Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) hat.

Der 1946 geborene Kläger hat den Beruf des Stahlbetonbauers erlernt und war bis 1973 in diesem Beruf versicherungspflichtig beschäftigt. Von Mai 1973 bis November 1974 wurde er auf Kosten der Beklagten zum Industriekaufmann umgeschult. Diesen Beruf übte er nicht aus. Er war nach Abschluß der Umschulung zunächst arbeitslos und von 1976 bis Dezember 1981 als Gastwirt selbständig erwerbstätig. Die Beklagte gewährte dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) auf Zeit bis zum 31. Januar 1987. Dessen Antrag auf Weitergewährung der Rente lehnte sie ab (Bescheid vom 26. August 1988, Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 1988).

Die Klage auf Gewährung einer Rente wegen EU hilfsweise wegen BU hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers, die auf die Gewährung von Rente wegen BU beschränkt worden ist, hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG geändert und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 26. August 1988 und des Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 1988 verurteilt, dem Kläger vom 1. Februar 1987 an eine Rente wegen BU zu gewähren. In den Entscheidungsgründen hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, daß bisheriger Beruf des Klägers der Beruf des Stahlbetonbauers sei. Den Beruf des Stahlbetonbauers könne der Kläger nicht mehr verrichten, denn er könne nur noch leichte körperliche Arbeiten verrichten. Bei dem Beruf des Beton- oder Stahlbetonbauers handele es sich auch um einen Facharbeiterberuf. Der Kläger könne auch mit den bei ihm vorhandenen Kenntnissen und Fertigkeiten keine sozial zumutbare Verweisungstätigkeit ausüben. Er könne insbesondere nicht auf den Umschulungsberuf des Industriekaufmanns verwiesen werden, weil die Fähigkeiten des Klägers derzeit nicht mehr ausreichten, um diesen Beruf noch ausüben zu können. Auch der Besuch eines EDV-Lehrgangs würde daran nichts ändern. Das stehe nach den vorliegenden Auskünften des Landesarbeitsamtes Berlin-Brandenburg zur Überzeugung des Senats fest. Der Kläger könne auch nicht auf andere Verweisungstätigkeiten verwiesen werden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat zugelassene Revision der Beklagten. Sie rügt eine Verletzung von § 1246 Abs. 2 Satz 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) durch das Berufungsgericht.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. März 1991 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält die Revision für unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Über den geltend gemachten Anspruch ist noch nach den Vorschriften der RVO zu entscheiden, denn streitig ist ein vor dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches - Sechstes Buch - (SGB VI) entstandener und geltend gemachter Anspruch (§ 300 Abs. 2 SGB VI).

Zu Recht hat das Berufungsgericht die Beklagte zur Gewährung der Versichertenrente wegen BU verurteilt. Der Kläger, der bis Januar 1987 erwerbsunfähig war und eine Versichertenrente wegen EU erhielt, ist seit Februar 1987 berufsunfähig i.S. von § 1246 Abs. 2 RVO. Der Kläger kann seit diesem Zeitpunkt mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen weder seinen bisherigen Beruf ausüben noch Tätigkeiten verrichten, die ihm unter Berücksichtigung des bisherigen Berufs zumutbar sind.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß bisheriger Beruf des Klägers i.S. von § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO der des Beton- bzw. Stahlbetonbauers ist. Diesen Beruf hat der Kläger zuletzt versicherungspflichtig ausgeübt. Der Umschulungsberuf des Industriekaufmanns kann nicht bisheriger Beruf i.S. von § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO sein, denn diesen hat der Kläger nie ausgeübt. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits wiederholt entschieden, daß bisheriger Beruf i.S. von § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO nur ein Beruf sein kann, der tatsächlich versicherungspflichtig ausgeübt worden ist (BSGE 31, 103, 104 = SozR Nr. 33 zu § 45 RKG; SozR 2200 § 1246 Nr. 126). Mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen kann der Kläger weder den Beruf des Beton- bzw. Stahlbetonbauers, noch andere ihm zumutbare Berufstätigkeiten verrichten. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG zu dem körperlichen und geistigen Leistungsvermögen des Klägers, sowie zu den ihm verbliebenen Kenntnissen und Fähigkeiten, die dies ausschließen, werden von der Beklagten nicht angegriffen und sind deshalb für den Senat nach § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindend.

