Leitsatz (amtlich)

1. Auf Versicherungsfälle, die vor dem 1957-01-01 eingetreten sind, ist weiterhin RVO § 1263 a Abs 1 Nr 2 und 3 (Fassung: 1949-06-17) anzuwenden.

2. RVO § 1263a Abs 1 Nr 3 (Fassung: 1949-06-17) gilt auch für Versicherte, die infolge einer als Kriegsteilnehmer im Sinne der Nr 2 aaO erlittenen Feindeinwirkung nach Beendigung der Mobilmachungs- oder Kriegszeiten invalide geworden oder gestorben sind.

 

Normenkette

RVO § 1263a Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1949-06-17, Nr. 3 Fassung: 1949-06-17

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 15. November 1957 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der im Jahre 1911 geborene Kläger war als Landwirtschaftsgehilfe von Dezember 1937 bis März 1938 invalidenpflichtversichert. Für die Zeit von 1926 bis 1936, während der nach seiner Behauptung für insgesamt ungefähr fünf Jahre ebenfalls Pflichtbeiträge zur Invalidenversicherung für ihn entrichtet sein sollen, hat das Landessozialgericht (LSG.) entsprechende eindeutige Feststellungen nicht getroffen.

Während des vom Kläger vom 1. Juni 1940 bis 31. März 1944 abgeleisteten Wehrdienstes wurde er am 18. Januar 1943 im Osten durch Granatsplitter in der linken Schulter und Brustseite verwundet. Infolge auf dem Transport eingetretenen Erfrierens der Füße wurde dem Kläger der linke Unterschenkel und sämtliche Zehen des rechten Fußes amputiert. Der vom Kläger am 18. März 1952 gestellte Antrag auf Gewährung der Invalidenrente wurde von der Beklagten mit Bescheid vom 25. Oktober 1952 abgelehnt. Die Beklagte ging auf Grund der von ihr eingeholten Gutachten zwar davon aus, daß der Kläger seit Ende 1950 invalide sei, verneinte jedoch die Erfüllung der Wartezeit, da nur 50 Monate (4 Beitrags- und 46 Kriegsdienstmonate) nachgewiesen seien, ebenso wie die Erhaltung der Anwartschaft, da der Kläger seit 1938 keine Beiträge mehr entrichtet habe.

Mit seiner Berufung an das Oberversicherungsamt (OVA.), die nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Münster übergegangen war, hatte der Kläger keinen Erfolg.

Im Berufungsverfahren beschränkte der Kläger seinen Antrag auf die Gewährung der Invalidenrente vom 1. Januar 1957 an. Das LSG. Nordrhein-Westfalen in Essen sprach dem Kläger die Invalidenrente in diesem, durch seinen Antrag beschränkten Umfang zu.

Es geht davon aus, daß der Versicherungsfall der Invalidität, der als Folge der Wehrdienstbeschädigung anzusehen sei, vor Beginn des Jahres 1957, jedoch nicht vor dem 1. Juni 1949, eingetreten ist. Da der Anspruch nur noch vom 1. Januar 1957 ab erhoben werde, komme es nicht mehr auf die Erhaltung der Anwartschaft an.

Bei der Prüfung der Frage der Erfüllung der Wartezeit legt das LSG. die durch das Neuregelungsgesetz zur Arbeiterrentenversicherung (ArVNG) geänderten Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) zugrunde. Auf die sich nach § 1247 Abs. 3 RVO ergebende Wartezeit von 60 Beitragsmonaten rechnet es neben den 4 nachgewiesenen Beitragsmonaten über Art. 2 § 9 ArVNG auch die 46 Monate der Wehrdienstzeit nach § 1263 Nr. 1 RVO a. F. an. Von einer weiteren Beweisaufnahme, ob der Kläger noch sonstige Pflichtbeiträge entrichtet habe, sieht das LSG. jedoch ab, da es die Wartezeit über die Fiktion des § 1252 Nr. 2 und 3 jedenfalls als erfüllt ansieht.

