Entscheidungsstichwort (Thema)

Verhinderung des Vorsitzenden. vorübergehende Aufgaben des Vorsitzenden. Besetzung des Gerichts

 

Leitsatz (amtlich)

Zur ordnungsgemäßen Vertretung eines Vorsitzenden Richters, der nach dem Ausscheiden eines anderen Vorsitzenden Richters den Vorsitz in dem bisher von diesem geleiteten Senat längere Zeit zusätzlich führt (Anschluß an BVerfG 1965-03-30 2 BvR 341/60 = BVerfGE 18, (423 und BGH 1962-06-19 GSZ 1/61 = BGHZ 37, 210).

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 33 S. 1 Fassung: 1972-05-26; ZPO § 551 Nr. 1; GVG § 21e Abs. 1 S. 4 Fassung: 1972-05-26, § 21f Abs. 2 Fassung: 1972-05-26; GG Art. 101 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. Juni 1974 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der 1906 geborene Kläger begehrt Teilversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz wegen eines großen linksseitigen Leistenbruches, den er auf eine Verschüttung im August 1944 oder auf eine Dystrophie während der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurückführt. Der Beklagte lehnte den ursprünglich auf andere Verletzungsfolgen gestützten Antrag ab (Bescheid vom 10. November 1965, Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 1966). Nachdem der Kläger die dagegen erhobene Klage zurückgenommen hatte, ließ ihn das Versorgungsamt in Polen untersuchen und sodann fachärztlich, u. a. chirurgisch, begutachten, als er zu Besuch in der Bundesrepublik Deutschland war. Der Versorgungsantrag wurde erneut abgelehnt (Bescheid vom 5. Dezember 1968, Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 1970). Das Sozialgericht (SG) Münster wies die Klage ab Urteil vom 19. September 1972). Das Landessozialgericht LSG) hat durch Urteil vom 26. Juni 1974 die Berufung zurückgewiesen. An diesem Urteil des 9. Senats des LSG hat "Richter am Landessozialgericht" (RiLSG) K als Vorsitzender mitgewirkt. Das Berufungsgericht hat weder eine Entstehung noch eine Verschlimmerung des Leistenbruches durch Einflüsse des Wehrdienstes oder der Gefangenschaft festgestellt. Dr. M, von dem das Gericht ein Gutachten hat erstellen lassen, vermöchte mit seiner Ansicht, die von den übrigen gehörten Ärzten nicht geteilt werde, nicht zu überzeugen. Die Voraussetzungen für die Verursachung eines Leistenbruches durch Dystrophie seien weitestgehend nicht erwiesen, insbesondere daß kein Bruch und auch keine Bruchanlage vor der Kriegsgefangenschaft bestanden habe, daß der Kläger in der Gefangenschaft außergewöhnlich schwer und nicht zumutbar körperlich belastet worden sei und daß der Leistenbruch bei der Heimkehr voll ausgebildet gewesen sei.

