Entscheidungsstichwort (Thema)

Verwendung als Kriegsgerät oder Kampfmittel. kriegerischer Vorgang

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage von schädigenden Auswirkungen einer Lost-Giftgasvergiftung als Nachwirkung kriegerischer Vorgänge (§ 5 Abs 1 Buchst e BVG).

 

Orientierungssatz

Die Lagerung und Erprobung von für den Kriegseinsatz geeigneten Geräten und Mitteln kann nicht schon das Tatbestandsmerkmal des kriegerischen Vorgangs erfüllen. Zwar mag die von der Rechtsprechung gebrauchte Formulierung der Verwendung als Kriegsgerät oder Kampfmittel nicht so eng verstanden werden, daß der einzelne Gegenstand bereits im Kampf eingesetzt worden sein müßte, zumal sich zB bei liegengebliebener Munition kaum feststellen läßt, in welchem Stadium des Einsatzes sie sich befunden hat. Erforderlich ist aber, daß das Kriegsgerät oder Kampfmittel von der militärischen Führung allgemein zum Einsatz im Kriege bestimmt war und nur das Ende der Kampfhandlungen seinen tatsächlichen Einsatz verhinderte.

 

Normenkette

BVG § 5 Abs 1 Buchst e

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 04.09.1984; Aktenzeichen L 6 V 86/84)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 22.03.1984; Aktenzeichen S 12 V 335/82)

 

Tatbestand

Streitig ist ein Versorgungsanspruch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der im September 1933 geborene Kläger suchte mit Freunden am 17. Oktober 1948 auf einer Anlage des Truppenübungsplatzes M.-N. nach Altmetall. Dabei zog er sich eine Vergiftung durch Lost-Giftgas zu, weswegen er anschließend eine Woche stationär behandelt wurde. Die Anlage hatte vor dem ersten und vor dem zweiten Weltkrieg als Versuchsgelände für den Einsatz von Giftgas gedient. Im Oktober 1948 verwalteten britische Truppen das Gelände; von ihnen waren im Jahre 1947 die auf der Anlage befindlichen Bunker gesprengt und die dort gelagerten Giftfässer vergraben worden.

Auf den im Januar 1979 gestellten Antrag ließ der Beklagte den Kläger zunächst von dem Internisten Prof. Dr. R. untersuchen und begutachten. Dieser stellte eine "chronische obstruktive Emphysembronchitis" fest, die sich seit 1961 progredient entwickelt habe und deren wesentliche Teilursache die Lostvergiftung sei; er schätzte die dadurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 40 vH seit dem Untersuchungstag (20. Februar 1981) sowie auf 30 vH für die vorangegangene Zeit.

Das beklagte Land lehnte den Antrag des Klägers ab, weil dessen Gesundheitsstörungen nicht durch nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge verursacht worden seien (Bescheid des Versorgungsamtes vom 8. Juli 1982 und Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes vom 30. September 1982).

Das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen hat den Beklagten unter Aufhebung dieser Bescheide verpflichtet, "chronische obstruktive Emphysembronchitis" als Schädigungsfolge anzuerkennen und Rente nach einer MdE um 30 vH ab 1. Juni 1979 und um 40 vH ab 1. Februar 1981 zu zahlen (Urteil vom 22. März 1984). Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat dieses Urteil auf die Berufung des Beklagten aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat im angefochtenen Urteil vom 4. September 1984 ausgeführt: Der Kläger sei nicht Opfer nachträglicher Auswirkungen kriegerischer Vorgänge im Sinne von § 5 Abs 1 Buchst e BVG geworden, als er sich die Lost-Vergiftung zugezogen habe. Das Giftgas Lost sei im zweiten Weltkrieg nicht zur Anwendung gelangt. Die Aufbewahrung von Kampfstoffen auf Fabrikations- oder Erprobungsgeländen stelle keinen kriegerischen Vorgang dar, weil es an der bestimmungsgemäßen Verwendung für den Kampf fehle. Gleiches gelte für die nach dem zweiten Weltkrieg durchgeführten Vergrabungen der Giftvorräte und Sprengungen auf der Anlage des Truppenübungsplatzes. Schließlich habe auch nicht festgestellt werden können, daß durch einen Bombenangriff Gas freigesetzt worden sei; vielmehr hätten gerade wegen der Giftvorräte keine Angriffe auf dieses Gelände stattgefunden.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision macht der Kläger geltend, Lost sei ebenso einem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich zuzurechnen wie ein Sprengkörper, der noch explodieren könne. Für das Merkmal des kriegerischen Vorgangs genüge es, daß das Giftgas zur Vorbereitung von Kampfhandlungen bereitgestanden habe; es spiele keine entscheidende Rolle, daß es nicht eingesetzt worden sei. Auch die nach Kriegsende durchgeführten Vergrabungen hätten die Verbindung mit dem Kriegsgeschehen nicht gelöst. Das Gift habe eine für Kriegsverhältnisse typische Lage verursacht und fortbestehen lassen, da die Verseuchung des Geländes zum Teil auf das unsachgemäße Vergraben durch die Besatzungsmacht zurückzuführen sei.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. September 1984 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 22. März 1984 kostenpflichtig zurückzuweisen; hilfsweise, die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Zutreffend hat das LSG entschieden, daß dem Kläger kein Anspruch auf Versorgung zusteht.

