Leitsatz (amtlich)

1. Ein Bescheid, mit dem die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bewilligt und in dem zugleich wegen des gleichzeitigen Bezugs einer Verletztenrente aus der Unfallversicherung das Ruhen eines Teils der Versichertenrente ausgesprochen wird, hat über diese Regelungen hinaus keine bindende Wirkung. Der Versicherungsträger ist nicht gehindert, später wegen des Bezugs einer zweiten Unfallrente ein erweitertes Ruhen der Versichertenrente auszusprechen; dazu ist er selbst dann befugt, wenn ihm der Bezug der zweiten Verletztenrente bei Erlaß des Bewilligungsbescheides bekannt war oder bekannt sein mußte. Die zunächst versehentlich unterbliebene Anordnung des Ruhens kann er rückwirkend vornehmen (Fortführung der Rechtsprechung des RVA, AN 1939, 246).

2. Der Versicherungsträger darf zu Unrecht gewährte Leistungen zurückfordern,

a) wenn der Versicherte vor Feststellung der Leistung nicht alles getan hat, was ihm als ordentlichem Versicherten zu tun oblag, oder

b) wenn er beim Leistungsempfang die Unrechtmäßigkeit des Bezugs erkannte oder hätte erkennen müssen.

3. An der Auffassung, daß im Rahmen von SGG § 79 Nr 1 alle Ermessensentscheidungen - vorbehaltlich des SGG § 81 - der Nachprüfung im Widerspruchsverfahren zu unterwerfen sind, wird festgehalten (Festhaltung BSG 1956-08-23 3 RJ 293/55 = BSGE 3, 209).

 

Normenkette

RVO § 1299 Fassung: 1959-07-23, § 1301 Fassung: 1957-02-23, § 1278 Fassung: 1957-02-23, § 1631 Fassung: 1924-12-15, § 1633 Fassung: 1924-12-15; SGG § 79 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 81

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. November 1960 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Mit Bescheid vom 30. Juli 1954 wurde dem Kläger die Invalidenrente bewilligt. Gleichzeitig damit wurde wegen des Bezugs von zwei Unfallrenten im Betrage von monatlich 53,- und 80,- DM, insgesamt also von 133,- DM, das Ruhen eines Teils der Invalidenrente ausgesprochen. Ferner enthielt der Bescheid die Erklärung: "Wegen der reichsgesetzlichen Unfallrenten von 53,- und 80,- DM monatlich wird auf Mitteilung verzichtet. Jede Änderung oder der Bezug anderer Renten bleibt mitzuteilen". Über die ab 1. Januar 1957 vorzunehmende Umstellung der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erteilte die Beklagte dem Kläger am 17. Januar 1958 einen weiteren Bescheid. Hierbei erwähnte sie jedoch nur die Existenz einer Unfallrente, setzte bei der angestellten Rentenberechnung auch bloß den Betrag von 53,- DM ab und gab als Höhe der nunmehr zu zahlenden Versichertenrente einen Betrag von monatlich 226,40 DM an. Sie hatte diesen Umstellungsbescheid erlassen, nachdem lediglich einer der beiden Unfallversicherungsträger auf ihre Anfrage bezüglich der zugrunde zu legenden Berechnungsfaktoren geantwortet hatte. Dagegen ließ sie die vorläufige Nachricht außer acht, welche vom Träger der zweiten Unfallrente, der Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung in W, gegeben worden war; diese hatte mitgeteilt, daß sie die Verletztenrente zur Zeit wegen eines schwebenden Klageverfahrens nicht umrechnen könne. Erst als die Bundesausführungsbehörde bekanntgab, daß die von ihr gezahlte Rente von 80,10 DM unverändert weitergewährt werde, "ergänzte" die Beklagte am 31. Mai 1958 ihren Umstellungsbescheid, stellte nunmehr fest, daß dem Kläger nur eine Teilrente von 116,30 DM monatlich zustehe, ordnete für die Vergangenheit die Rückzahlung des überhobenen Betrages von insgesamt 1.441,80 DM an und verfügte, daß diese Summe im Wege der Aufrechnung in monatlichen Raten von 30,- DM von der laufenden Rente einbehalten werde.