Der Kläger rügt mit der Revision, die das LSG nicht zugelassen hat, als wesentliche Verfahrensmängel: Der 9. Senat des LSG sei nicht vorschriftsmäßig nach § 33 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) besetzt gewesen. Die Revision hat den Inhalt einer beigefügten Auskunft des Präsidenten des LSG vorgetragen. Danach nahm der "Vorsitzende Richter am Landessozialgericht" (VRiLSG) M den Vorsitz in diesem Senat während einer Vakanz vom 1. Januar bis zum 4. August 1974 wahr; gleichzeitig war er Vorsitzender des 7. Senats. Er führte den Vorsitz im 9. Senat im Januar und April 1974 jeweils in einer von zwei Sitzungen, im Februar, März, Mai, Juni und Juli 1974 jeweils in einer von drei Sitzungen und daneben den Vorsitz im 7. Senat in einer Sitzung im April 1974, in je zwei Sitzungen im Januar, Februar, März, Mai und Juni sowie in drei Sitzungen im Juli 1974, u. a. am 27. Juni, und war deshalb am 26. Juni 1974 verhindert, dem 9. Senat vorzusitzen. Die Revision folgert daraus, VRiLSG M habe infolgedessen nicht mindestens 75 vom Hundert der Aufgaben eines Senatsvorsitzenden selbst erfüllt, wie es für die Ausübung eines richtunggebenden Einflusses auf die Rechtsprechung des Spruchkörpers und damit für eine vorschriftsmäßige Besetzung erforderlich gewesen wäre. Hier habe von vornherein festgestanden, daß dieser VRiLSG infolge Überlastung in einem Großteil der Sitzungen nicht werde mitwirken können. Auch wenn - nach der Auskunft - im Juni 1974 alsbald die Besetzung der freien Stelle zu erwarten gewesen sei, sei der Kläger seinem gesetzmäßigen Richter entzogen worden. Das angefochtene Urteil beruhe auf diesem Verfahrensfehler und sei deshalb aufzuheben (§ 551 Nr. 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Außerdem habe das LSG seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) und sein Recht zur freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) in mehrfacher Hinsicht verletzt.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung der Urteile des LSG und des SG und unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Dezember 1968 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 1970 den Beklagten zu verurteilen einen ermessensfehlerfreien Bescheid zu erteilen,

hilfsweise,

das Berufungsurteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Nach seiner Ansicht greifen die Verfahrensrügen nicht durch.

Vom Präsidenten des LSG ist eine ergänzende Auskunft eingeholt und sind die Geschäftsverteilungspläne (GVP) für die Jahre 1973 und 1974 beigezogen worden. Daraus ergibt sich: 1973 hatten VRiLSG S den Vorsitz im 9. Senat (GVP 1/73) und VRiLSG M den Vorsitz im 7. Senat des LSG (GVP 2/73). VRiLSG S wurde durch Erlaß des Ministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (ArbMin) vom 13. Dezember 1973 mit Wirkung ab 1. Januar 1974 an das Schleswig-Holsteinische LSG versetzt. Der Erlaß wurde dem Präsidenten des LSG am 13. Dezember 1973 übergeben. VRiLSG S hatte sich in einem Schreiben vom 20. November 1973 mit der Versetzung einverstanden erklärt. Er schied mit Ablauf des 31. Dezember 1973 aus dem Dienst der Sozialgerichtsbarkeit des Landes Nordrhein-Westfalen aus. Nach den bisherigen Erfahrungen war mit der neuen Besetzung dieser Stelle innerhalb von sechs Monaten nach ihrem Freiwerden zu rechnen. Am 19. Dezember 1973 wurde VRiLSG M für das Geschäftsjahr 1974 zusätzlich zum Vorsitzenden des 9. Senats bestellt, zu seinem Vertreter das jeweils dienstälteste Mitglied des Senats; dienstältester Richter im 9. Senat war RiLSG K (GVP 1/74, Seite 7, 9, 19). Am 5. August 1974 wurde Dr. F, der zum VRiLSG ernannt worden war, Vorsitzender des 9. Senats, während VRiLSG M als Vorsitzender aus dem Senat ausschied (GVP 5/74).

Eine Auskunft, die der ArbMin dem Senat erteilt hat, besagt folgendes: Der ArbMin erfuhr am 12. November 1973 vom Justizministerium des Landes Schleswig-Holstein schriftlich, daß VRiLSG S vom Richterwahlausschuß in das Amt des Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen LSG gewählt worden sei. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen beschloß am 11. Dezember 1973 die Versetzung des Richters. Im November 1973 forderte der ArbMin den Präsidenten des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen auf, geeignete Richter vorzuschlagen, von denen einer zum VRiLSG ernannt werden und die Planstelle des VRiLSG S erhalten sollte. Der Bericht des Präsidenten des LSG ging am 28. November 1973 beim ArbMin ein. Weitere Bewerbungen wurden nicht eingereicht. Am 12. Juli 1974 legte der ArbMin der Landesregierung seinen eigenen Vorschlag vor; die Landesregierung entschied am 31. Juli 1974 über die Ernennung. - Auf die Frage, was außerdem während des Auswahl- und Ernennungsverfahrens unternommen worden sei und welche Umstände einen schnelleren Ablauf des Verfahrens verhindert hätten, hat der ArbMin erklärt: "Die Bedeutung, die dem Amt eines Vorsitzenden Richters am Landessozialgericht zukommt, erfordert eine besonders sorgfältige Auswahl. Da mehrere qualifizierte Bewerber für eine Ernennung in Betracht kamen, war ein schnellerer Ablauf des ... Verfahrens nicht möglich".

