Leitsatz (amtlich)

1. Erwerbsunfähige Hirnverletzte erhalten die Pflegezulage nach BVG § 35 Abs 1 S 3 nur, wenn die Erwerbsunfähigkeit allein auf der Hirnverletzung beruht.

2. Bescheide von Verwaltungsbehörden der KOV, die entgegen gesetzlichen Vorschriften ergangen waren, konnten durch einen Zuungunstenbescheid nach KBLG BY § 30 Abs 4 S 1 iVm BVG § 84 Abs 3 nur aufgehoben werden, wenn ein offenbarer Verstoß gegen klare Vorschriften vorgelegen hatte.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Wenn ohne Änderung des Klagegrundes nur der Klageantrag erweitert wird - und eine solche liegt in dem Übergang vom Feststellungsantrag zum Leistungsantrag, so ist darin nach SGG § 99 Abs 3 Nr 2, § 153 Abs 1, § 165 keine Klageänderung zu sehen.

2. Der Schutz der Rechtskraft kommt nicht nur gerichtlichen Entscheidungen, sondern im Zuge der neuzeitlichen Rechtsentwicklung auch den Verwaltungsbescheiden, wenn auch mit gewissen Abwandlungen zu.

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1950-12-20; KBLG BY § 30 Abs. 4 S. 1; BVG § 84 Abs. 3 Fassung: 1950-12-20; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 99 Abs. 3 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 153 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 165 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 10.03.1954)

 

Tenor

1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des ... Landessozialgerichts vom 10. März 1954 aufgehoben und der Beklagte verurteilt, dem Kläger seit dem 1. Oktober 1950 die einfache Pflegezulage und die halbe Ausgleichsrente in der jeweiligen gesetzlichen Höhe zu gewähren.

2. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers hat der Beklagte zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger war im ersten Weltkrieg Soldat und wurde verwundet. Seine Verwundung bestand in dem Verlust des linken Daumens mitsamt des Mittelhandknochens I, dem Verlust des rechten Auges, einer Augenmuskellähmung und einer Hirnverletzung (Steckschuß). Wegen dieser Schädigungen erhielt er Versorgungsbezüge, zuletzt gemäß dem Umanerkennungsbescheid des Versorgungsamtes ... vom 3. April 1951 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 v. H.. Dabei wurde der Grad der allein durch die Hirnverletzung verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 80 v. H. zugrundegelegt.

Im Anschluß an diesen Bescheid gewährte ihm als erwerbsunfähigen Hirnverletzten das Versorgungsamt ... mit Bescheid vom 7. Mai 1951 gemäß §§ 35 Abs. 1, 33 Abs. 3 des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges (BVG) in der damaligen Fassung des Gesetzes vom 20. Dezember 1950 (Bundesgesetzbl. I S. 791) vom 1. Oktober 1950 an monatlich eine Pflegezulage von 50,- DM und die Hälfte der vollen Ausgleichsrente.

Diesen Bescheid hob das Versorgungsamt ... mit dem Zuungunstenbescheid vom 28. September 1951 wieder auf. In der Begründung dazu führte es aus, daß nach einer Entschließung des Bundesarbeitsministeriums vom 24. Juli 1951 - IV b 1870/51 - (BVBl. Nr. 8 S. 354) erwerbsunfähigen Hirnverletzten eine Pflegezulage gemäß § 35 BVG nur dann zu gewähren sei, wenn die Erwerbsunfähigkeit ausschließlich durch die Hirnverletzung bedingt sei. Da die Folgen der Hirnschädigung beim Kläger jedoch nur mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 80 v. H. zu bewerten seien und der Kläger im übrigen nach den allgemeinen Grundsätzen gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG keine Pflegezulage erhalten könne, so sei der Zuungunstenbescheid nach Artikel 30 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 des bayerischen Gesetzes Nr. 64 über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) vom 26. März 1947 (GVBl. S. 107) gerechtfertigt, denn die Voraussetzungen der Bescheiderteilung vom 7. Mai 1951 hätten sich als unzutreffend erwiesen.