Nach § 1 Abs 1 iVm Abs 2 Buchst a BVG erhält ua derjenige, der durch unmittelbare Kriegseinwirkung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen deren gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Versorgung. Als unmittelbare Kriegseinwirkung gelten - im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege - auch "nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben" (§ 5 Abs 1 Buchst e BVG).

Die Vorschrift erfaßt insbesondere Schädigungen, die erst in mehr oder minder langem zeitlichen Abstand zu einem kriegerischen Geschehen eingetreten sind, mit diesem aber in ursächlichem Zusammenhang stehen (vgl Allgemeine Verwaltungsvorschriften zum BVG - VV - vom 26. Juni 1969, Beilage Nr 15/69 zum BAnz Nr 119, Nr 5 zu § 5). Im einzelnen normiert § 5 Abs 1 Buchst e BVG eine Kausalkette: Vorausgesetzt wird ein kriegerischer Vorgang; dieser muß einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben, als dessen Auswirkung dann das schädigende Ereignis - Gesundheitsstörung (vgl § 1 Abs 3 BVG) - eingetreten ist.

Im vorliegenden Rechtsstreit ist zwar aufgrund der unangegriffenen und daher den Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des LSG davon auszugehen, daß die Lost-Vergiftung, die sich der Kläger im Oktober 1948 zuzog, mit Wahrscheinlichkeit die chronische Emphysembronchitis mit einer MdE von derzeit 40 vH wesentlich verursacht hat. Indessen betrifft diese Aussage nur das letzte Glied der Ursachenreihe; ihr käme erst und nur dann Bedeutung zu, wenn die logisch vorrangigen und nach dem Geschehensablauf früher einzuordnenden spezifischen Tatbestandsmerkmale des § 5 Abs 1 Buchst e BVG erfüllt wären.

Zutreffend hat das Berufungsgericht erkannt, daß es im vorliegenden Fall bereits an einem die Ursachenkette auslösenden "kriegerischen Vorgang" fehlt. Wenn als unmittelbare Kriegseinwirkung auch nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge gelten, so bezieht sich dies nach der Rechtsprechung jedoch auf "Mittel der Kriegführung" (BSGE 4, 230, 232), auf Gegenstände, "die bei Kampfhandlungen im letzten Weltkrieg verwendet" worden sind (BSGE 6, 188, 190; BSG SozR 3100 § 8 Nr 1 S 4, 5) sowie auf "Kriegsgerät, das aus den Kampfhandlungen des letzten Krieges zurückgeblieben ist" (BSG SozR Nr 29 Ca 15 zu § 5 BVG). Es muß sich also, wie diesen Entscheidungen übereinstimmend entnommen werden kann, um Nachwirkungen von im zweiten Weltkrieg verwendeten Kriegsgeräten oder Kampfmitteln handeln. Diesem Erfordernis genügt noch nicht, daß die Schädigung, die der Kläger erlitten hat, auf eine Lost-Vergiftung zurückzuführen ist.

Den Feststellungen des LSG zufolge diente der Teil des Truppenübungsplatzes, auf dem sich der Kläger die Vergiftung zuzog, sowohl vor dem ersten als auch vor dem zweiten Weltkrieg als Versuchsgelände für den Einsatz von Giftgas. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden dort - das ist den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils im Zusammenhang mit dem SG-Urteil zu entnehmen - im Jahre 1947 anläßlich der Sprengung von Bunkern und Fabriken durch die britischen Besatzungstruppen die Giftgasvorräte vergraben. Zu Recht hat das Berufungsgericht aufgrund dieser Tatsachen keinen kriegerischen Vorgang als Ursache für die Schädigung angenommen und sich für seine Überzeugungsbildung insbesondere auch auf die bereits vom SG erwähnte allgemeinkundige - da historische und beispielsweise in dem vom LSG bezeichneten Nachschlagewerk wiedergegebene - Tatsache berufen, daß während des gesamten zweiten Weltkrieges kein Giftgas zur Anwendung gelangt ist.