Der gegen die Rückforderung gerichteten Klage gab das Sozialgericht Oldenburg (durch Urteil vom 28. Januar 1960) statt: Mit dem Anspruch auf Erstattung der zuviel geleisteten Beträge verstoße die Beklagte gegen Treu und Glauben. Die Überzahlungen seien allein durch das eigene Verschulden des Versicherungsträgers entstanden. Das Landessozialgericht Niedersachsen (Urteil vom 18. November 1960) wies hingegen die Klage ab. Es nahm an: Der vorab im Januar 1958 ergangene Umstellungsbescheid verwirkliche den Tatbestand eines "unvollständigen Verwaltungsakts", weil er die zweite Unfallrente nicht als zusätzlichen Grund für das Ruhen der Versichertenrente in Rechnung gestellt habe. Die Unvollständigkeit bestehe in dem "Verschweigen" eines für die Rentenzahlung rechtserheblichen Umstandes. Schweigen bedeute aber nicht dasselbe wie anerkennen. Deshalb sei der Versicherungsträger weder aus Gründen der Rechtskraft noch infolge der Bindungswirkung gehindert gewesen, auf den zunächst übergangenen Sachverhalt nachträglich einzugehen und seine Regelung dementsprechend später zu ergänzen. Der Kläger habe sohin Bezüge in einer Höhe erhalten, die durch eine Verwaltungsentscheidung nicht gedeckt gewesen seien. Deshalb und weil der Kläger beim Geldempfang nicht gutgläubig gewesen sei, vielmehr sogar positiv gewußt habe, daß ihm die Bezüge in dem tatsächlich gezahlten Ausmaß nicht zustanden, könne die Beklagte die Erstattung verlangen. Für die Tatsache, daß der Kläger den wahren Sachverhalt erkannt habe, spreche der Umstand, daß nur ein Analphabet die Lücke in dem in seiner rechnerischen Darstellung klar aufgebauten Bescheid vom 17. Januar 1958 nicht gesehen hätte.

Gegen das am 3. Dezember 1960 zugestellte Urteil legte der Kläger am 9. Dezember 1960 die von dem Landessozialgericht zugelassene Revision ein; er begründete diese am 23. Dezember 1960. Einmal tritt er der Ansicht des Berufungsgerichts entgegen, daß die Leistungen zu Unrecht bewirkt worden seien, und bezieht sich auf die Vorschrift des § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) über die Bindung von Verwaltungsakten. Er meint, der Bescheid vom 17. Januar 1958 sei auch zur Höhe des Auszahlungsanspruchs verbindlich geworden und habe nicht später rückwirkend zum Nachteil des Klägers geändert werden können. Des weiteren wendet sich der Kläger gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, er - der Kläger - habe beim Empfang der überhobenen Bezüge die Rechtsgrundlosigkeit des zuviel Erhaltenen gekannt.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. November 1960 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 28. Januar 1960 zurückzuweisen;

die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die kraft Zulassung statthafte, in rechter Form und Frist eingelegte und begründete Revision hat aus einem verfahrensrechtlichen Grunde Erfolg.