Auf die Berufung des Klägers änderte das Oberversicherungsamt ... mit Urteil vom 4. Januar 1952 den Zuungunstenbescheid ab und sprach dem Kläger die Pflegezulage vom 1. Oktober 1950 an wieder zu, weil nach dem Wortlaut des § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG die Pflegezulage den Hirnverletzten auch dann zustehe, wenn deren Erwerbsunfähigkeit nicht allein durch die Hirnverletzung herbeigeführt worden sei. Die mit der Gewährung der Pflegezulage verbundene halbe Ausgleichsrente erwähnte das Oberversicherungsamt in seinem Urteil nicht.

Gegen dieses Urteil legte der Kläger Rekurs ein, der nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vom 3. September 1953 als Berufung auf das ... Landessozialgericht überging. Dieses hob mit seinem Urteil vom 10. März 1954 das Urteil des Oberversicherungsamtes ... vom 4. Januar 1952 auf und stellte den Zuungunstenbescheid des Versorgungsamtes ... wieder her. In der Begründung seiner Entscheidung führt es insbesondere aus, daß nach dem Willen des Gesetzgebers, wie er aus den Verhandlungen des Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen des Deutschen Bundestages über das Bundesversorgungsgesetz hervorhebe, die Hirnverletzten die einfache Pflegezulage nur dann erhalten sollen, wenn sie allein durch die Hirnverletzung erwerbsunfähig geworden sind. Dies habe das Versorgungsamt ... seinerzeit bei Erlaß des Bescheides vom 7. Mai 1951 verkannt und hätte daher später mit Recht den Zuungunstenbescheid gemäß Art. 30 Abs. 4 KBLG erlassen, weil sich die Voraussetzungen der Bescheiderteilung als unzutreffend erwiesen hatten. Die Revision wurde zugelassen.

Gegen das dem Kläger am 31. März 1954 zugestellte Urteil hat er mit Schriftsatz vom 10. April 1954, eingegangen beim Bundessozialgericht am 14. April 1954, Revision eingelegt. In seiner am 5. Mai 1955 eingegangenen Revisionsbegründung führt er aus, daß nach dem Wortlaut des Gesetzes die einfache Pflegezulage erwerbsunfähigen Hirnverletzten immer zustehe, auch wenn die Hirnverletzung allein nicht die Erwerbsunfähigkeit bedinge. Im übrigen habe das Versorgungsamt ... den Zuungunstenbescheid selbst dann nicht erlassen dürfen, wenn die Auffassung richtig sei, daß die Erwerbsunfähigkeit allein durch die Hirnverletzung bedingt sein müsse. Bei Erlaß des Bescheides vom 7. Mai 1951 habe das Versorgungsamt ... jedenfalls noch die Auffassung gehabt, daß erwerbsunfähigen Hirnverletzten in jedem Fall die einfache Pflegezulage zustände. Eine Wandlung in der rechtlichen Beurteilung einer Gesetzesvorschrift berechtige aber nicht den Erlaß eines Zuungunstenbescheides gemäß Art. 30 Abs. 4 KBLG, da ein solcher Zuungunstenbescheid nach dieser Vorschrift nur zulässig sei, wenn die Unrichtigkeit des abgeänderten Bescheides im Augenblick seines Erlasses außer jedem Zweifel stehe. Von einer derartigen unzweifelhaften Unrichtigkeit könne bei Erlaß des Bescheides vom 7. Mai 1951 aber nicht gesprochen werden, da sogar jetzt noch erhebliche Zweifel bestünden, ob erwerbsunfähigen Hirnverletzten in jedem Fall die Pflegezulage zustände oder nur dann, wenn die Erwerbsunfähigkeit allein durch die Hirnverletzung bedingt werde.