Ohne Erfolg wendet sich die Beklagte auch dagegen, daß das LSG eine Verweisung des Klägers auf den Beruf des Industriekaufmanns abgelehnt hat. Das LSG hat insoweit festgestellt, daß der Kläger diesen Beruf jetzt nicht mehr ausüben kann, weil das Berufsbild sich seit Abschluß der Umschulung so geändert hat, daß die seinerzeit erlernten Kenntnisse zur Berufsausübung nicht ausreichen. Auch der Besuch eines EDV-Lehrgangs würde daran nichts ändern. Auch diese Feststellungen sind von der Beklagten nicht angegriffen und daher für den Senat bindend. Die rechtliche Schlußfolgerung des LSG, daß bei diesem Sachverhalt der Kläger auch nicht auf einen Umschulungsberuf verwiesen werden kann, ist zutreffend. Sie entspricht der Rechtsprechung, nach der ein Versicherter nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden kann, die ihn weder bezüglich seiner gesundheitlichen Kräfte noch seines beruflichen Könnens und Wissens überfordern (BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 75 m.w.N.). Ein Versicherter kann sich allerdings nicht darauf berufen, er habe seinen bisherigen Beruf lange Zeit nicht mehr ausgeübt und deshalb nicht mehr die Kenntnisse und Fähigkeiten, diesen Beruf oder etwa auch Teilbereiche dieses Berufs auszuüben. Die Berufsentfremdung im bisherigen Beruf durch Nichtausübung dieses Berufes ist rentenrechtlich nicht geschützt und deshalb unbeachtlich (vgl. Beschluß des 1. Senats vom 22. Juli 1987 - 1 BA 197/86 - nicht veröffentlicht). Diese Zurechnung von früher erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten gilt aber nicht für Verweisungstätigkeiten außerhalb des Berufsfeldes des erlernten Berufs. Auf Verweisungstätigkeiten kann ein Versicherter nur verwiesen werden, wenn er tatsächlich die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu ihrer Ausübung hat. Der Senat hat dazu bereits entschieden, daß ein Versicherter nicht auf einen früher ausgeübten und freiwillig aufgegebenen Beruf verwiesen werden kann, wenn er diesen ohne längere Wiedereinarbeitung nicht ausüben kann (Urteil vom 12. November 1970 in SozR Nr. 90 zu § 1246 RVO). Auch ein Umschulungsberuf ist nicht anders als alle anderen Verweisungstätigkeiten zu beurteilen. Zu Recht ist das LSG davon ausgegangen, daß § 1246 Abs. 2 Satz 3 RVO in Fällen wie dem vorliegenden eine Verweisung auf den Umschulungsberuf nicht gebietet oder auch nur zuläßt. Diese Vorschrift regelt nur die soziale Zumutbarkeit des Umschulungsberufs. Der Versicherte kann deshalb nach dieser Vorschrift der Verweisung auf den Umschulungsberuf grundsätzlich nicht entgegenhalten, dieser sei ihm unter Berücksichtigung seines bisherigen Berufs nicht zumutbar, weil er qualitativ zu geringwertig sei.

Auch bei der Verweisung auf einen Umschulungsberuf ist jedoch maßgebend, ob die bei dem Versicherten tatsächlich vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten die Ausübung einer solchen Tätigkeit, ggf nach einer Einarbeitungszeit von bis zu drei Monaten (vgl. Senatsurteile vom 22. September 1977 - 5 RJ 84/76 - und vom 12. September 1991 - 5 RJ 34/90 - = SozR 3-2200 § 1246 Nr. 17), ermöglichen. Dementsprechend hat das BSG auch bei der Verweisung auf einen Umschulungsberuf schon früher darauf abgestellt, ob dieser tatsächlich ausgeübt werden konnte (SozR Nr. 75 zu § 1246 RVO). Nicht ausgeschlossen durch § 1246 Abs. 2 Satz 3 RVO ist deshalb der Einwand, ein Umschulungsberuf könne aus gesundheitlichen Gründen oder wegen fehlender Kenntnisse und Fähigkeiten nicht ausgeübt werden. Dem letztgenannten Einwand wird man zwar in aller Regel dann nicht nachgehen müssen, wenn eine Abschlußprüfung für den Umschulungsberuf erfolgreich abgelegt worden ist, denn in diesem Fall ist davon auszugehen, daß der Versicherte auch die Kenntnisse und Fähigkeiten hat, seinen Umschulungsberuf auszuüben (vgl. BSGE 31 S. 103, 105). Das schließt aber nicht aus, daß im Einzelfall die Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung des Umschulungsberufs fehlen können, wenn etwa - wie hier bindend festgestellt ist - sich die Anforderungen im Umschulungsberuf nach vielen Jahren völlig geändert haben und dieser niemals ausgeübt worden ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 518200

Breith. 1994, 741

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge