Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz bei Geschäfts- und Dienstreisen

 

Leitsatz (redaktionell)

Auf einem zur Erholung zurückgelegten Weg besteht nur dann Unfallversicherungsschutz, wenn die Art der Arbeit an die physischen oder psychischen Kräfte des Beschäftigten besondere Anforderungen stellt und die Erholung in der Arbeitspause notwendig ist, um die Weiterarbeit zu sichern.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 539 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 03.04.1974; Aktenzeichen L 2 U 239/72)

SG Landshut (Entscheidung vom 04.07.1972; Aktenzeichen S 8 U 251/71)

 

Tenor

Die Revision der Klägerinnen gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. April 1974 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerinnen sind die Hinterbliebenen des früheren Leiters der Abteilung Einkauf der I I eGmbH, Friedrich S (S.). S. war Teilnehmer eines vom Bildungswerk der Bayerischen Wirtschaft eV im K-hotel in B veranstalteten dreitätigen Mitarbeiterseminars. Die Seminarteilnehmer waren im K-hotel untergebracht. Am ersten Tag (23. März 1971) fand eine nur kurze Vormittagsveranstaltung statt, am Nachmittag, nach einer längeren Mittagspause, hielt der Seminarleiter ein mehrstündiges Referat. S. wollte noch an einer für 20 Uhr angesetzten Zusammenkunft teilnehmen, bei der die Teilnehmer von dem Leiter des Bereichs Mitarbeiterseminare im Bildungswerk begrüßt und über Sinn und Zweck des Bildungswerks unterrichtet werden sollten. Vor dieser Veranstaltung unternahm S. einen Spaziergang durch B dabei wurde er gegen 20,30 Uhr von einem überholenden Pkw erfaßt und tödlich verletzt.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 28. Juli 1971 eine Hinterbliebenenentschädigung ab, da S. keinen Arbeitsunfall erlitten habe; auf dem Spaziergang habe er private Interessen verfolgt, ein ursächlicher Zusammenhang mit der Beschäftigung bei der Firma F habe nicht bestanden.

Die auf Entschädigung des Unfalls als Arbeitsunfall gerichtete Klage der Klägerinnen hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 4. Juli 1972 abgewiesen, weil S. im Unfallzeitpunkt einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit nachgegangen sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Vernehmung des Seminarleiters Dipl.-Volkswirt Klaus B durch Urteil vom 3. April 1974 die Berufung der Klägerinnen als nach § 144 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unzulässig verworfen, soweit sie Sterbegeld und Überbrückungshilfe betrifft, im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Zeitraum zwischen der Nachmittags- und der beabsichtigten Abendveranstaltung könne zwar als Arbeitspause gewertet werden, die zur Betriebszeit rechne. Versicherungsschutz bestehe aber nicht bei allen Tätigkeiten während einer Arbeitspause. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (BSGE 4, 219) bestehe auf einem zur Erholung zurückgelegten Weg nur Versicherungsschutz, wenn der Weg zur Erhaltung der Arbeitskraft unmittelbar und unabweisbar geboten sei. Ausnahmsweise sei ein Beschäftigter auch auf einem Weg, der zB in der Mittagspause zur Erholung zurückgelegt werde, versichert wenn die Art der Arbeit oder das Arbeitsverfahren an die physischen oder psychischen Kräfte des Beschäftigten besondere Anforderungen stelle und die Erholung in der Arbeitspause notwendig sei, um die Weiterarbeit zu sichern. Ein solcher Sachverhalt liege hier nicht vor. Nach dem Tagesablauf am 23. März 1971, wie er von dem Seminarleiter geschildert worden sei, hätten die Art der Arbeit oder das Arbeitsverfahren keine besonderen Anforderungen an die physischen und psychischen Kräfte des Versicherten gestellt, und die Erholung in der Arbeitspause sei nicht notwendig gewesen, um die Teilnahme an der in Aussicht genommenen Abendveranstaltung zu sichern. Selbst wenn S. während der Vormittags- und Nachmittagsveranstaltung nicht nur zugehört, sondern sich auch an der Diskussion beteiligt haben sollte, seien dadurch an ihn - damals knapp 40 Jahre alt - keine Anforderungen in physischer und psychischer Hinsicht gestellt worden, die ihn ohne Erholungsspaziergang an der Abendveranstaltung gehindert hätten. S. habe sich zwar aus Anlaß versicherter Tätigkeit in B aufgehalten und sei dort anderen als in seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort L obwaltenden Gefahren ausgesetzt gewesen. Gleichwohl könne dem Erholungsspaziergang nicht die Bedeutung wesentlicher Betriebsbezogenheit beigemessen werden, weil er nicht aufgrund eines unabweisbaren betriebsbezogenen Erholungsbedürfnisses angetreten worden sei.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision machen die Klägerinnen geltend: Für S. sei die Erholungspause aus betriebsbezogenen Gründen erforderlich gewesen; er sei auch einer Gefahr erlegen, die durch Besonderheiten der ihm auferlegten Teilnahme am Seminar bedingt gewesen sei. Das LSG habe § 128 SGG verletzt, indem es sich auf die unzutreffende Annahme stütze, an den damals knapp 40 Jahre alten S. seien in den Stunden vor dem Spaziergang weder in physischer noch in psychischer Hinsicht Anforderungen gestellt worden, die ihn gehindert hätten, ohne den Erholungsspaziergang an der Abendveranstaltung teilzunehmen. Es gebe keine wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis, daß Vierzigjährige eine Lehrveranstaltung am Abend ohne Erholungspause voll aufnahmefähig fortsetzen könnten. Es liege zwar im Bereich des Möglichen, maßgebend seien jedoch die Umstände des Einzelfalles. Abgesehen davon gebe es wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse von Arbeitsmedizinern, nach welchen es bereits am Nachmittag bei allen Altersschichten zu einem Abbau der Leistungsfähigkeit komme, der nur durch entsprechende Pausen reduziert werden könne. S. sei zu einer Intensivschulung abgeordnet gewesen und der Verpflichtung gewissenhaft nachgekommen. Erhöhte Anforderungen seien am Unfalltag auch dadurch an ihn gestellt worden, daß er am Vormittag habe anreisen müssen. Es sei zwar nicht auszuschließen, daß er der unfallbringenden Gefahr hier und da auch bei privaten Spaziergängen begegnet sei. Generell aber und besonders im beruflichen Bereich gehöre das Gehen auf Landstraßen ohne Fußgängerwege nicht zu den täglichen Gepflogenheiten, auch nicht in betriebsbezogenen Schulungspausen.