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist statthaft, weil wenigstens eine der Verfahrensrügen durchgreift (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung - Art. III und VI des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974 - BGBl I 1625 -; BSG 1, 150). Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Wie die Revision zutreffend und auch formgerecht nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG aF (BSG 16, 227, 231) gerügt hat, beruht das angefochtene Urteil deshalb auf einem wesentlichen Verfahrensfehler, weil es von einem gesetzwidrig besetzten Senat des LSG erlassen worden ist. Der Kläger ist infolge der fehlerhaften Besetzung unter Verletzung der Verfassungsvorschrift des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes seinem gesetzlichen Richter entzogen worden (BVerfG 18, 344, 349; 18, 423, 425). Auf diesem unbedingten Verfahrensmangel beruht auch das angefochtene Urteil (§ 162 Abs. 2 SGG aF, § 202 SGG iVm § 551 Nr. 1 ZPO; BSG 9, 153, 158; vgl. auch § 116 Abs. 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung, § 133 Nr. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung und § 338 Nr. 1 der Strafprozeßordnung. Der 9. Senat des LSG hätte in der Besetzung mit je zwei ehrenamtlichen Richtern und beisitzenden Berufsrichtern unter Vorsitz eines planmäßigen VRiLSG (früher: Senatspräsidenten) entscheiden müssen (§ 33 Satz 1 SGG idF des Gesetzes zur Änderung der Bezeichnungen der Richter und der ehrenamtlichen Richter und der Präsidialverfassung der Gerichte vom 26. Mai 1972 - BGBl I 841, 849 - iVm § 19 a Abs. 1, § 45 a Deutsches Richtergesetz, § 6 SGG iVm § 21 f Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes - GVG -, jeweils idF des Gesetzes vom 26. Mai 1972). Wie die dem Revisionsgericht obliegende Prüfung in tatsächlicher Hinsicht (RGSt 25, 389, 390; BSG 9, 153, 157; 10, 195, 197 = SozR Nr. 3 zu § 34 SGG) ergeben hat, hat RiLSG K als Vertreter des Senatsvorsitzenden in der Sitzung vom 26. Juni 1974 deshalb den Vorsitz geführt, weil VRiLSG M durch eine auf den nächsten Tag anberaumte Sitzung des 7. Senats, dessen Vorsitzender er ebenfalls war, verhindert war. RiLSG K hätte den Senatsvorsitzenden nur dann vertreten dürfen, falls dadurch die Vorschriften über die ordnungsmäßige Besetzung nicht umgangen worden wären. Hier wurden sie aber umgangen; denn der ordentliche Senatsvorsitzende war nicht bloß vorübergehend im Sinne des § 21 f Abs. 2 Satz 1 GVG "verhindert" (RGSt 62, 273, 274, 276; RGZ 132, 301, 304 mit weiteren Nachweisen; BGHZ 9, 291, 293).

Ob diese Vertretung vom 26. Juni 1974 wegen einer nur vorübergehenden Verhinderung zulässig war, ist nicht isoliert allein im Hinblick auf die unmittelbare Ursache - Tätigkeit des VRiLSG M im 7. Senat am nächsten Tag - zu beurteilen, sondern im Zusammenhang mit den Ursachen der seit dem 1. Januar 1974 laufend wiederholten Vertretungen. Seit der frühere Vorsitzende des 9. Senats, VRiLSG S, zum 1. Januar 1974 an das Schleswig-Holsteinische LSG versetzt worden war, um dessen Präsident zu werden, mußte VRiLSG M den Vorsitz im 7. und zugleich im 9. Senat führen, bis am 5. August 1974 ein Nachfolger für den ausgeschiedenen Vorsitzenden des 9. Senats bestellt wurde. Dies führte jedenfalls am 26. Juni 1974 zu einer gesetzwidrigen Besetzung des 9. Senats. Weder war die wiederholte Vertretung des Vorsitzenden dieses Senats durch einen beisitzenden Richter seit dem 1. Januar 1974 mit der gesetzmäßigen Dienstleistung des VRiLSG M in diesem Senat vereinbar, noch war der gesamte Zustand als bloß vorübergehend zu werten (BGHSt 8, 17, 18).