Der Senat ist mit dem LSG der Auffassung, daß nicht schon die Lagerung und Erprobung von für den Kriegseinsatz geeigneten Geräten und Mitteln das Tatbestandsmerkmal des kriegerischen Vorgangs erfüllen kann. Zwar mag die von der Rechtsprechung gebrauchte Formulierung der Verwendung als Kriegsgerät oder Kampfmittel nicht so eng verstanden werden, daß der einzelne Gegenstand bereits im Kampf eingesetzt worden sein müßte, zumal sich zB bei liegengebliebener Munition kaum feststellen läßt, in welchem Stadium des Einsatzes sie sich befunden hat. Erforderlich ist aber, daß das Kriegsgerät oder Kampfmittel von der militärischen Führung allgemein zum Einsatz im Kriege bestimmt war und nur das Ende der Kampfhandlungen seinen tatsächlichen Einsatz verhinderte. Dies trifft aber auf Lost nicht zu, über dessen Einsatz im zweiten Weltkrieg generell keine Entscheidung getroffen worden ist. Auch eine Giftgasanwendung aufgrund von Befehlen untergeordneter Stellen hat nicht stattgefunden. Hierin liegt der Unterschied zB zu Munition und Sprengkörpern aller Art, die zum Einsatz bestimmt waren und für ihn bereit lagen, aber aufgrund der besonderen Umstände des Kampfgeschehens nicht mehr eingesetzt werden konnten.

Das Vorbringen der Revision, bei Lost habe es sich um eine Kriegswaffe gehandelt, da ein Einsatz dieses Giftgases zu zivilen Zwecken nicht möglich sei, übersieht, daß § 5 Abs 1 Buchst e BVG im Gegensatz zu § 1 aaO ausdrücklich nicht nur einen militärischen, sondern einen kriegerischen Vorgang voraussetzt, so daß mit der negativen Abgrenzung zum Zivilbereich für die Auslegung der Vorschrift nichts gewonnen ist.

Im übrigen müßte der Gefahrenbereich, der zur Schädigung des Klägers geführt hat, auch nach seiner Entstehung noch fortwirkend kriegseigentümlich gewesen sein (BSGE 4, 230, 232; BSG SozR Nr 42 Ca 29 R zu § 5 BVG). Daran fehlt es, falls sich die Gefahr im Zeitpunkt ihrer Verwirklichung von anderen, nicht durch kriegerische Vorgänge entstandenen Gefahren nicht mehr unterscheidet (vgl BSG aaO S 233). Wenn nun nach den getroffenen Feststellungen hier britische Besatzungstruppen 1947 die Giftvorräte vergraben haben, so war eine etwa dadurch geschaffene Gefahrenlage - zB durch unsachgemäßes, unzureichendes Vergraben - nicht mehr "kriegseigentümlich". Mit dem Verbringen in das Erdreich wollten die britischen Truppen die Gefahren des Giftes wirkungsvoll beseitigen. Zumindest in der Vergangenheit wurden auch sonst Giftstoffe vergraben in der Absicht, sie dadurch unschädlich zu machen oder wenigstens als unmittelbare Gefahrenquelle auszuschalten. Unzulänglichkeiten beim Vergraben stellten dann gegenüber dem ursprünglichen Zustand eine neue und wesentliche ("überragende") Bedingung dar (vgl hierzu BSG SozR 3100 § 8 Nr 1 S 5), so daß der Ursachenzusammenhang mit kriegerischen Vorgängen entfiele.

Die voranstehenden Überlegungen legen nahe, noch die Anwendung des § 5 Abs 2 Buchst a BVG zu prüfen, wonach als nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge auch Schäden gelten, die in Verbindung mit dem zweiten Weltkrieg durch Angehörige oder sonstige Beschäftigte der Besatzungsmächte vor dem Tag verursacht worden sind, von dem an Leistungen nach anderen Vorschriften gewährt werden. Die Vorschrift scheidet aber als Anspruchsgrundlage aus, da sich für Schäden in diesem Sinne, die nach dem 31. Juli 1945 eingetreten sind, der Anspruch nach dem Gesetz über die Abgeltung von Besatzungsschäden vom 1. Dezember 1955 (BGBl I 734) richtet und für solche Schäden keine Leistungen nach dem BVG in Betracht kommen (VV Nr 6 zu § 5 BVG; BSGE 4, 65, 68f).

Die Revision konnte daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656207

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