Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit eines als Versicherungsvertreter tätigen ehemaligen Flugzeugführers

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Berufsunfähigkeit von Flugzeugführern. - betr Zumutbarkeit von Verweisungen.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Im neuen Recht ist der Kreis der zumutbaren Tätigkeiten, auf die verwiesen werden darf, durch das Gesetz selbst bestimmt worden. Er deckt sich nicht in allem mit der Berufsgruppe iS der früheren Rechtsprechung.

2. Ein Antragsteller darf nicht auf eine bestimmte Tätigkeit verwiesen werden, wenn ihm diese Tätigkeit nicht zugemutet werden kann. Bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer Verweisung sind die Dauer und der Umfang einer Ausbildung, sowie der bisherige Beruf in jedem Fall zu berücksichtigen. Als bisheriger Beruf ist in der Regel die frühere versicherungspflichtige Beschäftigung anzusehen.

3. Bei den technischen und kaufmännischen Angestellten handelt es sich um zwei getrennte Berufsgruppen. Die Übernahme einer nur angelernten Hilfstätigkeit durch einen qualifizierten Fachmann einer anderen Berufsgruppe stellt in der Regel keinen Berufswechsel dar, der eine die Berufsunfähigkeit ausschließende Verweisung rechtfertigt.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 22. November 1957 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Hamburg zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger erstrebt ein Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit. Er ist 52 Jahre alt, Flugzeugführer und war zur Zeit des Berufungsverfahrens als Versicherungsvertreter tätig. Sein beruflicher Werdegang verlief in folgenden Stufen: nach der Schulzeit zunächst Praktikant in der Radiomechanik, anschließend vier Jahre Ausbildung als Verkehrsflieger, dann Flugzeugvolontär, Bordmonteur und Flugzeugfunker bei der Deutschen Lufthansa, schließlich bei dieser Gesellschaft Flugzeugführer und Flugkapitän. Während des Krieges war er bei der Wehrmacht ebenfalls als Flugzeugführer eingesetzt, später Lehrer für Blindflug und zugleich mit Aufgaben eines Luftfahrtsachverständigen betraut. Nach vierjähriger Kriegsgefangenschaft im russischen Sibirien war er zunächst längere Zeit hindurch arbeitsunfähig und dann arbeitslos. 1952 nahm er, weil seine Wiederverwendung im aktiven Flugdienst wegen eines Herzbefundes bedenklich erschien, eine Tätigkeit als "freier Versicherungsvertreter im Innendienst einer Versicherungsgesellschaft" auf. Diese Tätigkeit brachte ihm nach den zuletzt getroffenen Feststellungen etwa 300 DM brutto im Monat ein.

Nach Abschluß der Fliegerausbildung sind für den Kläger von der Deutschen Lufthansa Pflichtbeiträge zur Angestelltenversicherung (AV.) entrichtet worden, und zwar bis in die erste Zeit seiner Tätigkeit als Flugzeugführer hinein. Danach war er wegen der Höhe seines Gehalts versicherungsfrei. Von 1949 an sind wieder Beiträge oder Ersatzzeiten zur Erhaltung der Anwartschaft nachgewiesen. Ob und in welchem Umfange für die Zwischenzeit Beiträge geleistet worden oder Ersatzzeiten (etwa Wehrdienstzeiten) anzurechnen sind, ist bisher noch nicht geklärt.

Die Beklagte und beide Vorinstanzen verneinten das Vorliegen von Berufsunfähigkeit und versagten deshalb das Ruhegeld (Bescheid vom 4. Oktober 1954, Urteil des Sozialgerichts - SG. - Hamburg vom 17. Juli 1956, Urteil des Landessozialgerichts - LSG. - Hamburg vom 22. November 1957). Das LSG. folgerte auf Grund der von mehreren ärztlichen Sachverständigen bestätigten Herz- und Kreislaufkrankheiten des Klägers, daß dieser für jeden aktiven Flugdienst untauglich sei. Der Kläger müsse sich jedoch auf den Beruf eines Versicherungsvertreters verweisen lassen. Sein Gesundheitszustand erlaube ihm Tätigkeiten dieser Art. Die Verweisung darauf sei sowohl wirtschaftlich als auch sozial zumutbar.

Das LSG. ließ die Revision zu. Der Kläger legte gegen das ihm am 20. Dezember 1957 zugestellte Urteil des LSG. am 17. Januar 1958 Revision ein und begründete sie am 11. Februar 1958. Er beantragte, die Vorentscheidungen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm vom 1. Mai 1954 an das Ruhegeld zu gewähren, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen. Er rügte die unrichtige Auslegung des Begriffs der Berufsunfähigkeit durch das LSG. (Verletzung der §§ 27 AVG a. F., 23 Abs. 2 AVG n. F.). Gegenüber seinem erlernten und lange Jahre hindurch ausgeübten Beruf als Flugzeugführer und Flugkapitän bedeute seine jetzige Beschäftigung einen unzumutbaren sozialen Abstieg.

Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig und begründet.

Der Rentenantrag wurde 1954 gestellt. Die in diesem Rechtsstreit zu klärende Frage, ob beim Kläger damals Berufsunfähigkeit vorlag und heute noch vorliegt, ist für die Zeit bis Ende 1956 nach dem damals geltenden Recht (§ 27 AVG a. F.) und für die folgende Zeit nach dem "Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten" vom 23. Februar 1957 (AnVNG) zu beurteilen (§ 23 Abs. 2 AVG n. F.; BSG. 8 S. 31, 33). Nach beiden gesetzlichen Vorschriften ist berufsunfähig der Versicherte, "dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich oder geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist." Der Hinweis in dieser Begriffsbestimmung auf den "gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten" erlaubt die Verweisung eines Antragstellers, der in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt ist, auf eine andere als seine bisherige Tätigkeit, erfordert aber, daß der Kreis der Tätigkeiten, auf die er verwiesen werden darf, näher abgegrenzt werden muß. Unter dem früheren Recht (§ 27 AVG a. F.) hat die Rechtsprechung die Tätigkeiten, die im wesentlichen gleichartig sind und annähernd sozial gleichstehen, zu "Berufsgruppen" zusammengefaßt. Eine Verweisung auf eine andere als die bisherige Tätigkeit mußte sich in der Regel auf die Tätigkeiten der Berufsgruppe des Antragstellers beschränken, jedoch waren Verweisungen auch auf andere Berufsgruppen unter Umständen zulässig, so etwa, wenn der Versicherte mehrere Berufe nebeneinander ausgeübt oder seinen Beruf gewechselt hatte (vgl. Koch-Hartmann-v. Altrock-Fürst, Das Angestelltenversicherungsgesetz, 2. Aufl., S. 284 ff.). Im neuen Recht ist der Kreis der zumutbaren Tätigkeiten, auf die verwiesen werden darf, durch das Gesetz selbst bestimmt worden (§ 23 Abs. 2 Satz 2 und 3 AVG n. F.). Er deckt sich nicht in allem mit der Berufsgruppe im Sinne der früheren Rechtsprechung, sondern umfaßt - unabhängig von der Berufsgruppe - alle Tätigkeiten, "die den Kräften und Fähigkeiten des Versicherten entsprechen und die ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können". Danach müssen die in Betracht gezogenen Tätigkeiten "den Kräften und Fähigkeiten entsprechen" und "zumutbar" sein. Die Gleichstellung dieser zwei Voraussetzungen bedeutet, daß beide zugleich vorliegen müssen. Entfällt eine davon, ist eine Verweisung unzulässig. Ein Antragsteller darf also nicht auf eine bestimmte Tätigkeit verwiesen werden, wenn ihm diese Tätigkeit nicht zugemutet werden kann. Er ist dann, falls die Erwerbsfähigkeit für seinen Beruf um mehr als die Hälfte gemindert ist, berufsunfähig, selbst wenn er durch eine Beschäftigung noch verdient, vielleicht sogar mehr als die Hälfte eines vergleichbaren Versicherten. Bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer Verweisung sind die Dauer und der Umfang einer Ausbildung sowie der bisherige Beruf in jedem Fall zu berücksichtigen (vgl. Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, S. 73 ff.). Als bisheriger Beruf ist in der Regel die frühere versicherungspflichtige Beschäftigung anzusehen, nicht eine nach dem Ausscheiden aus ihr ausgeübte, auch wenn während dieser Zeit freiwillige Weiterversicherung bestand (BSG. 7 S. 66).

Das Berufungsgericht hat aus den ärztlichen Gutachten mit Recht gefolgert, daß der Kläger für jede Fliegertätigkeit untauglich ist. Davon sind auch bereits die Beklagte und das SG. ausgegangen. Die Annahme jedoch, daß sich der Kläger auf seine jetzige Tätigkeit als Versicherungsvertreter verweisen lassen müsse und deshalb nicht berufsunfähig sei, ist jedenfalls so allgemein, wie sie das LSG. in seinem Urteil ausspricht, nicht begründet.