Nachdem der Kläger zunächst in der Revisionsschrift beantragt hatte, festzustellen, daß die Voraussetzungen für die Erteilung eines Zuungunstenbescheides nach Art. 30 Abs. 4 KBLG nicht erfüllt seien, beantragt er nunmehr:

1.) das Urteil des ... Landessozialgerichts ... vom 10. März 1954 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die einfache Pflegezulage und die zustehende halbe Ausgleichsrente zu gewähren.

2.) den Beklagten zu verurteilen, dem Revisionskläger die entstandenen Kosten zu erstatten.

Der Beklagte beantragt:

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Nach seiner Ansicht treffen die Ausführungen des Landessozialgerichts in dem angefochtenen Urteil zu. Er widerspricht insbesondere der Auffassung des Klägers, daß lediglich eine Wandlung in der Rechtsauffassung des Versorgungsamtes ... zum Erlaß des Zuungunstenbescheides geführt habe. Das Versorgungsamt ... habe vielmehr das Gesetz von Anfang an unrichtig angewendet und sei erst durch den Erlaß des Bundesarbeitsministeriums vom 27. Juli 1951 darauf hingewiesen worden. Unter solchen Umständen könne nicht von einer Wandlung der Rechtsauffassung gesprochen werden, vielmehr hätten sich die Voraussetzungen der Bescheiderteilung als unzutreffend erwiesen, und deshalb sei der Erlaß des Zuungunstenbescheides gemäß Art. 30 Abs. 4 KBLG gerechtfertigt gewesen.

Im übrigen wird zur Darstellung des Tatbestandes auf den Inhalt des angefochtenen Urteils, den Schriftsatz des Klägers vom 3. Mai 1954 und den des Beklagten vom 28. Januar 1955 Bezug genommen werden.

Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG auch statthaft; denn sie ist im angefochtenen Urteil mit Recht deshalb zugelassen worden, weil über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden ist, hier über die Fragen, unter welchen Voraussetzungen die Pflegezulage an Hirnverletzte zu gewähren ist und unter welchen Voraussetzungen ein Zuungunstenbescheid erlassen werden kann.

Die Revision mußte Erfolg haben.

Zunächst ist eine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung (§ 168 SGG) nicht darin zu erblicken, daß der Kläger in seiner Revisionsschrift vom 12. April 1954 die Feststellung beantragte, daß die Voraussetzungen für die Erteilung eines Zuungunstenbescheides nicht erfüllt sind, später aber den Antrag stellte, den Beklagten zur Gewährung der Pflegezulage und der halben Ausgleichsrente zu verurteilen. In dem Rechtsstreit der Parteien ist es stets nur darum gegangen, ob dem Kläger die Pflegezulage und die halbe Ausgleichsrente zusteht oder nicht; auch mit seinem Antrag in der Revisionsschrift wollte offenbar der Kläger, wie im übrigen aus der Revisionsbegründungsschrift vom 3. Mai 1954 hervorgeht, nur sein Begehren nach der Gewährung der Pflegezulage zum Ausdruck bringen. Der Kläger hat daher nicht sein Klagebegehren in der Revision geändert, sondern er hat mit seinem späteren Antrag nur seinen ursprünglichen Antrag aus der Revisionsschrift berichtigt. Selbst wenn der Kläger aber mit seinem Antrag in der Revisionsschrift tatsächlich nur eine Feststellung begehrt haben sollte, so liegt in dem Übergang vom Feststellungsantrag zum Leistungsantrag keine unzulässige Klageänderung; denn wenn ohne Änderung des Klagegrundes nur der Klageantrag erweitert wird, und eine solche Erweiterung liegt in dem Übergang vom Feststellungsantrag zum Leistungsantrag, so ist darin gemäß §§ 99 Abs. 3 Nr. 2, 153 Abs. 1, 165 SGG keine Klageänderung zu sehen (RGZ 171, 203, Baumbach ZPO § 268 Anmerkung 3, Stein-Jonas-Schönke ZPO, § 268 Anmerkung IV 1 und V 2).