Das LSG. hält diese Bestimmung auch im vorliegenden Fall für anwendbar, da es trotz der Nichterwähnung der Nrn. 2 und 3 im Art. 2 § 10 ArVNG der Zweck des Gesetzes sei, durch diesen § 10 den gesamten § 1252 auch auf Altfälle anzuwenden.

Das Versicherungsverhältnis habe über § 3 des Leistungsverbesserungsgesetzes auch in dem für die Anwendung des § 1252 maßgeblichen Zeitpunkt bestanden; die Voraussetzungen beider einschlägigen Nummern seien auch erfüllt.

Das LSG. hat die Revision gegen sein am 4. Februar 1958 zugestelltes Urteil zugelassen.

Die Beklagte hat am 24. Februar 1958 unter Antragstellung Revision eingelegt und sie gleichzeitig begründet. Sie erblickt in der Anwendung des § 1252 RVO n. F. eine Rechtsverletzung; aus Art. 2 §§ 5 und 10 ArNVG ergebe sich, daß im vorliegenden Fall noch § 1263 a RVO a. F. anzuwenden sei. Sie beantragt, das Urteil des LSG. Nordrhein-Westfalen vom 15. November 1957 abzuändern und die Berufung zurückzuweisen.

Demgegenüber beantragt der Kläger kostenpflichtige Zurückweisung der Revision, hilfsweise, Zurückverweisung an das LSG. Er vertritt die Auffassung, daß auch nach § 1263 a Abs. 1 Nr. 3 RVO a. F. bei ihm die Wartezeit als erfüllt anzusehen sei; werde diese Auffassung nicht geteilt, so bedürfe es noch weiterer Feststellungen hinsichtlich der nach seiner Behauptung für ihn in den Jahren 1926 bis 1936 entrichteten Pflichtbeiträge.

 

Entscheidungsgründe

I

Die Revision ist frist- und formgerecht unter Antragstellung eingelegt und begründet worden; sie ist vom LSG. zugelassen und daher statthaft; sie konnte jedoch sachlich keinen Erfolg haben.

II

Allerdings erscheint die Rüge der Beklagten insoweit berechtigt, als das LSG. zu Unrecht auf den vorliegenden Fall die neue Vorschrift des § 1252 RVO über die Fiktion der erfüllten Wartezeit angewandt hat.

Da der Versicherungsfall der Invalidität bereits vor dem 1. Januar 1957 eingetreten war, sind auf ihn vielmehr, wie das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden hat (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 13.3.1958 - 4 RJ 184/56 -; SozR. § 1263 a RVO a. F. Nr. 5 Aa 5), nach Art. 2 § 5 ArVNG noch die bis zu jenem Zeitpunkt gültigen Vorschriften anzuwenden, soweit nicht durch Übergangsvorschriften etwas anderes bestimmt ist. Wenn das LSG, aus Art. 2 § 10 a. a. O. auch für die in diesem nicht erwähnten Nummern 2 und 3 des § 1252 RVO die Anordnung einer, noch dazu offenbar zeitlich unbeschränkt rückwirkenden Anwendung entnehmen will, so widerspricht dies der Fassung jener Vorschrift, die ausdrücklich nur in vier von den insgesamt sechs Fällen des § 1252 eine, jeweils hinsichtlich des Anfangszeitpunktes sorgfältig erwogene Anwendung für Altfälle vorschreibt. Damit wird eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß es bei den übrigen Nummern für alle Versicherungsfälle bei dem bisherigen Recht bleiben sollte; die vom LSG. in dieser Hinsicht angestellten Erwägungen über die für seine Ansicht sprechende Billigkeit und den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers müssen gegenüber dem klaren und insoweit nicht auslegungsfähigen Gesetzeswortlaut versagen.

Liegt somit in der Anwendung des § 1252 eine Gesetzesverletzung durch das LSG., so erweist sich die angefochtene Entscheidung im Ergebnis doch unter Zugrundelegung des § 1263 a RVO a. F. als richtig.