Die Vorinstanzen haben über den Sachanspruch des Klägers erkannt, obgleich eine sachliche Entscheidung nicht - zumindest noch nicht - ergehen konnte. Denn dem Rechtsstreit hätte ein Vorverfahren vorausgehen müssen (§ 78 SGG). Vor Erhebung der Anfechtungsklage waren die Rechtmäßigkeit und vor allem die Zweckmäßigkeit der geltend gemachten Rückforderung in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Das verlangt § 79 Nr. 1 SGG. Diese Vorschrift wird in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts weit ausgelegt: Der Vorverfahrenspflicht wird jeder Verwaltungsakt unterworfen, dessen Regelung - wie hier (vgl. § 1301 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) - von einem Verwaltungsermessen abhängt (BSG 3, 209, 215; 7, 292; so auch schon Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. I S. 240 w). Dazu zählen mithin nicht bloß Verwaltungsakte, welche "reine" Ermessensleistungen betreffen, sondern auch - unbeschadet der Vorschrift des § 81 SGG - alle von einem Ermessen der Verwaltung irgendwie mitbeeinflußte Entschließungen - selbst wenn diese sich gegen den Einzelnen richten und von ihm ein Handeln oder Dulden fordern. Die an dieser Rechtsprechung von dem Sozialgericht geübte, aus dem Text und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes hergeleitete Kritik vermag nicht zu überzeugen. Der Wortlaut des § 79 Nr. 1 SGG kann - wie bereits in BSG 3, 215 eingeräumt wurde - für die engere wie für die weitere Deutung ins Feld geführt werden. Gleichwohl soll man die ausgreifende Ausdrucksweise des Gesetzes nicht übersehen: Die Kontrolle ist für jeden Verwaltungsakt vorgeschrieben, "der nicht eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht". Die eigenartige Stellung des Wortes "nicht" in der Gesetzesformulierung muß zu denken geben. Aus der gesetzlichen Regelung werden zwar Streitigkeiten über Pflichtleistungen ausgeklammert; aber es werden nicht nur die Verfahren über "Kannleistungen" einbezogen. Ebensowenig liefert die Entstehungsgeschichte ein stichhaltiges Argument gegen die ausdehnende Interpretation. Freilich ist in den Materialien des Gesetzes, vornehmlich in der Begründung zum Gesetzentwurf (§ 28), nicht von Ermessensentscheidungen der Versicherungsträger, sondern von "Ermessensansprüchen" die Rede. Dafür, daß das Anwendungsfeld der Vorschrift aber nur auf die sogenannten Kannleistungen und nicht allgemein auf Ermessensakte der sozialen Verwaltung bezogen werden sollte, liefern die Materialien keinen Anhalt. Der Hinweis in den gesetzgeberischen Vorarbeiten auf die sogenannten Ermessensansprüche deutet nicht auf eine ausschließende Besonderheit gerade dieser Leistungsseite hin; dies um so weniger, als der Gesetzgeber mit § 79 Nr. 1 SGG den umfassenderen rechtspolitischen Zweck verfolgte, den Selbstverwaltungsorganen die Möglichkeit zu einem "Überblick über die laufende Verwaltung" zu geben. Dieses Ziel wäre nur unvollkommen erreicht, wenn den Widerspruchsstellen so wichtige Entschließungen wie die vorliegenden, bei denen die Verwaltung über einen beachtlichen Handlungsspielraum verfügt, nicht unterbreitet würden. Für die volle Nachprüfung der Ermessensausübung im Verwaltungsvorverfahren besteht aber um so mehr ein Bedürfnis, als den Gerichten die Kontrolle hierüber nur daraufhin zusteht, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen ein dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechender Gebrauch gemacht worden ist. War demnach § 79 Nr. 1 SGG anzuwenden, dann durfte das Vorverfahren hier nicht unterbleiben. Ein Weiteres kommt nämlich noch hinzu: Für den endgültigen Ausgang der Sache kann es von erheblicher Bedeutung sein, daß das Vorverfahren nachgeholt wird. Ist doch nicht abzusehen, in welcher Weise und mit welchem Ergebnis die Widerspruchsstelle von ihrer in § 1301 RVO wurzelnden Verpflichtung zur Ausübung des Ermessens Gebrauch machen wird. Auf ein derartiges Ermessen wird es ausschlaggebend ankommen, wenn - was durchaus im Bereich des Möglichen liegt - der Erstattungsanspruch als solcher zu Recht erhoben und damit der Tatbestand des § 79 Nr. 1 SGG gegeben ist. Es fehlte und fehlt daher an einer positiven Voraussetzung für die Zulässigkeit des Prozesses. Das Vorliegen dieser Prozeßvoraussetzung hatten die Vorinstanzen und hat das Revisionsgericht von Amts wegen zu beachten, gleichviel, ob die Beklagte diesen Verfahrensmangel gerügt hat.