Der Ansicht des Klägers, daß erwerbsunfähigen Hirnverletzten immer die einfache Pflegezulage zustände, gleichgültig welchen Grad der Erwerbsminderung allein die Hirnverletzung bedinge, konnte nicht gefolgt werden. Gemäß § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG erhalten erwerbsunfähige Hirnverletzte eine Pflegezulage, die nach dieser Vorschrift in der Fassung des BVG vom 20. Oktober 1950 (BGBl. I S. 791) 50,- DM und seit dem 1. August 1953 gemäß Art. I Nr. 13, Art. V Abs. 2 Buchstabe d des zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Bundesversorgungsgesetzes vom 7. August 1953 (BGBl. I S. 862) 60,- DM beträgt. Die Worte "erwerbsunfähige Hirnverletzte" können, für sich allein betrachtet, Zweifel erwecken, ob darunter alle Erwerbsunfähigen mit einer Hirnverletzung gemeint sind oder nur solche Erwerbsunfähige, die allein durch die Hirnverletzung erwerbsunfähig geworden sind. Ausdrücke, die das Gesetz verwendet, sind jedoch nicht für sich allein zu betrachten, sondern ergeben ihren wahren Sinn häufig erst bei einer vergleichenden Betrachtung mit den sonst im Gesetz verwendeten Ausdrücken. Allgemein macht das Bundesversorgungsgesetz keine Unterschiede nach der Art der Schädigungen, sondern nur nach dem Grad der dadurch bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit. Es spricht deshalb stets von "Beschädigten". Spricht das Bundesversorgungsgesetz ausnahmsweise von "Blinden", "tuberkulös Erkrankten", "Ohnhändern" und "Hirnverletzten" (§§ 14 Abs. 1, 25 Abs. 2, 31 Abs. 4, 35 Abs. 2), so führt es in diesen Fällen die Beschädigten einzig und allein wegen dieser Art ihrer Beschädigung einer Sonderbehandlung zu, ohne andere, gegebenenfalls außerdem noch vorhandene Schädigungen in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen. Wenn daher das Bundesversorgungsgesetz in § 35 Abs. 1 Satz 3 von "erwerbsunfähigen Hirnverletzten" spricht, so können nach dem Wortbrauch des Gesetzes darunter nur solche Beschädigten verstanden werden, die allein nach der Art ihrer Schädigung, nämlich nach der zur Erwerbsunfähigkeit führenden Hirnverletzung, eine Sonderstellung einnehmen sollen. Hätte das Gesetz in § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG aus der Masse der Beschädigten nicht eine besondere Gruppe allein nach dieser Art ihrer Schädigung hervorheben wollen, so hätte es nach seinem Wortbrauch hier von "erwerbsunfähigen hirnverletzten Beschädigten" oder "erwerbsunfähigen Beschädigten mit einer Hirnverletzung" sprechen müssen.

Abgesehen von der aus dem Wortlaut des § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG herzuleitenden Auslegung muß diese Auslegung auch aus der Stellung jener Vorschrift als Ausnahmevorschrift gefolgert werden. Nach dem Grundsatz des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG erhalten Beschädigte eine Pflegezulage nur bei Hilflosigkeit. Wenn ausnahmsweise "erwerbsunfähige Hirnverletzte" eine Pflegezulage erhalten sollen, ohne daß eine Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes vorzuliegen braucht, so ist diese Vorschrift nach den anerkannten Regeln der Gesetzesauslegung eng auszulegen. Gegenüber der vom Kläger vertretenen Auffassung über die Auslegung des § 35 Abs. 1 Satz 3, nach welcher Hirnverletzte immer die Pflegezulage erhalten sollen, wenn sie erwerbsunfähig sind, ist die Auslegung aber die engere, nach welcher Hirnverletzte diese Pflegezulage nur dann erhalten, wenn sie allein durch die Hirnverletzung erwerbsunfähig geworden sind.

