Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld, Herabsetzung des. Nettolohnersatzquote, Absenkung der. Fremdlast. gewöhnlich anfallender Abzug Rückwirkung, gesetzliche, echte. Rückwirkungsverbot Verhältnissmäßigkeitsgrundsatz. Eigentumsgarantie
Leitsatz (amtlich)
Die Kürzung des Arbeitslosengeldes zum 1.1.1994 (Herabsetzung der Nettolohnersatzquote von 63 vH auf 60 vH) ist verfassungsgemäß (Anschluß an BSG vom 8.2.1996 – 11 RAr 63/95).
Normenkette
AFG § 111 Fassung: 1993-12-21, § 112 Abs. 1 Fassung: 1987-12-14, Abs. 3 Fassung: 1987-12-14, Abs. 2 Fassung: 1987-12-14, § 242g; GG Art. 14 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. April 1995 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I.
Der Kläger begehrt die – ungekürzte (346,20 DM statt 324,60 DM wöchentlich) – Weiterzahlung von Arbeitlosengeld (Alg) über den 1. Januar 1994 hinaus bis 26. Januar 1994.
Der 1931 geborene Kläger war bis 31. Mai 1989 beschäftigt; beim Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis waren die Monate März bis Mai 1989 mit einem festen monatlichen Bruttogehalt von 2.854,00 DM (bei vereinbarter tariflicher Wochenstundenzahl von 37) abgerechnet und ausgezahlt. Vom 1. Juni 1989 bis 31. Mai 1991 erhielt der Kläger Vorruhestandsgeld; ab 1. Juni 1991 zahlte die Beklagte Alg, und zwar ab 1. Juni 1993 in Höhe von 346,20 DM wöchentlich nach einem dynamisierten Bemessungsentgelt von 770,00 DM (Leistungsgruppe C; Nettolohnersatzquote von 63 vH). Ab 1. Januar 1994 setzt sie das Alg auf 324,60 DM wöchentlich herab, weil steigende Sozialversicherungsbeiträge und eine Absenkung der im Arbeitsförderungsgesetz (AFG) vorgesehenen Nettolohnersatzquote von 63 vH auf 60 vH nach der AFG-Leistungsverordnung für das Jahr 1994 zu einem niedrigeren Alg führten (Bescheid vom 4. Januar 1994; Widerspruchsbescheid vom 4. Februar 1994). Wegen bereits seit 17. Dezember 1993 bescheinigter Arbeitsunfähigkeit wurde Alg gemäß § 105b AFG nur bis 26. Januar 1994 gezahlt; danach bezog der Kläger Krankengeld.
Die Klage auf ungekürzte Fortzahlung des Alg für die Zeit vom 1. bis 26. Januar 1994 blieb erst- und zweitinstanzlich erfolglos (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 28. Juli 1994; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 6. April 1995). Das LSG hat seine Entscheidung damit begründet, daß die Höhe des dem Kläger zustehenden Alg nach verfassungsrechtlich zulässiger Herabsetzung des Zahlbetrags ab 1. Januar 1994 richtig berechnet worden sei.