Die Klägerinnen beantragen sinngemäß,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 28. Juli 1971 zu verurteilen, Hinterbliebenenrente zu

gewähren,

hilfsweise,

den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Revision der Klägerinnen ist nicht begründet.

Das LSG ist in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen, daß S. auf Weisung seiner Arbeitgeberin von seinem Wohn- und Beschäftigungsort L nach B gereist ist, um an dem im Klosterhotel vom Bildungswerk der Bayerischen Wirtschaft eV veranstalteten Mitarbeiterseminar teilzunehmen. Seine Auffassung, daß S. bei der vorgesehenen Teilnahme an der für 20 Uhr am Unfalltag im Hotel anberaumten Seminarveranstaltung unter Versicherungsschutz gestanden hätte (§ 539 Abs. 1 Nr. 1, § 548 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), ist danach zutreffend. Sie steht in Einklang mit der Rechtsprechung zum Versicherungsschutz auf Geschäfts- und Dienstreisen, die den Interessen des Unternehmens wesentlich dienen (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-8. Aufl., S. 482 h, 482 i mit Nachweisen aus der Rechtsprechung und Schrifttum). Die für Geschäfts- und Dienstreisen maßgebenden Kriterien zur Abgrenzung der rein persönlichen von den unter Versicherungsschutz stehenden Betätigungen des Reisenden außerhalb des Betriebsortes gelten grundsätzlich entsprechend auch für einen Fall der vorliegenden Art, in dem ein Beschäftigter auf Anordnung seines Arbeitgebers auswärts an einem in seinen beruflichen Wirkungskreis fallenden Arbeitsseminar teilnimmt. Nach der Rechtsprechung des BSG ist auf einer Dienstreise der Versicherungsschutz allerdings nicht bei jeder Betätigung schon deshalb ohne weiteres gegeben, weil sich der Reisende in einer fremden Stadt aufhalten muß. Es ist vielmehr auch hier zu unterscheiden zwischen Betätigungen, die mit dem Beschäftigungsverhältnis rechtlich wesentlich zusammenhängen, und solchen Verrichtungen, die der privaten Sphäre des Reisenden angehören. Der Versicherungsschutz entfällt jedenfalls, wenn der Reisende sich rein persönlichen, von der Betriebstätigkeit - hier: der Teilnahme am Mitarbeiterseminar - nicht mehr beeinflußten Belangen widmet (vgl. BSGE 8,48, 50; 12, 247, 250; SozR Nr. 3 zu § 548 RVO mit weiteren Nachweisen; BSGE 39, 180, 181; vgl. auch Brackmann, aaO, S. 482 i mit Nachweisen). Spaziergänge in der Freizeit gehören, wie der erkennende Senat schon in seinem Urteil vom 30. Juli 1958 (BSG 8, 48, 50) beispielhaft angeführt hat, grundsätzlich zu den Betätigungen, bei denen es auch während einer Dienstreise an der rechtlich wesentlichen Beziehung zur versicherten Tätigkeit fehlt. Ein Unfall, der sich wie im vorliegenden Fall auf einem Spaziergang ereignet hat, kann hiernach nicht allein deshalb als Arbeitsunfall angesehen werden, weil der Beschäftigte durch die Teilnahme an einem Arbeitsseminar genötigt war, sich außerhalb seines Wohnortes in einer fremden Umgebung aufzuhalten. Ein Spaziergang während einer Dienstreise in der Freizeit steht mit der versicherten Tätigkeit im ursächlichen Zusammenhang nur, wenn er aus besonderen Gründen zur notwendigen Erholung für eine weitere betriebliche Betätigung am auswärtigen Aufenthaltsort erforderlich ist (zum Spaziergang während einer Arbeitspause vgl. Brackmann, aaO, S. 482 b II, 482 c; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 68 zu § 548, jeweils mit Nachweisen). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt weitgehend von den Umständen des Einzelfalles ab.

