Leitsatz (amtlich)

Die Zeit einer KZ-Haft wird von WGSVG § 14 Abs 2 S 1 regelmäßig nicht erfaßt, auch dann nicht, wenn der Inhaftierte zu Arbeiten - innerhalb oder außerhalb des Lagers - herangezogen wurde.

 

Normenkette

WGSVG § 1 Fassung: 1970-12-22, § 14 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1970-12-22; RVO § 1250 Abs. 1 Buchst. b Fassung: 1957-02-23, Buchst. a Fassung: 1957-02-23, § 1251 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Oktober 1973 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin ist Jüdin, sie lebt in den Niederlanden. Einer gesetzlichen Rentenversicherung gehörte sie zu keiner Zeit an.

Im Dezember 1971 beantragte sie bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) die Gewährung einer Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Zur Begründung ihres Antrags machte sie geltend, sie sei im August 1944 von der Gestapo in den Niederlanden verhaftet und in ein Konzentrationslager verbracht worden. In der Folgezeit sei sie in verschiedenen Konzentrationslagern - sowohl in den Niederlanden als auch innerhalb des deutschen Reichsgebietes bzw. der von Deutschen besetzten Gebiete - festgehalten und zu Zwangsarbeiten herangezogen worden, ohne daß für sie Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden seien. Die Zwangsarbeiten habe sie innerhalb der Lager, aber auch außerhalb bei verschiedenen Betrieben leisten müssen.

Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 12. Januar 1972).

Die Klage hatte in den Tatsacheninstanzen keinen Erfolg (Urteile des Sozialgerichts - SG - Münster vom 29. November 1972 und des Landessozialgerichts - LSG - für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. Oktober 1973).

In den Gründen der Entscheidung des LSG ist ausgeführt: Der Klägerin stehe eine Rente nicht zu, weil sie die Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht erfüllt habe (§§ 1246 Abs. 3, 1247 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Eine Beitragszeit im Sinne des § 1250 RVO liege nicht vor. Als Beitragszeit könne auch nicht die Zeit der Lagerhaft der Klägerin angesehen werden. Die Vorschrift des § 14 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (- WGSVG - BGBl I, 1846) finde keine Anwendung. Dort sei bestimmt, daß Beiträge als entrichtet zu gelten hätten, wenn der Verfolgte eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt habe, aus Verfolgungsgründen für diese Beschäftigung jedoch keine Beiträge entrichtet worden seien. Durch die Tätigkeit der Klägerin während ihrer Inhaftierung sei ein Beschäftigungsverhältnis nicht entstanden. Die Klägerin sei vielmehr infolge eines staatlichen Gewaltverhältnisses zu Zwangsarbeiten herangezogen worden. Es fehle auch an der zu einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung gehörenden Entlohnung. - Von diesen - vorgegebenen - Begriffen sei der Gesetzgeber in § 14 Abs. 2 WGSVG ausgegangen. In Satz 2 der Vorschrift heiße es nämlich, daß bei der Ermittlung der für die Verfolgten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage die erzielten Arbeitsentgelte zugrunde zu legen seien. Ein Verfolgter habe aber für seine Tätigkeit während der Lagerhaft kein Entgelt erhalten. - Die Richtigkeit der vorbezeichneten Auslegung ergebe sich auch aus den Gesetzesmaterialien.

