Entscheidungsstichwort (Thema)

Ermessensausübung durch Richtlinien. verspätete Antragstellung für Kraftfahrzeughilfe. finale Ausrichtung der Rehabilitation

 

Leitsatz (amtlich)

Der Rentenversicherungsträger darf einem behinderten Versicherten die Gewährung eines Zuschusses für die Anschaffung eines Kraftfahrzeuges versagen, wenn der Zuschußantrag erst nach der Beschaffung des Kraftfahrzeuges gestellt worden ist.

 

Orientierungssatz

1. Es ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, die Gleichbehandlung der Versicherten bei der Ausübung des Ermessens durch Richtlinien oder Grundsätze möglichst zu gewährleisten, denen im Regelfall nur verwaltungsinterne Bedeutung ohne normative Wirkung zukommt.

2. Die gesetzlichen Grenzen des Ermessens iS des § 39 Abs 1 SGB 1 sind eingehalten, wenn nach dem Erreichen des Ziels der Rehabilitation - bei der Kraftfahrzeughilfe ist das die Beschaffung des Fahrzeugs - Zuschüsse zur Beschaffung eines Kraftfahrzeugs grundsätzlich nicht mehr gewährt werden.

3. Eine verspätete Antragstellung widerspricht der finalen Ausrichtung der Rehabilitation.

 

Normenkette

RVO § 1236 Abs 1 Fassung: 1974-08-07, § 1237a Abs 1 S 1 Nr 1 Fassung: 1974-08-07; SGB 1 § 39 Abs 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 13.10.1980; Aktenzeichen L 11/6 J 3/80)

SG Darmstadt (Entscheidung vom 16.11.1979; Aktenzeichen S 1 J 133/79)

 

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Beklagte dem Kläger einen Zuschuß zur Ersatzbeschaffung eines Kraftfahrzeugs zu gewähren hat.

Beim Kläger sind als Schädigungsfolgen iS des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) der Verlust des rechten Beines im Oberschenkel mit ungünstigen Stumpfverhältnissen, Bewegungsbehinderung im Hüftgelenk mit den sich daraus ergebenden statischen und allgemeinen Konsequenzen auf die Lendenwirbelsäule sowie leichte chronisch- entzündliche Veränderungen am linken Knie- und Fußgelenk mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 90 vH anerkannt. Da er ein Kraftfahrzeug benötigt, um seine Arbeitsstelle zu erreichen, bewilligte ihm die Beklagte 1972 einen Zuschuß zur Beschaffung eines Kraftfahrzeugs in Höhe von 1.500,-- DM. Im März 1977 kaufte der Kläger ein neues Fahrzeug zum Preis von 16.350,-- DM, das am 3. Juni 1977 geliefert wurde. Dazu gewährte ihm der Landeswohlfahrtsverband Hessen eine Beihilfe in Höhe von 3.000,-- DM sowie ein Darlehen von 5.950,-- DM. Von der zuständigen Orthopädischen Versorgungsstelle erhielt der Kläger aus demselben Anlaß einen Zuschuß von 3.000,-- DM und für Änderungen der Bedienungseinrichtungen 1.345,-- DM. Den am 26. Juli 1977 bei der Beklagten beantragten weiteren Zuschuß zur Anschaffung des Kraftfahrzeugs lehnte diese mit Bescheid vom 23. Juni 1978 ab. Da die bereits gewährten Beihilfen von insgesamt 6.000,-- DM den an sich möglichen, aber nachrangigen Kostenzuschuß des Trägers der Rentenversicherung von 4.500,-- DM überschritten, komme eine Aufstockung nicht in Betracht. Im übrigen hätte die Kraftfahrzeughilfe vor der Beschaffung des Fahrzeugs beantragt werden müssen.

Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers sind ohne Erfolg geblieben. Das Sozialgericht (SG) hat in seinem Urteil vom 16. November 1979 die Berufung zugelassen. Zur Begründung seiner Entscheidung vom 13. Oktober 1980 hat das Landessozialgericht (LSG) im wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Die Begrenzung der Kraftfahrzeughilfe als Zuschußleistung auf 4.500,-- DM stehe bei der Ersatzbeschaffung mit dem Gesetz in Einklang. Die Beklagte sei auch berechtigt, den Kläger auf die vorrangigen Leistungen der Kriegsopferfürsorge und der Kriegsopferversorgung zu verweisen. Soweit beide die von der Beklagten zu zahlenden Beträge überstiegen, komme eine weitere Kumulierung der Zuschüsse nicht in Betracht.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des § 54 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), § 39 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB 1) sowie der §§ 1236 Abs 1, 1237a Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung (RVO). Im Grundsatz sei davon auszugehen, daß das Gesetz die Kumulierung mehrerer Kostenzuschüsse bis zur Höhe der vollen Rehabilitation nicht nur für zulässig, sondern auf Grund der Zwecksetzung sogar für wünschenswert und nötig halte. Zumindest sei die Beklagte verpflichtet, den nach ihren einschlägigen Richtlinien zulässigen vollen Zuschuß in Höhe von 4.500,-- DM zu gewähren, da selbst damit der für das neue Kraftfahrzeug benötigte Kaufpreis noch lange nicht erreicht werde und noch ein Eigenanteil von 5.850,-- DM verbleibe.

Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der in den Vorinstanzen ergangenen Urteile und des angefochtenen Bescheides in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. März 1979 die Beklagte zu verurteilen, einen neuen Bescheid über die Gewährung eines Zuschusses zu den Kosten eines Kraftfahrzeugs unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu erteilen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Er kann schon deshalb den begehrten Zuschuß zu den Kosten eines Kraftfahrzeugs von der Beklagten nicht beanspruchen, weil er eine derartige berufsfördernde Maßnahme nicht rechtzeitig beim Träger der Rentenversicherung beantragt hat.

Nach § 1236 Abs 1 RVO kann die Beklagte einen Versicherten ua die in § 1237a RVO genannten berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation gewähren, wenn hierdurch die wegen Krankheit oder anderer Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte gefährdete oder geminderte Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten, wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann. Zu diesen Leistungen gehören nach § 1237a Abs 1 Nr 1 RVO ua auch Hilfen zur Erhaltung des Arbeitsplatzes. Eine solche Hilfe kann auch in einer finanziellen Unterstützung durch den Träger der Rentenversicherung bei der Beschaffung eines Kraftfahrzeugs durch den Versicherten bestehen, sofern der Versicherte wegen Art und Schwere seiner Behinderung auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen ist, um seinen Arbeitsplatz zu erreichen (vgl BSG in SozR 2200 § 1236 Nrn 3, 10). Die Entscheidung, ob und in welcher Weise dem Versicherten eine Rehabilitationsmaßnahme gewährt werden soll, liegt im Ermessen des Trägers der Rentenversicherung, das von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nur in dem von § 54 Abs 2 Satz 2 SGG gesteckten Rahmen nachgeprüft werden kann.

Die Beklagte hat ihre Ermessensentscheidung auf ihre Richtlinien "über die Gewährung von Leistungen zur Rehabilitation und zusätzlichen Leistungen aus der Versicherung" in der ab 1. Februar 1975 gültigen Fassung (Nachrichten der LVA Hessen 1975 Seite 78 ff) sowie die dazu gehörende Anlage D Grundsätze "für die Hilfe zur Beschaffung von Kraftfahrzeugen für Behinderte als Regelleistung"(aaO Seite 94) gestützt und dabei die begehrte Leistung - ua - mit der Begründung abgelehnt, daß der Zuschuß nicht - wie in Nr 9 der genannten Grundsätze vorgeschrieben - vor der Beschaffung des Kraftfahrzeugs beantragt worden ist.

Es ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, die Gleichbehandlung der Versicherten bei der Ausübung des Ermessens durch Richtlinien oder Grundsätze möglichst zu gewährleisten, denen im Regelfall nur verwaltungsinterne Bedeutung ohne normative Wirkung zukommt (vgl BSGE 50, 33, 37 = SozR 2200 § 1237a Nr 11 mwN). Auch im konkreten Fall begegnet es keinen Bedenken, daß sich die Beklagte bei der Ausübung ihres Ermessens auf das Erfordernis eines vor der Beschaffung des Kraftfahrzeugs gestellten Antrags berufen hat. Es hat dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens iS des § 39 Abs 1 SGB 1 eingehalten, weil eine verspätete Antragstellung hier der finalen Ausrichtung der Rehabilitation widersprechen würde. Diese hat die vollständige Eingliederung des Behinderten in das Arbeitsleben sowie in die Gesellschaft zum Ziel, wobei für den Weg dahin eine zielgerichtete Zweckmäßigkeit bestimmend ist. Deshalb ist die Rehabilitation ihrem Wesen nach zukunftsorientiert (vgl BSG in SozR 2200 § 1236 Nr 31). Auch die zu diesem Zweck vom Träger der Rehabilitation aufgewendeten Geldleistungen, wie die Zuschüsse zur Beschaffung eines Kraftfahrzeugs, sind final ausgerichtet. Demzufolge dürfen sie nach dem Erreichen des Ziels der Rehabilitation - bei der Kraftfahrzeughilfe ist das die Beschaffung des Fahrzeugs - grundsätzlich nicht mehr gewährt werden (vgl BSG in SozR 2200 § 1236 Nrn 14, 15, 16 und 24). Zwar kann der Versicherte uU seine Rehabilitation selbst betreiben und weiterverfolgen, das gilt aber nur, wenn er sie zuvor beim Träger der Rehabilitation beantragt hat (vgl BSG in SozR 2200 § 1236 Nr 24 und § 1237a Nr 10).

Wie der Senat bereits mit Urteil vom 15. Oktober 1981 (SozR 2200 § 1236 Nr 35) entschieden hat, darf sich der Versicherungsträger nicht auf die beantragte Rehabilitationsmaßnahme beschränken, sondern muß ggf auch erwägen, ob das Rehabilitationsziel nicht mit anderen Mitteln erreicht werden kann (so in SozR 2200 § 1236 Nr 35). Dabei hat der Senat dargelegt, daß die Kraftfahrzeughilfe nur eine von mehreren Maßnahmen ist, die zur Erhaltung eines Arbeitsplatzes eingesetzt werden können. Wenn dabei der Versicherungsträger seiner Aufgabe gerecht werden soll, die sinnvollste und zweckmäßigste Rehabilitation des Behinderten durchzuführen, dann muß er vor Beginn derselben von der beabsichtigten Durchführung unterrichtet sein, damit er die erforderliche Ermessensentscheidung treffen kann. Auch daraus folgt die Notwendigkeit der Antragstellung beim Versicherungsträger vor dem eigenen Betreiben der Rehabilitation, die der Versicherte für erforderlich hält und ggf durchzuführen beabsichtigt.

Schließlich hat für die Rehabilitation im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) der 7. Senat des BSG (SozR 4100 § 57 Nr 2 Bl 10) ebenfalls eine rechtzeitige Antragstellung gefordert. Zwar ist das aus einem allgemeinen Prinzip des AFG hergeleitet worden, daß Leistungen nur gewährt werden, wenn sie vor Eintritt des Ereignisses beantragt sind, das die Gewährung der Leistung begründet. Insoweit besteht aber weder aus sachlichen noch aus rechtlichen Gründen ein Unterschied zu nicht von Amts wegen eingeleiteten Maßnahmen der Rehabilitation eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung.

Da nach den von der Revision nicht angegriffenen und deshalb für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG der Kläger den Zuschußantrag bei der Beklagten erst stellte, nachdem ihm das Kraftfahrzeug geliefert worden war und sich die Beklagte auf die somit verspätete Antragstellung auch berufen hat, ist der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig, ohne daß es auf die sonstigen, von der Beklagten bei der Ausübung ihres Ermessens angestellten Erwägungen noch ankommt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 91

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