Daß eine Ermessensentscheidung in Betracht kommt, weil der Rückforderungsanspruch als solcher gegeben sein kann, zeigen folgende Überlegungen:

"Zu Unrecht gezahlt" worden ist die zurückgeforderte Summe, weil die Versichertenrente des Klägers auch insoweit, als sie mit der zweiten Verletztenrente zusammentraf, geruht hat. Damit ist sie in dem nach und nach aufgelaufenen Umfang ohne Rechtsgrund geleistet worden. Das Ruhen der Rente trat ohne eine Verlautbarung durch den Versicherungsträger von selbst, allein deshalb ein, weil der gesetzliche Tatbestand, der das Ruhen auslöst, verwirklicht war.

- So die ständige Rechtsprechung seit der Entscheidung des Reichsversicherungsamts in Amtlichen Nachrichten - AN 1897, 275 Nr. 556. -

Wohl ist dem Versicherten in der Form eines Bescheides (§ 1631 Abs. 1 RVO) mitzuteilen, daß und von welchem Zeitpunkt ab sein Zahlungsanspruch infolge des Ruhens überhaupt oder zu einem Teil weggefallen ist.

- Vgl. §§ 1633, 1626 Abs. 3 RVO; auch Reichsversicherungsamt AN - J u AV - 1892, 116 Nr. 162. -

Doch stellt ein solcher Bescheid bloß klar, was schon Rechtens ist. Er enthält keine echte Entscheidung.

Davon, daß im gegenwärtigen Rechtsstreit die Versichertenrente des Klägers wegen des gleichzeitigen Bezugs von zwei Unfallrenten ruhte, ist auszugehen. Das Recht und die Pflicht des Versicherungsträgers, die Leistung wegen ihres Ruhens zu verweigern, wurde durch ein Anerkenntnis des Rentenanspruchs nicht ausgeschlossen. An der Rechtsfolge des Ruhens, die ohne weiteres an das Bestehen bestimmter Tatsachen geknüpft ist, rüttelte der Bescheid vom 17. Januar 1958 nicht. Freilich ließ er sich nicht über die zweite Unfallrente und die daraus für den Bezug der Versichertenrente zu ziehenden Folgerungen aus. Er erwähnt nur einen von zwei das Ruhen herbeiführenden Umständen, aber: er leugnete dieses zweite Moment auch nicht. Deshalb hatte es bei dem sein Bewenden, was unvermittelt aus dem Gesetz folgt. An einer Rechtsgestaltung, welche auf diese vorgegebene Situation hätte einwirken können, fehlt es hier. Denn es wäre ein irriger Schluß, wollte man unterstellen, daß in dem Schweigen der Beklagten zu diesem Punkt ein Verzicht auf die Geltendmachung der zweiten Ruhensursache zu erblicken sei. Gerade das wäre aber erforderlich. Läßt man die volle Tragweite des Satzes, daß trotz Leistungszusage die Rente ipso jure ruhe, zur Geltung kommen, so erweist es sich als folgerichtig, daß ein von der gesetzlich festgelegten Ordnung abweichender Rechtszustand nur entstehen kann, wenn der Versicherungsträger speziell in bezug auf die konkrete Ruhensfolge eine - dem gesetzten Recht zuwiderlaufende - Erklärung wirklich abgibt, diese Erklärung mithin gesetzwidrig ist, aber aus Gründen der Rechtssicherheit in der Sache bindend wird. Lediglich dann, wenn ein Bescheid nicht nur den Rentenanspruch als solchen, sondern auch sein Ruhen zum Gegenstand hat, wenn er regelt, daß die Rente nicht oder nicht wegen eines weiteren Grundes ruhe, ist der Versicherungsträger gehindert, nachträglich das Gegenteil anzunehmen.

- Reichsversicherungsamt AN 1939, 83 Nr. 5267; AN 1939, 246 Nr. 5294. -

Hat er es indessen lediglich verabsäumt, auf alle von mehreren zum Ruhen der Rente führende Anlässe hinzuweisen, so verwehrt es ihm seine eigene Entscheidung nicht, die aus dem objektiven Recht abzuleitende Folge später noch geltend zu machen. Die Unabänderlichkeit eines hoheitlichen Ausspruchs ist nicht ohne Bezug auf seinen Inhalt zu beurteilen. Für den Inhalt der eingegangenen Verpflichtung kommt allein der verfügende Teil des Verwaltungsakts im Zusammenhang mit seinem übrigen Inhalt in Betracht. Was unausgesprochen blieb, war nicht Gegenstand des Bescheides und nimmt deshalb nicht an der Bindungswirkung teil.