Mit der Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Zwar habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Abwertung eigentumsrechtlich geschützter Positionen des Arbeitsförderungsrechts mit dem im öffentlichen Interesse liegenden Ziel, der defizitären Finanzlage der Bundesanstalt für Arbeit (BA) entgegenzuwirken, für gerechtfertigt erachtet. Die vorliegende Kürzung ab 1. Januar 1994 durch das Erste Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) beruhe indes nicht darauf, daß die Haushaltslage der Beklagten durch das Mißverhältnis von Beiträgen und Leistungsansprüchen, sondern vielmehr durch Fremdlasten verursacht worden sei, deren Bewältigung eine allgemein staatliche, aus Steuern oder Abgaben von allen Staatsbürgern zu finanzierende Aufgabe sei. Der Gesetzgeber habe der Beklagten gerade mit dem Altersübergangsgeld (Alüg) für ältere Arbeitslose in den neuen Bundesländern, aber auch mit den Leistungen zur Förderung der beruflichen Bildung in verfassungswidriger Weise beitragsfinanzierte Fremdlasten aufgebürdet. Um die Erforderlichkeit eines Eingriffs in realisierte Ansprüche zu begründen, genüge es deshalb nicht, auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu verweisen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. Januar 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Februar 1994 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, die Herabsetzung des Alg verstoße nicht gegen die Verfassung.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet (§ 170 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫); die Entscheidung des LSG enthält keine Gesetzesverletzung.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 4. Januar 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Februar 1994, gegen den sich der Kläger mit der isolierten Anfechtungsklage wehrt (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG). Inhaltlich geht es dem Kläger nämlich um die Fortzahlung des in Höhe von 346,20 DM wöchentlich bewilligten Alg über den 31. Dezember 1993 hinaus bis zum 26. Januar 1994. Ob und inwieweit bereits aus dem Umstand, daß lediglich ein Änderungsbescheid angefochten ist, eine Beschränkung des Streitgegenstands resultiert (vgl hierzu die Senatsurteile vom 9. Mai 1996 – 7 RAr 48/95 und 7 RAr 42/95 –, ersteres zur Veröffentlichung vorgesehen), ist nicht entscheidungserheblich; auch unter Beachtung aller die Alg-Höhe bestimmenden Faktoren ist nämlich eine höhere Leistung nicht gerechtfertigt.
Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel stehen einer Sachentscheidung nicht entgegen. Insbesondere war die Berufung gegen das Urteil des SG kraft Zulassung statthaft (§§ 143, 144 Abs. 1 SGG in der seit 1. März 1993 geltenden Fassung).
In der Sache hat das LSG zutreffend entschieden, daß der Kläger für die Zeit vom 1. bis 26. Januar 1994 kein höheres Alg als 324,60 DM wöchentlich beanspruchen kann. Rechtsgrundlage ist § 242q AFG iVm § 111 AFG (beide idF des 1. SKWPG vom 21. Dezember 1993 – BGBl I 2353), § 112 Abs. 1 und 3 AFG (idF des Achten Gesetzes zur Änderung des AFG vom 14. Dezember 1987 – BGBl I 2602), § 112 Abs. 2 AFG (idF des Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes und anderer Vorschriften vom 30. Juni 1989 – BGBl I 1297) – vgl § 242q Abs. 7 AFG – und § 113 AFG (idF des Gesetzes zur Änderung von Förderungsvoraussetzungen im AFG und in anderen Gesetzen vom 18. Dezember 1992 – BGBl I 2044).
Nach § 111 Abs. 1 AFG beträgt das Alg seit 1. Januar 1994 für Arbeitslose ohne Kinder (Familienstatus) 60 vH des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Arbeitsentgelts. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung bestimmt die Leistungssätze jeweils für ein Kalenderjahr durch Rechtsverordnung (§ 111 Abs. 2 Satz 1 AFG), wobei neben dem Familienstatus die Lohnsteuerklasse (§ 113 AFG) und die Höhe des (regelmäßig zu dynamisierenden – § 112a AFG) Arbeitsentgelts (Bemessungsentgelt) zugrunde gelegt wird.
Arbeitsentgelt iS des § 111 Abs. 1 AFG ist das Arbeitsentgelt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum durchschnittlich in der Woche erzielt hat (§ 112 Abs. 1 Satz 1 AFG); der Bemessungszeitraum umfaßt die beim Ausscheiden des Arbeitnehmers abgerechneten Lohnabrechnungszeiträume der letzten drei Monate der die Beitragspflicht begründenden Beschäftigungen vor der Entstehung des Anspruchs, in denen der Arbeitslose Arbeitsentgelt erzielt hat (§ 112 Abs. 2 Satz 1 AFG). Für die Berechnung des in der Woche durchschnittlich erzielten Arbeitsentgelts wird das im Bemessungszeitraum durchschnittlich in der Arbeitsstunde erzielte Arbeitsentgelt (Lohnfaktor) mit der Zahl der Arbeitsstunden vervielfacht (Zeitfaktor), die sich als Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Beschäftigungsverhältnisse im Bemessungszeitraum ergibt (§ 112 Abs. 3 Satz 1 AFG). Hierbei gilt Arbeitsentgelt, das – wie beim Kläger – nach Monaten bemessen ist, bei der Bestimmung des Lohnfaktors als in der Zahl von Arbeitsstunden erzielt, die sich ergibt, wenn die Zahl der vereinbarten regelmäßigen wöchentlichen Arbeitsstunden mit 13 vervielfacht und durch drei geteilt wird (§ 112 Abs. 3 Satz 2 AFG).