Nach § 1250 Abs. 1 Buchst. b RVO - so heißt es in den Entscheidungsgründen weiter - seien auch Ersatzzeiten anrechnungsfähige Versicherungszeiten. Die Zeit der Konzentrationslagerhaft gelte als Ersatzzeit im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO. Es möge zutreffen, daß die Klägerin - mit der Lagerhaft und einer anschließenden Krankheit - eine Ersatzzeit von 60 Kalendermonaten dartun könne. Durch Ersatzzeiten allein könne jedoch die Wartezeit nicht erfüllt werden. Die Voraussetzungen des § 1251 Abs. 2 RVO zur Anrechnung von Ersatzzeiten lägen unzweifelhaft nicht vor.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit der Revision. Sie weist darauf hin, daß sie außerhalb des Konzentrationslagers in Rüstungsfabriken gearbeitet habe. Diese Arbeit müsse jedenfalls als rentenversicherungspflichtige Beschäftigung gewertet werden. Die Tatsache, daß ein staatliches Gewaltverhältnis vorgelegen habe, vermöge daran nichts zu ändern. Anders als im Falle eines Straf- oder Kriegsgefangenen beruhe ihre Inhaftierung nicht auf einer gesetzlichen Grundlage. Eine Gleichstellung mit den Personengruppen, die in dem angefochtenen Urteil bezeichnet worden seien (Strafgefangene, Kriegsgefangene usw.), scheide daher aus. - Ein Teil der Verfolgten sei übrigens zu Zwangsarbeiten herangezogen worden, ohne zugleich inhaftiert gewesen zu sein. Für diesen Personenkreis seien Beiträge zur deutschen Rentenversicherung geleistet worden. Eine Schlechterstellung derjenigen Verfolgten, die durch die Inhaftierung weiteren Nachteilen ausgesetzt gewesen seien, lasse sich nicht rechtfertigen. Es fehle auch nicht an einem Entgelt für die von ihr erbrachten Arbeitsleistungen. Diejenigen Unternehmen, die Inhaftierte von Konzentrationslagern beschäftigt hätten, seien verpflichtet gewesen, eine Vergütung zu entrichten, wenn auch nicht an die Häftlinge selbst, sondern an eine ihnen von Fall zu Fall bezeichnete Stelle.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Revision hat keinen Erfolg.

Der Klägerin steht ein Rentenanspruch aus der deutschen Rentenversicherung nicht zu, weil ihr anrechenbare Versicherungszeiten fehlen und sie deshalb die erforderliche Wartezeit von 60 Kalendermonaten (§ 1246 Abs. 3, § 1247 Abs. 3 RVO) nicht erfüllt hat. Zur Erfüllung der Wartezeit dienen in erster Linie Beitragszeiten (§ 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO). Beiträge zu einer gesetzlichen Rentenversicherung sind aber für die Klägerin zu keiner Zeit erbracht worden. Dies hat das LSG unwidersprochen festgestellt. Das Berufungsgericht ist deshalb zu Recht davon ausgegangen, daß es in diesem Zusammenhang darauf ankommt, ob § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG Anwendung findet. Dort heißt es: "Hat der Verfolgte eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt und sind aus Verfolgungsgründen für die Beschäftigung oder Tätigkeit keine Beiträge entrichtet worden, so gelten für diese Zeiten Beiträge als entrichtet". Es können schon Zweifel daran bestehen, ob die Klägerin überhaupt zu dem Personenkreis gehört, der von § 14 WGSVG erfaßt werden kann. In § 1 WGSVG ist nämlich bestimmt, daß dieses Gesetz für Versicherte gilt, die Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) sind und durch die Verfolgung Schaden in der Sozialversicherung erlitten haben. Es läge nahe, als Versicherte in diesem Sinne nur solche Personen anzusehen, die - ohne die Fiktion der Beitragsleistung des § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG - einer gesetzlichen Rentenversicherung angehören oder jedenfalls angehört haben. Eine solche Auslegung würde auch den vom Gesetz angestrebten Zweck treffen. Es sollen Nachteile ausgeglichen werden, die der Verfolgte durch Verfolgungsmaßnahmen in der Sozialversicherung erlitten hat. Solche Nachteile konnten nur demjenigen erwachsen, der - anders als die Klägerin - tatsächlich sozialversichert war. Das Bundessozialgericht (BSG) hat diesen Weg in einer früheren Entscheidung - Urteil vom 27. März 1974, 1 RA 197/73 - jedoch nicht beschritten, weil die dadurch gewonnenen Ergebnisse für Verfolgte des Nationalsozialismus vielfach unbillig seien. Aus Billigkeitsgründen sei es angebracht - so ist dort ausgeführt -, § 14 Abs. 2 WGSVG auch dann anzuwenden, wenn der Verfolgte außer der hier fingierten Beitragszeit keine weiteren Beitragszeiten nachweisen könne. Dies mag jedoch auf sich beruhen. Auch bei dieser Betrachtungsweise kann der Klägerin - über § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG - keine Beitragszeit gutgebracht werden.