Daß der § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG in diesem Sinne auch nach dem Willen des Gesetzgebers zu verstehen ist, ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes. Im Entwurf zum Bundesversorgungsgesetz war, wie auch in den Vorgängern dieses Gesetzes, dem Reichsversorgungsgesetz und dem Wehrmachtfürsorge- und -versorgungsgesetz, eine Bestimmung über die besondere Pflegezulage an Hirnverletzte nicht enthalten. Erst auf Grund der Verhandlungen des (26.) Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen des Deutschen Bundestages über das Bundesversorgungsgesetz wurde diese Bestimmung in das Gesetz aufgenommen. Aus den Verhandlungen (Druckschrift S. 38-40 und 139-140) ergibt sich aber, wie aus dem mannigfachen Gebrauch der Worte "100 % Hirngeschädigte", "Schwerhirngeschädigte" und aus dem Vergleich der Hirnverletzten mit den Blinden, Ohnhändern und Tuberkulösen hervorgeht, daß von dieser Bestimmung nur solche Hirnverletzte erfaßt werden sollten, deren Hirnschädigung besonders schwerer Art ist, nämlich so schwer, daß dadurch die Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist. Wenn daher in der späteren Fassung des Bundesversorgungsgesetzes von erwerbsunfähigen Hirnverletzten gesprochen wird, so sind darunter nach dem Willen des Gesetzgebers nur diejenigen Hirnverletzten zu verstehen, deren Erwerbsunfähigkeit allein durch die Hirnverletzung herbeigeführt worden ist (Schönleiter BVG § 35 Anmerkung 6, Thannheiser-Wende-Zech BVG zu § 35).

Bei einer anderen Auslegung würde diese Vorschrift auch zu dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) in Widerspruch geraten. Nach § 1 BVG sollen die unter das Gesetz fallenden Personen wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen ihrer Schädigungen versorgt werden. Unter Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes müssen daher gleiche Folgen auch gleiche Versorgungsansprüche auslösen, unabhängig davon, welche Art der Schädigung die Folgen verursacht hat. Stände daher bei der Gewährung der Pflegezulage an Hirnverletzte die Erwerbsunfähigkeit im Vordergrund der Betrachtung, so würde nicht erkennbar sein, welche sachlichen Umstände es rechtfertigen sollen, die Pflegezulage erwerbsunfähigen Beschädigten mit einer Hirnverletzung zu gewähren, erwerbsunfähigen Beschädigten mit anderen Verletzungen aber nicht. Bei einer richtigen Auslegung gerät diese Vorschrift nicht in jenen Widerspruch. Der Umstand, daß Beschädigte mit einer schweren Hirnverletzung, welche für sich allein schon zur Erwerbsunfähigkeit geführt hat, zwar nicht immer hilflos im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 sind, jedoch bei der Art und Schwere ihrer Verletzung im Vergleich zu den Hilflosen wohl andersartige, aber gleichschwere und gleichwertige Folgen zu tragen haben, rechtfertigt die Gültigkeit des § 35 Abs. 1 Satz 3 gegenüber Art. 3 Abs. 1 GG.

Das Versorgungsamt ... hat somit bei Erlaß seines Bescheides vom 7. Mai 1951 den § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG irrtümlich ausgelegt und dem Kläger die Pflegezulage gewährt, obwohl die Erwerbsunfähigkeit des Klägers nicht allein durch die Hirnverletzung bedingt ist und bei ihm, wie im übrigen festgestellt und unbestritten ist, auch keine Hilflosigkeit im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG besteht. Es hat also mit jenem Bescheid dem Kläger die Pflegezulage zu Unrecht bewilligt. Trotzdem war es nicht berechtigt, die einmal bewilligte Pflegezulage durch den Zuungunstenbescheid vom 28. September 1951 wieder zu entziehen.

Das Landessozialgericht hat in der angefochtenen Entscheidung die Berechtigung des Versorgungsamtes ... zum Erlaß des Zuungunstenbescheides auf Grund der z. Zt. der Bescheiderteilung geltenden Vorschriften des § 84 Abs. 3 BVG in Verbindung mit Art. 30 Abs. 4 KBLG angenommen. Diese Vorschriften, auf deren unrichtige Anwendung der Kläger seine Revision insbesondere stützt, unterliegen der Nachprüfung des Revisionsgerichts gemäß § 162 Abs. 2 SGG, da es sich hierbei um Bundesrecht handelt, auch wenn Vorschriften des KBLG, also eines bayerischen Landesgesetzes, angewendet sind. Dadurch, daß das BVG in § 84 Abs. 3 die bisherigen Verfahrensvorschriften, und zu diesen gehörte Art. 30 Abs. 4 KBLG, bis zu einer anderweitigen gesetzlichen Regelung für anwendbar erklärt hatte, waren diese Verfahrensvorschriften inhaltlich Bestandteil des BVG und damit schon aus diesem Grunde insoweit Bundesrecht geworden. Abgesehen davon, waren die Vorschriften des KBLG, auch für sich allein betrachtet, bereits mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes "partielles" Bundesrecht geworden, weil das in allen vier Ländern der amerikanischen Besatzungszone im wesentlichen inhaltsgleich geltende KBLG, wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 27. Januar 1950 (Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge 1950 S. 277) zutreffend ausgeführt hat, einen Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 Nr. 10 GG regelte und gemäß Art. 125 Nr. 1 GG Bundesrecht geworden war.

Der Auslegung des Art. 30 Abs. 4 KBLG in dem angefochtenen Urteil durch das ... Landessozialgericht kann aber nicht gefolgt werden. Nach den Worten dieser Vorschrift kann ein Zuungunstenbescheid nur dann erlassen werden, "wenn die Voraussetzungen der Bescheiderteilung sich als unzutreffend erweisen". Zu diesen Voraussetzungen der Bescheiderteilung gehören einmal die Annahme bestimmter Tatsachen, von denen der Bescheid ausgeht, zum anderen die Anwendung der betreffenden Rechtsnormen, auf Grund welcher die im Bescheid ausgesprochenen Rechtsfolgen an die angenommenen Tatsachen geknüpft werden. Da das Gesetz keine Unterschiede zwischen diesen Voraussetzungen gemacht hat, muß es daher zur Anwendung des Art. 30 Abs. 4 KBLG genügen, wenn sich entweder die tatsächlichen Voraussetzungen, also die Annahme bestimmter Tatsachen, oder die rechtlichen Voraussetzungen, also die Anwendung von Rechtsnormen auf die angenommenen Tatsachen, als unzutreffend erwiesen haben. Der Ansicht des Klägers, nach welcher nur die tatsächlichen Voraussetzungen von dieser Vorschrift erfaßt sein sollen, kann insoweit nicht gefolgt werden. In diesem Rechtsstreit handelt es sich nur um die rechtlichen Voraussetzungen der Bescheiderteilung, nämlich darum, ob die Anwendung des § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG auf die festgestellten und unbestritten vorliegenden Tatsachen sich als unzutreffend im Sinne des Art. 30 Abs. 4 KBLG erwiesen hatte. Dies trifft nicht zu. Art. 30 Abs. 4 KBLG war eine Ausnahmevorschrift zum Recht der Unfallversicherung, das gemäß § 84 Abs. 3 BVG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 KBLG für das Verwaltungsverfahren der Versorgungsbehörden im Geltungsbereich des KBLG bis zum 1. Mai 1955 galt und erst von diesem Tage durch § 51 Abs. 2 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 2. Mai 1955 (Bundesgesetzbl. I S. 202) außer Kraft gesetzt wurde. Die Reichsversicherungsordnung (RVO), in welcher das Recht der Unfallversicherung geregelt ist, kennt eine dem Art. 30 Abs. 4 KBLG vergleichbare Vorschrift, nach welcher der Erlaß eines Zuungunstenbescheides unter Aufhebung eines früheren rechtskräftig gewordenen Bescheides möglich wäre, nicht. Als Ausnahmevorschrift ist daher Art. 30 Abs. 4 KBLG einschränkend auszulegen. Es können daher nicht alle Fälle einer rechtsirrtümlichen Bescheiderteilung unter diese Vorschrift fallen, sondern es muß, um im Sinne des Art. 30 Abs. 4 KBLG davon sprechen zu können, daß sich die Voraussetzungen der Bescheiderteilung als unzutreffend erwiesen haben, die Anwendung der Rechtsnormen auf die angenommenen Tatsachen z. Zt. der Bescheiderteilung offenbar und ohne jeden Zweifel unzutreffend gewesen sein. Der Schutz der Rechtskraft, der nicht nur gerichtlichen Entscheidungen, sondern im Zuge der neuzeitlichen Rechtsentwicklung auch den Verwaltungsbescheiden, wenn auch mit gewissen Abwandlungen, zukommt, zwingt dazu, solche Bestimmungen, die einen Durchbruch der Rechtskraft gestatten, wie hier der Art. 30 Abs. 4 KBLG, nur in den engsten Grenzen anzuwenden. Der Rechtsfrieden, die Rechtssicherheit und das Vertrauen der Rechtsuchenden zur Tätigkeit der Verwaltungsbehörden der Kriegsopferversorgung erfordern das: Aus diesen Gedanken heraus hat auch bereits das frühere Reichsversorgungsgericht in ständiger Rechtsprechung den § 65 Abs. 2 des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen (Verfahrensgesetz) vom 10. Januar 1922 (Reichsgesetzbl. I S. 59) i. d. F. des Art. 21 V Nr. 5 der Personalabbauverordnung vom 27. Oktober 1923 (Reichsgesetzbl. I S. 999) ausgelegt. Dieser § 65 Abs. 2 des Verfahrensgesetzes ließ einen Zuungunstenbescheid dann zu, wenn der vorhergehende Bescheid "unrichtig" war. Obwohl diese Bestimmung ihrem Wortlaut nach nicht so einschränkend gefaßt war wie der Art. 30 Abs. 4 KBLG, hat doch das Reichsversorgungsgericht im Hinblick auf die zu schützende Rechtskraft der Bescheide und im Interesse der Rechtssicherheit einen Zuungunstenbescheid nur dann für zulässig gehalten, wenn der vorhergehende Bescheid auf "offenbaren Irrtümern" beruhte, wenn entgegen der Vermutung der Richtigkeit die "Unrichtigkeit des früheren Bescheides bewiesen" war, wenn für den vorhergehenden Bescheid die "Unrichtigkeit offenbar bewiesen" war, wenn die "Unrichtigkeit des früheren Bescheides außer jedem Zweifel" stand oder wenn die "bisherige Entscheidung zweifellos unrichtig" war (RVG Bd. 5 S. 41, Bd. 5 S. 282, Bd. 6 S. 4, Bd. 8 S. 182, Bd. 12 S. 212).

Auch das Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung, welches im Anschluß an das bisher gemäß § 84 Abs. 3 BVG geltende Verfahrensrecht mit dem 1. Mai 1955 in Kraft getreten ist, hat diesem Gedanken des Rechtsschutzes gegenüber einer Durchbrechung der Rechtskraft von Verwaltungsbescheiden, wie er bereits im § 62 Abs. 2 des Verfahrensgesetzes und im Art. 30 Abs. 4 KBLG niedergelegt und durch die Rechtsprechung noch weitgehend gefördert worden war, im § 41 Rechnung getragen und bestimmt, daß Bescheide über Rechtsansprüche durch Zuungunstenbescheide nur geändert und aufgehoben werden können, "wenn ihre tatsächliche und rechtliche Unrichtigkeit im Zeitpunkt ihres Erlasses außer Zweifel steht". Ob diese Fassung des Gesetzes zu noch weiteren Einschränkungen von Zuungunstenbescheiden zwingt, kann dahingestellt bleiben. Für den Erlaß von Zuungunstenbescheiden, die während der Geltungsdauer und im Geltungsbereich des Art. 30 Abs. 4 KBLG in Verbindung § 84 Abs. 3 BVG ergingen - und um einen solchen handelt es sich bei dem Zuungunstenbescheid des Versorgungsamtes ... vom 28. September 1951 -, muß jedenfalls, damit ein unter Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften ergangener Bescheid aufgehoben werden kann, gefordert werden, daß ein offenbarer Verstoß gegen klare Vorschriften des Gesetzes vorgelegen hatte. Ein derartiger Verstoß lag aber bei der Gewährung der Pflegezulage und der damit verbundenen halben Ausgleichsrente gemäß Bescheid des Versorgungsamtes ... vom 7. Mai 1951 nicht vor. Der Wortlaut des § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG ließ immerhin, zumal bei einer Betrachtung dieser Vorschrift für sich allein, Zweifel an seiner Auslegung zu. Auch in der Literatur zu dieser Vorschrift wird, wenn auch vereinzelt, die Ansicht vertreten, daß erwerbsunfähigen Hirnverletzten unabhängig von dem Grad der durch die Hirnverletzung allein bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit die einfache Pflegezulage zustehe (Schieckel BVG § 35 Anmerkung 5). Selbst der Bundesminister für Arbeit hat Anlaß gehabt, zu "Zweifelsfragen" bei der Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes in seinem Rundschreiben vom 24. Juli 1951 - IV b 1 - 1870/51 (BVBl. 1951 S. 354) unter Nr. 5 zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Er wollte allerdings nicht, wie das Versorgungsamt ... anzunehmen scheint, diejenigen Verwaltungsbehörden der Kriegsopferversorgung, die bisher zu einer abweichenden Auslegung des § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG gelangt waren, zum Erlaß von Zuungunstenbescheiden in solchen Fällen anregen, sondern nur seiner Meinung Ausdruck geben, welche Auslegung dieser Vorschrift zukommt.

Lag somit kein offenbarer Verstoß gegen den klaren Wortlaut einer gesetzlichen Vorschrift bei Erlaß des Bescheides vom 7. Mai 1951 vor, sondern nur eine irrige Auslegung der ihrem Wortlaut nach nicht eindeutig klaren Vorschrift des § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG, so durfte der Zuungunstenbescheid vom 28. September 1951 nicht ergehen, da die Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 30 Abs. 4 KBLG nicht erfüllt waren, i. S. dieser Vorschrift also sich nicht "als unzutreffend erwiesen" hatten.

Es mußte daher bei der Gewährung der Pflegezulage und der damit verbundenen halben Ausgleichsrente an den Kläger vom 1. Oktober 1950 an, wie sie der Bescheid des Versorgungsamtes ... vom 7. Mai 1951 zugesprochen hatte, verbleiben, und die Beklagte war unter Aufhebung des Urteils des ... Landessozialgerichts vom 10. März 1954 entsprechend zu verurteilen. Dabei mußten die seit dem 1. Oktober 1950 durch Änderungen des Bundesversorgungsgesetzes eingetretenen Erhöhungen der einfachen Pflegezulage und der halben Ausgleichsrente berücksichtigt werden.

Die außergerichtlichen Kosten des Klägers waren bei dem Ausgang des Rechtsstreits dem Beklagten gemäß § 193 SGG aufzuerlegen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324252

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