Durch die rechtliche Möglichkeit, daß ein VRiLSG gleichzeitig Vorsitzender in zwei Senaten sein kann (§ 6 SGG iVm § 21 e Abs. 1 Satz 4 GVG; vorher § 36 Satz 2, § 25 Abs. 1 Satz 3 SGG), darf nicht die gesetzmäßige Wahrnehmung seiner Aufgaben in beiden Spruchkörpern verhindert werden (RGSt 55, 236, 238; BGH, NJW 1974, 1572; RGZ 132, 301, 303; BGHZ 10, 130, 132). Der Vorsitzende muß auch tatsächlich seine richterliche Funktion regelmäßig im üblichen Umfang ausüben können und dies tun (BGHSt 8, 17, 18; 25, 54, 56, 59; BGHZ 10, 130, 131 f; BGH, Großer Senat für Zivilsachen, BGHZ 37, 210, 212, 215). VRiLSG M wurde in der Zeit ab 1. Januar 1974 als Vorsitzender des 9. Senats nicht im gebotenen Mindestumfang tätig und konnte dies auch gar nicht. Das Gesetz hat dem Vorsitzenden außer der Mitentscheidung, die allen Mitgliedern des Spruchkörpers nach gleichem Stimmrecht in voller Mitverantwortung obliegt (§ 6 SGG iVm §§ 196, 197 GVG; Kühne, Deutsche Richterzeitung 1960, 390, 391 f; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 19. Aufl. 1972, § 551, Anm. II 1 a), einige besondere Aufgaben zugewiesen (vgl. zB. §§ 104 bis 107, 110 bis 112, 118 Abs. 3, § 120 Abs. 3, §§ 121, 122 Abs. 1 Satz 2, § 138 Satz 2, § 155 Satz 2, § 158 Abs. 2, § 164 Abs. 1 Satz 2 - aF -, Abs. 2 Satz 2 - nF - SGG, §§ 21 g, 176, 179, 194 Abs. 1, § 196 Abs. 4 GVG). Außerdem prägt bei den Landessozialgerichten eine übliche Arbeitseinteilung die Rolle des Senatsvorsitzenden und bestimmt damit die Anforderungen, die an ihn gestellt werden. In der Praxis wird vom Vorsitzenden regelmäßig ein besonderer Beitrag zur Vorbereitung der Entscheidung erwartet, vor allem eine koordinierende und ergänzende Tätigkeit; um dies leisten zu können, überträgt er im allgemeinen die Hauptlast der gängigen Vorbereitung auf die Berichterstatter (§ 155 SGG). Der Bundesgerichtshof hat als Maßstab für den Umfang der gesetzmäßigen Vorsitzenden-Tätigkeit festgelegt, er müsse seine Dienstobliegenheiten zumindest zu 75 v. H. erfüllen (BGHZ 37, 210, 215 f; seitdem ständige Rechtsprechung). Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat, ungeachtet ihrer problematischen weiteren Begründung (BGHZ 37, 210, 212 f), im Ergebnis für den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit an. In diesem Rechtssprechungszweig gibt es keine Besonderheiten, die eine andere Beurteilung dieser Frage als in der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit rechtfertigten und geböten. Der prozentuale Anteil ist nicht schematisch, sondern nach dem "Gewicht" der Sachen unter Einbeziehung der technischen und verwaltungsmäßigen Funktionen zu bestimmen; die Spruchrichtertätigkeit muß der Vorsitzende in der Regel zu mehr als zur Hälfte wahrnehmen (BGHZ 37, 210, 216 ff; vgl. auch Johannsen, Anm. in LM Nr. 4 zu § 115 GVG). Einzelheiten brauchen im vorliegenden Fall nicht aufgeklärt zu werden. Das Schwergewicht der besonderen Aufgaben, die der VRiLSG hat, liegt in den Sitzungen und deren Vorbereitung. An ihrer Zahl läßt sich der Umfang der Vorsitzenden-Tätigkeit grob messen. Die Teilnahme des VRiLSG M an je einer von zwei Sitzungen des 9. Senats in zwei Monaten und an je einer von drei Sitzungen in vier Monaten bis einschließlich Juni 1974 (in fünf Monaten bis einschließlich Juli 1974) genügte nicht für eine ordnungsgemäße Wahrnehmung der Vorsitzenden-Aufgaben.