Hierzu gibt bereits die in § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO getroffene Regelung einen Hinweis. Die Zeit einer Haft - wie sie die Klägerin erlitten hat - ist hiernach als Ersatzzeit - nicht als Beitragszeit - zu werten. Bei der Schaffung dieser Vorschrift kann dem Gesetzgeber nicht unbekannt gewesen sein, daß Verfolgte, die in einem Konzentrationslager inhaftiert waren, im allgemeinen - soweit sie dazu in der Lage waren - zu Arbeitsleistungen herangezogen wurden. Er hat diesem Umstand bei der rechtlichen Wertung dieser Zeit jedoch von Anfang an keine Bedeutung beigemessen. Wollte man unterstellen, daß inzwischen eine Änderung im Wollen des Gesetzgebers eingetreten sei, so hätte dies jedenfalls in dem neuen Gesetz einen erkennbaren Niederschlag finden müssen. In § 14 Abs. 2 WGSVG findet sich insoweit jedoch kein Anhalt. Dort ist auf die Ausübung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung - nur diese Alternative kommt für die Klägerin in Betracht - abgestellt. Es muß also ein Beschäftigungsverhältnis vorgelegen haben. Ein solches entsteht regelmäßig - dies entspricht der ständigen Rechtsprechung nicht nur des BSG, sondern schon des Reichsversicherungsamtes - auf freiwilliger Basis, es sei denn, daß ein Gesetz ausnahmsweise etwas abweichendes bestimmt (vgl. etwa die sog. Dienstpflichtverordnung vom 13. Februar 1939 - RGBl I, 206 -). Der Umstand, daß die gesamte Arbeitsleistung - wie in dem vorliegenden Fall - aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnisses erbracht wird, schließt ein Beschäftigungsverhältnis grundsätzlich aus (vgl. dazu BSG 27, 197 mit weiteren Hinweisen). Eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung liegt auch nur dann vor, wenn für diese Beschäftigung eine Entlohnung gewährt wird. Diese Entlohnung muß dem Beschäftigten selbst zufließen. Auch an dieser Voraussetzung fehlt es.

Es mag sein, daß - wie die Klägerin vorträgt - solche Betriebe, in denen Häftlinge Arbeitsleistungen zu verrichten hatten, an Dienststellen des Staates oder andere Stellen bestimmte Beträge abführen mußten. Darin ist aber keine Entlohnung für den Inhaftierten selbst zu erblicken, sie kam ihm nicht zugute. Von einem Beschäftigungsverhältnis im üblichen Sinne geht aber § 14 Abs. 2 WGSVG aus. Dies folgt schon daraus, daß der zur Auslegung stehende Begriff vom Gesetzgeber in Kenntnis des ihm durch die Rechtsprechung gegebenen Inhalts uneingeschränkt und ohne jeden Zusatz verwandt worden ist. Es sind keine Gründe erkennbar, die es rechtfertigen könnten, von dieser Definition im Rahmen des vorbezeichneten Gesetzes abzugehen. Insoweit fehlt jeder Hinweis darauf, daß die während der Haft geleistete Arbeit einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung gleichzustellen sei. Es kommt daher - wie auch der Wortlaut des Gesetzes erkennen läßt - im Rahmen des § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG nicht darauf an, daß aus Verfolgungsgründen eine Arbeit geleistet wurde, sondern vielmehr darauf, daß eine an sich rentenversicherungspflichtige Beschäftigung vorlag und daß lediglich die Beitragsentrichtung aus Verfolgungsgründen unterblieben ist. Zu Recht hat das LSG auf die Entstehungsgeschichte und auf die amtliche Begründung der Vorschrift hingewiesen. Es ist richtig, daß § 14 Abs. 1 WGSVG an die Stelle des § 4 Abs. 5 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 (WiGBl S. 263) getreten ist. Bei zu niedriger Beitragsleistung soll - wie es schon früher der Fall war - eine Berichtigung vorgenommen und dadurch eine Benachteiligung des Verfolgten vermieden werden. Daran schließt § 14 Abs. 2 WGSVG an. Eine Benachteiligung wird nun auch für den Fall verhindert, daß Beiträge nicht geleistet wurden, obwohl sie an sich hätten geleistet werden müssen. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollen die Fälle erfaßt werden, in denen Beiträge nicht entrichtet wurden, weil sonst der Verfolgte selbst oder sein Arbeitgeber gefährdet worden wäre (vgl. Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode, Drucksache VI/715, S. 11).

Sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinn der Vorschrift nach wird die Zeit einer Konzentrationslagerhaft von § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG nicht erfaßt, und zwar auch dann nicht, wenn der Inhaftierte arbeiten mußte, sei es innerhalb oder außerhalb des Lagers. Die notwendige Entschädigung hat in solchen Fällen nicht im Rahmen der Sozialversicherung, sondern auf andere Weise zu erfolgen.

Die Revision muß hiernach zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 245

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