Auf der Grundlage dieser Vorschriften hat die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid zutreffend das dem Kläger zustehende Alg mit Wirkung ab 1. Januar 1994 gekürzt; insoweit gehen die eine rückwirkende Änderung anordnenden §§ 242q Abs. 5 iVm Abs. 2 Satz 3, 111 Abs. 2 Satz 6 AFG als Spezialregelungen dem § 48 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) vor (BSGE 76, 162, 173; BSG, Urteil vom 8. Februar 1996 – 11 RAr 63/95 – zur Veröffentlichung vorgesehen; vgl auch Husmann in Gemeinschaftskomm zum AFG, Stand März 1996, § 111 RdNrn 329 bis 339).
Mit der Leistungsgruppe C hat die Beklagte dem Kläger die günstigste Lohnsteuerklasse (Lohnsteuerklasse III) zugebilligt. Zutreffend hat sie, ausgehend von einem abgerechneten und zugeflossenen Monatsverdienst in Höhe von 2.854,00 DM für die Monate März bis Mai 1989 (bei vereinbarter tariflicher Wochenstundenzahl von 37), ein zum 1. Juni 1993 von einem Ausgangsbemessungsentgelt in Höhe von 660,00 DM dynamisiertes Arbeitsentgelt in Höhe von gerundet 770,00 DM ermittelt. Unter Berücksichtigung des Familienstatus (ohne Kind) rechtfertigt dies nach der AFG-Leistungsverordnung für das Jahr 1994 ab 1. Januar 1994 lediglich noch einen Alg-Betrag von 324,60 DM wöchentlich.
Dieses Ergebnis ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Maßstab für die Zulässigkeit, bindend festgestellte Leistungen bei Arbeitslosigkeit abzusenken, ist insoweit die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG (BVerfGE 72, 9, 18 f = SozR 4100 § 104 Nr. 13; BVerfGE 76, 220, 235 = SozR 4100 § 242b Nr. 3); dabei ergibt sich die Reichweite des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes erst aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums, die dem Gesetzgeber nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG auferlegt ist (vgl nur: BVerfGE 76, 220, 238 = SozR 4100 § 242b Nr. 3; BSG SozR 3-2500 § 44 Nr. 4; BSG, Urteil vom 8. Februar 1996 – 11 RAr 63/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Dessen Gestaltungsfreiheit unterliegt allerdings Grenzen; insbesondere muß die Verfassung insgesamt beachtet werden (BVerfGE 14, 263, 278), wie etwa der zum Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gehörende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der Grundsatz des Vertrauensschutzes, für den nach der Rechtsprechung des BVerfG Art. 14 GG alleiniger Maßstab ist (vgl nur: BVerfGE 76, 220, 244 f = SozR 4100 § 242b Nr. 3).
Die Voraussetzungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind erfüllt, wenn der Eingriff zur Erreichung des angestrebten, im öffentlichen Interesse liegenden Ziels geeignet und erforderlich ist und die Betroffenen dadurch nicht übermäßig und in für sie unzumutbarer Weise belastet werden (BVerfGE 76, 220, 238 = SozR 4100 § 242b Nr. 3 mwN). Diesen Anforderungen genügen die Vorschriften, die Grundlage des von der Beklagten erlassenen Änderungsbescheids sind.