Nach den Feststellungen des LSG befand sich S. zur Unfallzeit auf dem Rückweg von einem Spaziergang durch den Ort B zum Hotel, wo er an der für 20 Uhr vorgesehenen Veranstaltung teilnehmen wollte und sollte. Die Entscheidung hängt davon ab, ob der Spaziergang in der Pause zwischen der Nachmittags- und der vorgesehenen Abendveranstaltung nach den besonderen Umständen erforderlich war, damit S. den Anforderungen, die in der Abendveranstaltung an ihn gestellt worden wären, genügen konnte. Das LSG hat hierzu festgestellt, daß durch die Teilnahme an der nur kurzen Vormittagsveranstaltung und der nach einer längeren Mittagspause durchgeführten mehrstündigen Nachmittagsveranstaltung an S. weder in physischer noch in psychischer Hinsicht besondere Anforderungen gestellt wurden, die einen Erholungsspaziergang erforderlich gemacht hätten; die Erholung durch einen Spaziergang in der Abendpause sei nicht notwendig gewesen, um an der in Aussicht genommenen Abendveranstaltung teilnehmen zu können. Hiernach liegen die Voraussetzungen, unter denen auf einem Erholungsspaziergang Versicherungsschutz anzunehmen ist, nicht vor. An die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil ist der erkennende Senat gebunden; durchgreifende Revisionsgründe in Bezug auf diese Feststellungen sind nicht erhoben (§ 163 SGG). Soweit in der Revisionsbegründung behauptet wird, es habe sich bei dem Mitarbeiterseminar um eine Intensivschulung gehandelt, fehlt es an der erforderlichen substantiierten Darlegung, daß und inwiefern hiervon abweichende Feststellungen des LSG unter Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften zustande gekommen sind. Eine Verletzung des § 128 SGG liegt nicht schon darin, daß nach Meinung der Revision bei einer ihr zutreffend erscheinenden Beweiswürdigung das Berufungsgericht zu einem anderen Beweisergebnis hätte gelangen müssen. S. war zur Unfallzeit 40 Jahre alt. Dies hat das LSG erwähnt, ohne jedoch diesem Umstand eine ausschlaggebende Bedeutung beizumessen. Darüber hinaus meint auch die Revision, es liege im Bereich des Möglichen, daß Vierzigjährige ohne Erholungspause eine Lehrveranstaltung am Abend voll aufnahmefähig fortsetzen können. Schon deshalb liegt in dem Vorbringen, das LSG habe sich auf eine weder generell noch im Einzelfall zutreffende Annahme gestützt, keine Darlegung einer Überschreitung der gesetzlichen Grenzen des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 SGG), insbesondere nicht eines Verstoßes gegen die Denkgesetze. Der Hinweis der Revision auf wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse, nach welchen es bereits am Nachmittag bei allen Altersschichten zu einem Abbau der Leistungsfähigkeit komme, der nur durch entsprechende Pausen reduziert werden könne, läßt außer acht, daß den Teilnehmern eine Freizeit von fast 2 Stunden zwischen dem Ende der Nachmittagsveranstaltung und dem vorgesehenen Beginn der Abendveranstaltung zur Verfügung gestanden hat. Daß S. nach dem Revisionsvorbringen zwar gelegentlich bei privaten Spaziergängen, nicht jedoch im beruflichen Bereich den durch das Gehen auf einer Landstraße ohne Fußgängerweg bedingten Gefahren des Straßenverkehrs ausgesetzt war, ist kein versicherungsrechtlich erheblicher Umstand, aus dem ein Versicherungsschutz für den Zeitpunkt des Unfalls herzuleiten wäre.

Die Revision ist demzufolge nicht begründet. Das LSG hat im Ergebnis richtig entschieden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653198

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