III

Da bei dem Kläger alle sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind - über § 3 des Gesetzes über die Verbesserung der Leistungen in der Rentenversicherung vom 24. Juli 1941 war seine Anwartschaft jedenfalls seit dem 1. August 1941 für die weitere Dauer seines Wehrdienstes und damit auch im Zeitpunkt seiner Verwundung erhalten, so daß er damals als "Versicherter" anzusehen war -, hängt die Entscheidung einzig von der Frage ab, ob die Wartezeit bei dem Kläger nach § 1263 a RVO a. F. als erfüllt gilt.

Da der Kläger während der Ableistung seines Kriegsdienstes nicht invalide geworden ist und es daher an dem im Abs. 1 Nr. 2 a. a. O. geforderten zeitlichen Zusammenhang fehlt, kann seine Wartezeit nur dann als erfüllt gelten, wenn Nr. 3 a. a. O. auf ihn anzuwenden ist. Während Nr. 2 eine Wartezeitfiktion zugunsten aller Militärpersonen im weiten Sinne schafft, die - unabhängig, aus welchem Grunde - zeitlich während ihres Dienstes invalide wurden oder starben, wird in Nr. 3 eine Wartezeitfiktion für alle Versicherten aufgestellt, die - unabhängig, zu welchem Zeitpunkt - infolge Feindeinwirkung invalide wurden oder starben. Der insoweit eindeutige Wortlaut dieser Nr. 3 läßt eine Beschränkung seiner Begünstigungen auf den Kreis der Zivilbevölkerung nicht zu. Es ist zwar zuzugeben, daß jene Bestimmung nach ihrer Entstehungsgeschichte ursprünglich als eine Ausweitung der Wartezeitbegünstigung der Nr. 2 a. a. O. auf die Zivilbevölkerung gedacht war (vgl. dazu Urteil des BSG. vom 17.7.1957 - 1 RA 50/56 -; SozR. § 1263 a Nr. 1 RVO a. F. Aa 1 ff.); daraus kann jedoch nicht, wie dies teilweise versucht wird, gefolgert werden, die Vorschrift sei auf Militärpersonen nicht anwendbar. Im Zeitpunkt ihres Erlasses (Erste Vereinfachungsverordnung vom 17.3.1945) ging der Gesetzgeber berechtigterweise davon aus, daß sämtliche als Militärpersonen invalide werdenden oder versterbenden Versicherten bereits durch die (infolge Fehlens der kausalen Bindung) weitere Nr. 2 a. a. O. ausreichend gesichert waren; er hielt es darüberhinaus jedoch bei den besonders durch die Luftangriffe schweren Schädigungen der Zivilbevölkerung für billig, auch die dieser angehörenden Versicherten jedenfalls dann in gleicher Weise zu schützen, wenn ihre Invalidität bzw. ihr Tod kausal auf Feindeinwirkung zurückzuführen war. Bei dieser damals insgesamt offensichtlich die Militärpersonen bevorzugenden Regelung läßt sich kein sinnvoller Grund erkennen, bei noch auf Kriegsfolgen zurückzuführenden Versicherungsfällen nach Ende des Krieges gerade diejenigen Versicherten schlechter zu stellen, die jenen verursachenden Schaden als Militärpersonen erlitten haben. Da der Gesetzgeber Nr. 3 a. a. O. niemals geändert hat, ist diese während des Krieges nur für die der Zivilbevölkerung angehörenden Versicherten Erlassungsvorschrift nach Kriegsende gleichermaßen auch auf frühere Wehrmachtsangehörige anzuwenden.

Es ergibt sich somit, daß Wortlaut und Zweckbestimmung der Nr. 3 a. a. O. in gleicher Weise nur den Schluß zulassen, daß diese Bestimmung für alle durch Feindeinwirkung geschädigten Versicherten gilt.

Dann jedoch gilt die Wartezeit auch für den Kläger als erfüllt, da nach den getroffenen Feststellungen seine derzeitige Invalidität ursächlich auf die Feindeinwirkung im Jahre 1943 zurückzuführen ist.

Das angefochtene Urteil erweist sich somit im Ergebnis als zutreffend, so daß die Revision zurückzuweisen war; das Urteil erging, nachdem die Parteien ihr Einverständnis damit erklärt hatten, nach § 24 SGG ohne mündliche Verhandlung.

Die Kostenentscheidung rechtfertigt sich aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 149

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