Soweit der niedrigere Zahlbetrag auf Steigerungen der Beitragssätze zur Sozialversicherung beruht, fehlt es bereits an einem Eingriff iS des Art. 14 GG in eine gesetzlich begründete Rechtsposition Arbeitsloser (BSG, Urteil vom 8. Februar 1996 – 11 RAr 63/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Dem Alg-Anspruch ist vielmehr eine Absenkung bei für Arbeitnehmer steigenden Abgaben immanent. § 111 Abs. 1 AFG normiert nämlich mit seiner Bezugnahme auf das „um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderte Arbeitsentgelt” lediglich eine Nettolohnersatzquote in dem Sinne, daß nur das Arbeitsentgelt ersetzt wird, das der Arbeitslose, hätte er Arbeit, im Leistungszeitraum verdienen könnte (BSG, Urteil vom 8. Februar 1996 – 11 RAr 63/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen); dann aber ist die gesetzlich begründete Rechtsposition – der Alg-Anspruch – von vornherein mit der Einschränkung behaftet, daß sich steigende Abgaben der Arbeitnehmer leistungsmindernd auswirken.
Ein Verstoß gegen Art. 14 GG liegt aber auch nicht in der Absenkung der Nettolohnersatzquote von 63 vH auf 60 vH. Mit seiner Entscheidung vom 28. Juni 1995 (BSGE 76, 162 ff, 173 ff) hat der Senat bereits die Kürzung der Nettolohnersatzquote beim Unterhaltsgeld angesichts der sich drastisch verschlechternden Finanzlage, die bei der Beklagten für das Jahr 1994 ein Defizit von 18 Mrd DM erwarten ließ, für verfassungsrechtlich zulässig erachtet. Dem hat sich der 11. Senat durch Urteil vom 8. Februar 1996 – 11 RAr 63/95, zur Veröffentlichung vorgesehen – für die Situation beim Alg angeschlossen.
Auch beim Alg ist die Absenkung des prozentualen Leistungssatzes von 63 vH auf 60 vH im Hinblick auf das angestrebte Ziel der Haushaltskonsolidierung verhältnismäßig und in ihrem Umfang für die Betroffenen noch zumutbar. Insbesondere ist, wie der 11. Senat im zitierten Urteil zutreffend ausgeführt hat, die Funktion der Leistung erhalten geblieben; denn trotz der Gesetzesänderung ist es Arbeitslosen, die ein mittleres Arbeitsentgelt erzielt haben, grundsätzlich noch möglich, den eigenen notwendigen Lebensbedarf (Existenzminimum) aus der Versicherungsleistung zu decken, ohne Sozialhilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Bei dieser Sachlage kann auch dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG), das dem Gesetzgeber zur Verwirklichung einer gerechten Sozialordnung ohnedies einen breiten Gestaltungsspielraum zugesteht (vgl nur BVerfGE 70, 278, 288), kein weiter gehender Anspruch entnommen werden (BSG, Urteil vom 8. Februar 1996 – 11 RAr 63/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Der Einwand des Klägers, das für das Jahr 1994 bei der Beklagten erwartete Defizit resultiere wesentlich aus sog Fremdlasten, die durch Steuern oder allgemeine Abgaben hätten finanziert werden müssen, rechtfertigt keine andere Entscheidung. Ein im Rahmen des Art. 14 GG relevanter Verfassungsverstoß einer unzulässigen Verschiebung bzw Verlagerung von Kompetenzen auf die Solidargemeinschaft der Versicherten läßt sich hiermit weder über Art. 3 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip noch wegen Abweichens von Grundprinzipien der Finanzverfassung (aA Leisner, NZS 1996, 97, 100 f) noch über das Verhältnismäßigkeitsprinzip (unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit des Eingriffs) begründen. Insoweit geht es weniger um die Bestimmung des diffusen Begriffs der „Fremdlast” (vgl dazu Leisner, a.a.O., mwN zum Diskussionsstand) als darum, ob nicht bei einer am Gerechtigkeitsmaßstab orientierten Betrachtungsweise ein Teilausgleich des Defizits der BA durch allgemeine Steuermittel verfassungsrechtlich geboten gewesen wäre. Nach Ansicht des Klägers hätten die Leistungen zur Förderung der beruflichen Bildung und das Alüg nicht durch Beiträge finanziert und bei erwarteten Beitragsmindereinnahmen ersatzweise Leistungskürzungen beim Alg vorgenommen werden dürfen. Dem kann indes nicht gefolgt werden. Dem Verfassungsrecht ist kein Verbot der Finanzierung dieser beiden Leistungsarten durch Beiträge zu entnehmen; dem Gesetzgeber ist es deshalb erlaubt, das für das Jahr 1994 und die Folgezeit erwartete Defizit durch Absenkung der Nettolohnersatzquote auszugleichen.