Sonach sind die Beträge, die der Kläger zuviel erhalten hat, nicht gerechtfertigt. Damit sind zugleich die Erfordernisse erfüllt, die den öffentlich-rechtlichen Rückforderungsanspruch des Versicherungsträgers begründen. Dieser Anspruch wird vom Gesetz teilweise vorausgesetzt, teilweise aber auch in seinen Grundzügen gestaltet (§§ 1299, 1301 RVO). Der Anspruch entsteht uneingeschränkt, lediglich von den Merkmalen der Zahlung und Nichtschuld abhängig.

- Reichsgericht in Zivilsachen RGZ 81, 340 ff; Reichsversicherungsamt AN 1921, 405 Nr. 2673. -

Das Ziel des Rückforderungsanspruchs ist es, die mit den Anforderungen der materiellen Gerechtigkeit nicht mehr übereinstimmende Vermögenslage auszugleichen. Ein gerechter und billiger Ausgleich ist jedoch nicht immer in der vollen Rückgewähr des ohne rechtlichen Grund gezahlten Geldbetrages zu finden. Das bürgerliche Recht hat die Grenzlinie dort gezogen, wo es den Einwand des Wegfalls der Bereicherung (§ 818 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) gelten läßt. Die entsprechende Anwendung von § 818 Abs. 3 BGB wird im Recht der Sozialversicherung aber nicht als nächstliegende und sachangemessene empfunden. - Grundlegend: RGZ 81, 340 ff. - Um die miteinander konkurrierenden Interessen der öffentlichen Hand und des einzelnen Staatsbürgers gebührend würdigen, sie gegeneinander abwägen zu können, ist jedoch auch der Rückforderungsanspruch des Rechts der Rentenversicherung unter den Leitgedanken von Treu und Glauben im Rechtsverkehr zu stellen.

- so bereits das Reichsversicherungsamt AN 1939, 246 Nr. 5294; vgl. auch Bogs, DOK 1939, 669; von Altrock, NJW 1954, 1634; Lehmann/Grube, Der Rückforderungsanspruch im Sozialrecht, Stuttgart 1962. -

Zur Lösung im Einzelfall hatte das Reichsversicherungsamt wegweisende Richtlinien entwickelt. Die Pflicht zur Erstattung nicht gerechtfertigter Leistungen bestehe dann nicht, wenn 1. der Versicherte vor dem Empfang der Leistung alles getan habe, was ihm als ordentlichem Versicherten zu tun oblag, wenn also die Ursache für die fehlerhafte Vermögensverschiebung nicht in seinem Verantwortungsbereich zu finden sei (wahrheitsgemäße Angaben, kein Versehen, kein Verschweigen); 2. die Überzahlung auf ein Verschulden des Feststellungsorgans zurückzuführen sei und 3. dadurch, daß der Rückzahlungsanspruch verwirklicht werde, der Versicherte in eine Lage versetzt würde, die schlechter wäre, als der wirtschaftliche Zustand, in dem er sich vor der unrechtmäßigen Leistung befand. Das sei anzunehmen, wenn der Versicherte wegen des Einbehaltens von Rentenbeträgen die Hilfe der öffentlichen Fürsorge überhaupt oder in verstärktem Maße in Anspruch nehmen müsse.