Der gleichzeitige Vorsitz in zwei Senaten war auch nicht deshalb gesetzlich vertretbar, weil die unzureichende Wahrnehmung der Funktionen in jedem von beiden Senaten, zumal im 9. Senat, bei der Geschäftsverteilung im Dezember 1973 für die Zeit ab Januar 1974 nicht voraussehbar gewesen wäre (RGSt 55, 236, 238; BGH, NJW 1974, 1572). VRiLSG M konnte nach allgemeiner Erfahrung bei üblicher Arbeitsleistung der insgesamt sieben beisitzenden Berufsrichter voraussichtlich nicht gleichzeitig in beiden Senaten im gesetzmäßigen Umfang als Vorsitzender tätig werden; neben den bereits dargelegten Aufgaben im 9. Senat führte er den Vorsitz im 7. Senat in je zwei Sitzungen in fünf Monaten und in einer Sitzung in einem Monat bis einschließlich Juni 1974 (sowie in drei Sitzungen im Juli 1974).

Die unzureichende Vorsitzenden-Tätigkeit im 9. Senat war schließlich nicht rückschauend als nur vorübergehend zu werten; im Ergebnis war somit der Vertreter zum ordentlichen Vorsitzenden bestellt worden (vgl. BGHZ 15, 135, 138 f). Abgesehen von den Fällen eines Erholungsurlaubs, einer Kur, einer Krankheit oder sonstigen naturgemäß nur zeitweiligen Verhinderung (RGSt 55, 236; RGZ 119, 284, 288; BGH, NJW 1974, 1572), kann unter Umständen auch ein bloß "vorübergehender" Zustand eintreten, falls der letzte Stelleninhaber endgültig ausgeschieden ist und die Stelle - wie hier - wieder besetzt werden soll (BSG 10, 195, 200; Bundesverwaltungsgericht - VI c B 117.67 vom 1. Juni 1971, Leitsatz Nr. 263 in DÖV 1971, 714). Diese Voraussetzung für einen noch gesetzmäßigen Übergangszustand war aber jedenfalls in der Zeit um den 26. Juni 1974 für den 9. Senat des LSG aus den folgenden Gründen nicht gegeben: Für die zweite Junihälfte 1974, als der planmäßige VRiLSG allzu lange und allzu häufig verhindert gewesen war, läßt sich die Möglichkeit sachfremder Eingriffe der Verwaltung in die Besetzung des Senats nicht völlig ausschließen. Dies ist der entscheidende Beurteilungsmaßstab für die gesetzliche Besetzung der Richterbank in solchen Fällen (BVerfG 18, 423, 425, 426, 427). Da immer noch kein Nachfolger für den am 1. Januar 1974 ausgeschiedenen VRiLSG S bestellt war, konnte das Präsidium des Gerichts den 9. Senat, wie dargelegt, nicht mit einem planmäßigen Vorsitzenden besetzen, der in ausreichendem Umfang hätte tätig werden können. Jedenfalls Ende Juni 1974 stellte sich die Ernennung des Nachfolgers als unangemessen lange verzögert dar. Eine bestimmte Höchstdauer, in deren Verlauf ein Nachfolger für einen ausgeschiedenen Vorsitzenden bestellt sein muß, läßt sich nicht allgemeingültig für alle Fälle festlegen. In der Rechtsprechung sind bisher verschieden lange Zeiträume als noch oder als nicht mehr "vorübergehend" beurteilt worden (BGHSt 8, 17, 19 ff mit weiteren Fällen; BGHZ 16, 254). Unter den hier gegebenen Umständen hätte die Verwaltung, nachdem dem zuständigen Ministerium am 12. November 1973 die Wahl des VRiLSG S zum Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen LSG bekanntgegeben worden war und