/Hefermehl, BGB, Handkommentar, 5. Aufl., 2. Band, Bemerkung 1 zu § 1901).

An einen Tatbestand dieser Art ist hier zu denken. Jedoch ist nicht festgestellt, daß die Klägerin für ihr schwachsinniges Kind als Vormund bestellt worden war oder daß über die Tochter überhaupt eine Vormundschaft oder Pflegschaft bestand. Sollte - wie es den Anschein hat - eine solche Anordnung nicht getroffen worden sein, so wäre gleichwohl die Tatsache zu respektieren, daß die Klägerin sich der Erziehung ihres Kindes gewidmet haben kann. Sie hätte damit - bis zur Bestellung eines Vormundes - ihre natürliche Aufgabe als Mutter erfüllt (vgl. auch Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes - GG -). Obgleich sie dies jenseits der zeitlichen Grenze getan hätte, die bürgerlich-rechtlich der elterlichen Personensorge und Erziehungsfunktion gezogen ist, könnte daran das Recht der sozialen Rentenversicherung nicht achtlos vorbeigehen. Der Zweck, den das Gesetz mit Gewährleistung der - wegen Kindererziehung - angehobenen Witwenrente verfolgt, verlangt die Anwendung des § 1268 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 RVO auf den Fall, daß eine Witwe für die Erziehung ihres auf ihre dauernde Anleitung angewiesenen geistesschwachen Kindes ständig Kraft und Zeit aufwendet. Die Witwe soll sich ohne Existenzsorgen ihrer Verantwortung als Mutter zuwenden können; daran soll sie möglichst nicht durch Lohnarbeit und Beschaffung der Unterhaltsmittel gehindert werden (BSG 27, 141; 32, 117).

Es bestehen keine Bedenken dagegen, den Erziehungsbegriff des § 1268 Abs. 2 Nr. 2 RVO auf den gegenwärtigen Sachverhalt zu erstrecken. Freilich sind der Erziehung dieses herangewachsenen, aber geistesschwachen Mädchens enge Grenzen gesetzt. Die Erziehung vermag nicht der geordneten Entwicklung dieses Menschen zu einer selbständigen Persönlichkeit zu dienen. Aber der Mutter obliegt es, die vorhandenen Reaktionsbereitschaften zu entfalten, das dem Mädchen gegebene Maß von Intelligenz zu nutzen, sein elementarstes Wissen zu fördern und zu erhalten und es zu einfachen, seinen Kräften angepaßten Arbeiten anzuhalten. Diese Aufgaben erschöpfen sich nicht in einer Beaufsichtigung oder Pflege des Kindes, sondern fallen unter den Begriff der Erziehung.

Hiernach kann der Tatbestand des § 1268 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 RVO erfüllt sein. Abschließend vermag der Senat dies jedoch nicht zu beurteilen, weil des Berufungsgericht - von seiner anderen Rechtsauffassung her zu Recht - die Einzelheiten, den Umfang und die Regelmäßigkeit der Erziehungstätigkeit der Klägerin nicht festgestellt und auch nicht geklärt hat, ob und inwieweit in dieser Beziehung das Wirken der Klägerin durch eine Vormundschaft eingeschränkt oder geboten war. Damit der Sachverhalt insoweit noch näher ermittelt werden kann, ist das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Dem Berufungsgericht bleibt die Kostenentscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 44

NJW 1975, 359

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