In den ersten beiden Punkten - und nur dazu ist hier Stellung zu nehmen - ist den Richtlinien des Reichsversicherungsamts im wesentlichen zu folgen. Sie werden jedoch - einer Anregung Haueisens folgend (NJW 1958, 642 f) - stärker dahin abzuwandeln sein, daß es für die Zurechenbarkeit der rechtsgrundlosen Leistung in den einen oder anderen "Verantwortungsbereich" nicht eigentlich auf ein Verschulden des Versicherungsträgers als vielmehr auf das Erwecken eines schutzwürdigen Vertrauens im Versicherten ankommt. Auf Treu und Glauben im Rechtsverkehr kann sich danach der Versicherte berufen, der die objektiv ungerechtfertigte Leistung selbst gutgläubig entgegennahm und auch nicht zu wissen brauchte, daß ihm die gezahlten Bezüge im Zeitpunkt der Zahlung nicht oder nicht in der bisherigen Höhe zustanden, der sich mithin auf eine Rente dieses Ausmaßes redlich einrichten durfte. Sein Vertrauen darf nicht unbillig enttäuscht werden, vorausgesetzt, daß sich das Vertrauen auf einen Tatbestand bezieht, der durch das Verhalten des anderen, welcher später die Änderung herbeiführen will, gesetzt und immer mehr gefestigt worden war. Angesichts solcher Situation muß sich der Versicherungsträger entgegenhalten lassen, daß er im Widerspruch zu seinem bisherigen Verhalten eine bestimmte rechtliche Beziehung plötzlich anders als bisher beurteilt wissen will. Je längere Zeit hindurch diejenige Ordnung für maßgebend erachtet worden war, die plötzlich einseitig und rückwirkend umgestoßen werden soll, um so tiefer ist das Vertrauen im anderen begründet und um so schwerer fällt der Gedanke an die Unzulässigkeit der Rückwendung ins Gewicht.

Bezieht man diese Überlegungen auf den konkreten Fall, so wird dem Berufungsgericht zunächst darin beizutreten sein, daß dem Kläger nicht vorgehalten werden kann, er habe schuldhaft eine Obliegenheit verletzt, die er dem Versicherungsträger gegenüber zu erfüllen hatte. Der Versicherte hat - nach dem bislang festgestellten Sachverhalt - weder falsche Angaben gemacht, noch war er verpflichtet, allein auf gewisse Mutmaßungen hin den Versicherungsträger auf den begangenen Fehler bei der Anweisung der Rente aufmerksam zu machen. Davon unabhängig ist aber die Frage zu untersuchen, ob der Kläger die Umstände kannte oder nach dem Verlauf der Sache erkennen mußte, welche die Fehlerhaftigkeit des Verwaltungshandelns bewirkten. An dieser Stelle ist einzuschalten: Der Kläger wäre beim Empfang der Leistungen gutgläubig gewesen, wenn er nicht wußte und auch nicht zu wissen brauchte, daß ihm die Leistung nicht in der gezahlten Höhe zustand. Das Berufungsgericht hat demgegenüber geglaubt, feststellen zu müssen, aber auch feststellen zu können: Der Kläger habe klar erkannt, daß ihm zuviel gezahlt werde. Gegen diese Stellungnahme des Berufungsgerichts hat die Revision auf tatsächlichem Gebiet Rügen erhoben. Hierauf ist im gegenwärtigen Rechtszug nicht näher einzugehen. Auf die in dieser Beziehung von der Revision nicht ohne Grund vorgetragenen Bedenken wird aber das Berufungsgericht, falls es nochmals zur Sache wird entscheiden müssen, zurückzukommen haben; es wird seine Auffassung, in bezug auf ihre Stichhaltigkeit und Vertretbarkeit hin, überprüfen müssen. Dessen ungeachtet wird vom Rechtlichen her in Rechnung zu stellen sein, daß der Kläger ein schutzwürdiges Vertrauen schon dann nicht besitzt, wenn er aus Nachlässigkeit oder aus sonstigen von ihm zu vertretenden Gründen bei Entgegennahme der Rentenbezüge die Tatsache der Überzahlung nicht erkannte. In dieser Hinsicht dürften die Anforderungen, die an den Tatbestand der Gutgläubigkeit zu stellen sind, über den vom Berufungsgericht angewandten Maßstab hinausgehen. Der Bezieher einer unrechtmäßigen Leistung ist nicht redlich, wenn er seine Nichtberechtigung infolge von Fahrlässigkeit nicht kannte (vgl. BSG 11, 44, 47). Das Wissen allein und nicht auch das Wissenmüssen mag lediglich dann das einzige Kriterium der Gutgläubigkeit sein, wenn dem Versicherten eine ausdrückliche Erklärung der Versicherungsanstalt zur Seite steht; wenn er sich durch einen Verwaltungsakt zum Erwerb des Geldes zusätzlich für legitimiert halten darf. Dann ist eben das Vertrauen des Erklärungsempfängers an einen Gegenstand gebunden, dem durch seine Beschaffenheit und Funktion stärkere Verläßlichkeit zukommt. Davon ist jedoch, wie oben dargelegt wurde, in dieser Sache nicht auszugehen.