dieser Richter seiner Versetzung mit Schreiben vom 20. November 1973 zugestimmt hatte, unverzüglich binnen kurzer Zeit einen anderen Richter zum VRiLSG bestellen können, der die zum 1. Januar 1974 frei werdende Planstelle übernehmen konnte. Schon am 28. November 1973 erhielt der ArbMin auf Anforderung Besetzungsvorschläge vom Präsidenten des LSG, und die Landesregierung beschloß bereits am 11. Dezember 1973 die Versetzung des VRiLSG S zum 1. Januar 1974. Das Ministerium rechnete auch schon vor der am 11. Dezember 1973 von der Landesregierung getroffenen Entscheidung damit, daß VRiLSG S beim LSG ausscheiden werde; sonst hätte es nicht bereits im November 1973 den Präsidenten des LSG aufgefordert, geeignete Bewerber vorzuschlagen. Anschließend unterblieben jedoch offenbar die erforderlichen und auch möglichen Maßnahmen, um für einen Nachfolger zu sorgen. Auf ausdrückliche Anfrage hat der ArbMin dem Senat keine plausiblen Hinderungsgründe mitgeteilt, die einer Ernennung des Nachfolgers binnen kurzer Zeit entgegengestanden hätten. Die erforderliche Mitwirkung des Präsidialrates (§ 75 Abs. 1 Deutsches Richtergesetz, §§ 27, 32 Nr. 1, §§ 33, 34 Landesrichtergesetz Nordrhein-Westfalen vom 29. März 1966 - GVNW 217 -) war erfahrungsgemäß recht bald möglich. Die Erklärung des ArbMin, die Bedeutung des neu zu besetzenden Amtes habe eine besonders sorgfältige Auswahl erfordert und ein schnellerer Ablauf des die Ernennung vorbereitenden Verfahrens sei nicht möglich gewesen, da mehrere qualifizierte Bewerber für eine Ernennung in Betracht gekommen seien, besagt inhaltlich nichts darüber, warum nach Eingang der Vorschläge mehrere Monate lang offensichtlich nichts unternommen wurde, um die Ernennung durch die Landesregierung in Gang zu bringen. Der Kreis der ernsthaft in Betracht zu ziehenden Bewerber ist in einem solchen Fall verhältnismäßig klein und ermöglicht, schnell den bestgeeigneten Richter auszuwählen. Nach einer kurzen Zeit von allenfalls wenigen Wochen, die unter diesen Umständen für die Bearbeitung des Vorganges innerhalb des Ministeriums benötigt wurde, hätte Außergewöhnliches eintreten müssen, um die weitere Verzögerung zu rechtfertigen. Wenn das Ministerium somit ohne erkennbaren Hinderungsgrund erst fast acht Monate, nachdem es die Vorschläge vom Präsidenten des LSG erhalten hatte, nämlich am 12. Juli 1974, der Landesregierung einen (oder mehrere) Nachfolger vorschlug, so verhinderte es jedenfalls im Juni 1974 die ordnungsgemäße Besetzung des 9. Senats und bewirkte, daß der Vertreter in gesetzwidrigem Umfang die Geschäfte des VRiLSG führen mußte.

Wegen des erfolgreich gerügten Verfahrensfehlers ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das Berufungsgericht hat nunmehr in gesetzmäßiger Besetzung über den Rechtsstreit zu entscheiden. Im übrigen wird auf die weitere Revisionsbegründung verwiesen, über die nicht befunden zu werden brauchte. Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 53

DRiZ 1975, 377

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