Nach der Rechtsprechung des BVerfG handelt es sich bei den Beiträgen zur Sozialversicherung und Arbeitslosenversicherung nicht um sog nichtsteuerliche Sonderabgaben (vgl hierzu BVerfGE 67, 256, 276 f; 91, 186, 201 ff), bei denen der Gesetzgeber besonderen finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzeinschränkungen unterliegt (BVerfGE 75, 108, 147 ff). Die gesetzgeberische Kompetenz zur Beitragsregelung folgt vielmehr aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG selbst, der dem Bund das Recht zur konkurrierenden Gesetzgebung auf dem Gebiet ua der Arbeitsvermittlung sowie der Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung einräumt. Anders ausgedrückt: Soweit gesetzgeberische Regelungen sich sachlich-gegenständlich im Kompetenzbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG bewegen, sind kompetenzrechtlich auch die zur Finanzierung der Sozialversicherung getroffenen Regelungen unbedenklich (BVerfGE 75, 108, 148). Das ist hier sowohl bezüglich der Leistungen zur Förderung der beruflichen Bildung als auch bezüglich des Alüg der Fall.
Schon im Jahre 1980 hat das BVerfG betont, daß das AFG einen grundlegenden Wandel im bisherigen Verständnis der Aufgabenstellung der Arbeitsverwaltung gebracht habe (BVerfGE 53, 313, 323 ff = SozR 4100 § 168 Nr. 12). Im wesentlichen sei das AFG (zulässigerweise) durch einen Übergang zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik bestimmt, die Arbeitslosigkeit im Interesse des Arbeitnehmers wie auch der Volkswirtschaft nach Möglichkeit verhindern solle. Entsprechend dieser gewandelten Auffassung der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik sei das AFG gekennzeichnet durch eine Wendung von bloßer Absicherung bei Arbeitslosigkeit durch beitragsfinanzierte Leistungen zu rechtzeitigen vorbeugenden Maßnahmen gegen Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt, von Ausgleichs- und Vermittlungsbemühungen im Einzelfall zu einer umfassenden vorausschauenden Politik der Berufs- und Arbeitsplatzwahl. An die Stelle des reinen Versicherungsdenkens sei ferner die Absicht getreten, die Rücklagen der BA auch zu einem produktiven Einsatz der Mittel zur Schaffung und Umstrukturierung von Arbeitsplätzen zu nutzen. Dieser Grundkonzeption entsprechend seien die Ziele des AFG und die Aufgaben der Beklagten in §§ 1 bis 3 AFG formuliert.
Solange sich der Gesetzgeber innerhalb dieser von ihm nicht veränderten Grenzen bewegt, wie dies für die Leistungen zur Förderung der beruflichen Bildung zutrifft, kann jedenfalls weder von einer Fremdlast gesprochen noch eine alleinige Finanzierung durch Steuern oder allgemeine Abgaben gefordert werden. Die Finanzierung der beruflichen Bildung im AFG durch Beiträge, wie sie in §§ 167, 186 AFG festgelegt ist, ist angesichts der umfassenden Präventionskonzeption des AFG verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfGE 53, 313, 325 und 329) und entspricht dem weit gefaßten Begriffsverständnis des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG (vgl hierzu BVerfGE 87, 1, 34). Im übrigen ist die Förderung der beruflichen Bildung den Präventionsleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, gesetzlichen Unfallversicherung und gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar: Dem Eintritt des Versicherungsfalls der Arbeitslosigkeit soll gerade durch Qualifizierung der Arbeitnehmer vorgebeugt werden.