Der Kläger gehört nach seiner Ausbildung und seinem Berufsweg zur Gruppe der nautisch-technischen Angestellten. In diesem Berufszweig war er rund 25 Jahre lang tätig. Seine Pflichtbeiträge zur AV. fallen in diese Zeit. Ein "freier Versicherungsvertreter im Innendienst" - das LSG. hat nicht gesagt, was es darunter versteht, und auch nicht aufgeklärt, worin die Arbeit des Klägers besteht, - ist jedenfalls kaufmännisch tätig. Bei den technischen und kaufmännischen Angestellten handelt es sich um zwei getrennte Berufsgruppen; sie unterscheiden sich sogar besonders stark von einander. Das ist für die Nautiker und Ingenieure in der Seeschiffahrt seit langem anerkannt. Sie werden deshalb bei Borddienstunfähigkeit grundsätzlich nur auf Landberufe mit seemännischem Einschlag verwiesen, auf kaufmännische oder verwaltende Berufe ausnahmsweise dann, wenn ein Berufswechsel stattgefunden hat. Diese Grundsätze lassen sich bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit von Flugzeugführern sinngemäß anwenden. Das LSG. hätte deshalb aufklären müssen, ob und welche Berufe es außerhalb des aktiven Flugdienstes gibt, in denen der Kläger seine besonderen Kenntnisse und Berufserfahrungen verwerten kann, und ob solche Stellen in nennenswertem Umfang vorhanden sind. Das Gericht hat zwar, wie sich aus dem Tatbestand seines Urteils ergibt, Anfragen dieser Art an mehrere Behörden und Dienststellen gerichtet, es hat die Antworten aber nicht verwertet, so daß es insoweit an tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) fehlt. Auch dürften noch Auskünfte der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, des Bundesministers für Verkehr, des Bundesministers für Verteidigung, der Wetterwarten, der zuständigen Berufsgenossenschaften hinsichtlich des technischen Aufsichtsdienstes und von Flugzeugwerken zweckdienlich sein. Aus der jetzigen Tätigkeit des Klägers als freier Versicherungsvertreter kann nicht ohne weiteres, wie es das LSG. getan hat, auf einen echten Berufswechsel geschlossen werden. Der Beruf eines Versicherungskaufmanns erfordert eine eigene Ausbildung. Sie ist beim Kläger nicht nachgewiesen. Das LSG. spricht in seinem Urteil nur von einer "Einarbeit im Innendienst". Vielleicht verrichtet er auf diesem Gebiet angelernte Hilfsarbeiten, etwa in freier Mitarbeit bei einer Versicherungsdirektion. Für eine abschließende Beurteilung, insbesondere auch über die soziale Gleichwertigkeit, fehlen hinreichende tatsächliche Feststellungen, so etwa über die Kenntnisse des Klägers in kaufmännischen und versicherungsrechtlichen Angelegenheiten, die Merkmale seiner Tätigkeit, die vertraglichen Vereinbarungen und die Art seiner Stellung (vergl. BSG. 9 S. 206). Das letztere könnte bedeutsam sein, wenn es sich um eine Vertrauensposition handeln sollte, die dem Kläger gerade mit Rücksicht auf seine frühere verantwortungsvolle Arbeit übertragen wurde. Aus den noch anzustellenden Ermittlungen lassen sich möglicherweise Schlüsse ziehen, ob es sich um einen echten Berufswechsel handelt. Die näheren Umstände dieses Einzelfalles sprechen zunächst dagegen. Die Übernahme einer nur angelernten Hilfstätigkeit durch einen qualifizierten Fachmann einer anderen Berufsgruppe stellt in der Regel keinen Berufswechsel dar, der eine die Berufsunfähigkeit ausschließende Verweisung rechtfertigte.

Die vorgeschlagenen Ermittlungen sind auch erforderlich, um prüfen zu können, ob der Kläger nach dem neuen Recht auf eine andere als seine bisherige Tätigkeit verwiesen werden darf. Wenn auch das neue Recht die Verweisungsmöglichkeit nicht mehr so stark wie das frühere Recht auf die Berufsgruppe beschränkt, so dürfte die Verweisung des Klägers auf die Tätigkeit eines Versicherungsvertreters - ohne hinreichende Aufklärung des Sachverhalts - doch bedenklich sein. Die nunmehr vom Gesetz selbst bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer Verweisung vorgeschriebene Berücksichtigung der Dauer einer Ausbildung sowie des bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit läßt es unzulässig erscheinen, einen geprüften und beruflich erfahrenen Flugzeugführer etwa auf eine Anlerntätigkeit im Versicherungsgewerbe zu verweisen, falls nicht besondere, bisher aber nicht ermittelte Umstände dies ausnahmsweise rechtfertigen. Beim Kläger deutet schon das zeitliche Verhältnis, in dem die Ausübung seines nautisch-technischen Berufs zu der jetzigen Versicherungstätigkeit steht, auf die Unzumutbarkeit der Verweisung hin. Noch mehr tut das ein Vergleich, den man zwischen der Verantwortung in beiden Berufen und ihrer sozialen Wertung anstellt.

Die bisherigen Feststellungen reichen nicht aus, um schon jetzt über die Berufsfähigkeit oder Berufsunfähigkeit des Klägers abschließend entscheiden zu können. Der Rechtsstreit muß deshalb noch einmal vor dem Berufungsgericht verbandelt werden (§ 170 Abs. 2 SGG). Dabei wird das LSG. auch das Versicherungsverhältnis des Klägers - seine Beitrags- und Ersatzzeiten sowie sein Recht zur freiwilligen Entrichtung von Beiträgen seit 1949 - genau klären müssen; es wird auch abschließend über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2000651

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