Neben anderen Gesichtspunkten wird dem Kläger gewiß die allgemeine Erfahrung zugute kommen, daß eine öffentliche Kasse in der Regel Zahlungen nicht ohne sorgfältige Erforschung und Beobachtung aller Vorbedingungen vornimmt. Doch durfte sich deswegen der Kläger noch nicht beruhigen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß er ernstliche Zweifel hätte schöpfen müssen. Daraufhin wird der Sachverhalt noch genauer zu durchleuchten sein.

Zu bedenken ist dabei: Selbstverständlich darf dem Versicherten nicht das gesamte Risiko fehlerhaften Verwaltungshandelns aufgebürdet werden. Das widerspräche der natürlichen Anschauung. Das Bundessozialgericht hat denn auch auf dem Gebiete der Kriegsopferversorgung die Nachprüfungspflicht des Staatsbürgers eingeschränkt, indem es einen subjektiven Fahrlässigkeitsbegriff verwendet hat (BSG 5, 267, 269; 11, 44, 47). Es hat die Berufung auf den guten Glauben nicht gelten lassen, wo von dem Empfänger einer Überzahlung ein ausreichender Einblick in die tatsächlichen Zusammenhänge erwartet werden konnte. Für die Entscheidung, ob dem Bürger die Unkenntnis zuzurechnen war, hat es seine persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit sowie sein Einsichtsvermögen zur Richtschnur erhoben. Es liegt nahe, dieser Betrachtungsweise auch für das Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung zu folgen; jedoch braucht diese Frage hier nicht abschließend entschieden zu werden. Die mit der Sache befaßten Verwaltungsstellen und Gerichte werden sich indessen für die weitere Bearbeitung der Sache Klarheit über den anzuwendenden Maßstab verschaffen und die Tatsachenermittlungen daran orientieren müssen.

Aus dem vorher Gesagten folgt, daß die Rückforderung der Beklagten berechtigt sein kann. Es ist aber darüber hinaus nicht nur dem Ermessen der Beklagten anvertraut, ob und in welcher Weise sie den Anspruch in die Tat umsetzt. Vielmehr ist die Beklagte dem Kläger gegenüber auch verpflichtet, von der ihr erteilten Ermächtigung des freien Entschließens einen fehlerfreien Gebrauch zu machen. Zwar wird die "schrankenlose" Rückforderung durch die Anwendung des Prinzips von Treu und Glauben gemildert. Dies enthebt aber die Versicherungsträger dennoch nicht, jeweils auf die Fallbesonderheiten und Einzelbelange Rücksicht zu nehmen, indem sie erwägen, ob sie von der Rückforderung aus Billigkeitsmomenten ganz oder teilweise absehen sollen. Daß sie diese Erwägungen angestellt haben, werden sie dem Betroffenen gegenüber in einer überprüfbaren Weise darzutun haben. Darauf zu achten, ist die Widerspruchsstelle an erster Stelle berufen. Deshalb ist das fehlende Widerspruchsverfahren unentbehrlich. Dies erscheint rechtlich möglich. Denn entweder ist die Frist zur Einleitung des Vorverfahrens ohnehin als gewährt anzusehen (so: Bettermann, DVBl 1959, 308, 312) oder es kommt eine Nachsichtgewährung (§§ 66 Abs. 2, 67 Abs. 3 SGG) in Betracht; denn einmal bestand Ungewißheit über die Notwendigkeit eines Widerspruchs und zweitens war der Kläger nicht über den richtigerweise einzuschlagenden Weg aufgeklärt worden (vgl. BSG, Urt. v. 29.6.1962 - 2 RU 82/60 -). Damit nunmehr die Entscheidung der Widerspruchsstelle in der prozeßwirtschaftlich für die Beteiligten einfachsten Weise herbeigeführt werden kann, hielt es der Senat für tunlich, die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324239

NJW 1962, 2078

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