Auch die Gewährung von Alüg durch die Beklagte (§ 249e AFG) und deren Finanzierung hält sich im Rahmen der §§ 1 bis 3 AFG. Zwar stellt sich das Alüg als neue Leistungsart dar, die mit der Wiedervereinigung nur für die älteren Arbeitnehmer der neuen Bundesländer geschaffen wurde, ohne daß diese Leistung ausdrücklich in den Katalog des § 3 Abs. 2 AFG aufgenommen wurde. Abgesehen davon, daß die in dieser Vorschrift enthaltene Aufzählung ohnedies nur der Übersicht dient (Gagel, AFG, Stand August 1995, § 3 RdNr. 3), handelt es sich nach den gesetzlichen Regelungen beim Alüg letztlich um eine dem Alg eng verwandte Leistung, die für die älteren Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern anstelle von Alg gewährt werden kann. Dem entspricht es, daß der Bund gemäß § 249e Abs. 10 AFG Mehraufwendungen erstattet, die der BA durch die Anspruchsdauer von mehr als 832 Tagen (Höchstdauer des Alg) entstehen. Eine unzulässige Umverteilung von Staatsaufgaben auf den Bereich der Sozialversicherung liegt insoweit nicht vor; denn der Einsatz von Beitragsmitteln bewegt sich noch innerhalb der Zielvorgaben der §§ 1 bis 3 AFG. Dies gilt um so mehr, als der Gesetzgeber angesichts der Notwendigkeit, die einzigartige Aufgabe der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu bewältigen, einen besonders weiten Gestaltungsspielraum besitzt (BVerfGE 84, 90, 130; 85, 360, 377; BSGE 76, 136, 142). Vor dem historischen Hintergrund der Wiedervereinigung ist deshalb nicht zu beanstanden, daß der Alüg-Anspruch häufig ohne oder mit geringen vorherigen Beitragsleistungen über fingierte Beitragszeiten erworben wird.
Schließlich verstoßen die Vorschriften der §§ 242q Abs. 5 iVm Abs. 2 Satz 3, 111 Abs. 2 Satz 6 AFG nicht deshalb gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot (Vertrauensschutz), weil sie ein Wirksamwerden des Änderungsbescheides ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt des Bescheiderlasses mit Wirkung ab 1. Januar 1994 anordnen. Eine echte Rückwirkung liegt hierin nicht, weil nicht durch ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingegriffen wird (BVerfGE 57, 361, 391; 68, 287, 306; 72, 175, 196) und Rechtsfolgen nicht für einen vor der Verkündung des Gesetzes liegenden Zeitraum auftreten sollen (BVerfGE 72, 200, 242; 63, 343, 353; BSGE 71, 202, 206 f = SozR 3-4100 § 45 Nr. 3). Dies trifft für die Absenkung des Leistungssatzes mit Wirkung ab 1. Januar 1994 gerade nicht zu, weil die AFG-Leistungsverordnung für das Jahr 1994 und die Gesetzesänderung zu § 111 Abs. 1 AFG vor dem 1. Januar 1994 verkündet worden sind und nur Neuregelungen für die Zeit ab 1. Januar 1994 beinhalten. Daß §§ 242q Abs. 5 iVm Abs. 2 Satz 3, 111 Abs. 2 Satz 6 AFG in Abweichung zu der strengeren Regelung des § 48 SGB X generell eine rückwirkende Änderung ab 1. Januar 1994 durch neuen Bescheid unter Abänderung des früheren Bewilligungsbescheids zulassen, ist jedenfalls dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn – wie hier – der Änderungsbescheid zeitnah zum Jahreswechsel, also innerhalb eines Zeitraums ergangen ist, in dem der Arbeitslose noch mit einer rückwirkenden Änderung rechnen mußte (vgl hierzu Husmann in Gemeinschaftskomm zum AFG, a.a.O., § 111 RdNr. 138).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1102115 |
BSGE, 201 |
MDR 1997, 74 |