Leitsatz (amtlich)

Die Sprungrevision gemäß SGG § 161 ist nur zulässig, soweit in Fällen der SGG §§ 144 bis 149 Urteile der SG gemäß SGG § 150 ausnahmsweise mit der Berufung anfechtbar sind.

 

Leitsatz (redaktionell)

Gegen Urteile der SG, die bereits nach SGG § 143 mit der Berufung anfechtbar sind, ist eine Sprungrevision nicht statthaft.

 

Normenkette

SGG § 161 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 150 Fassung: 1953-09-03, § 144 Fassung: 1953-09-03, § 145 Fassung: 1953-09-03, § 146 Fassung: 1953-09-03, § 147 Fassung: 1953-09-03, § 148 Fassung: 1953-09-03, § 149 Fassung: 1953-09-03, § 143 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

I. Die Revision des Klägers wird als unzulässig verworfen.

II. Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I. Der Kläger begehrt versicherungsmäßige Arbeitslosenunterstützung (Alu) für 52 Wochen.

Er ist 1894 geboren. Laut Arbeitsbescheinigung der Firma P H A. G., Hochbauabteilung, Frankfurt/Main vom 22. August 1953 war er vom 18. März 1945 bis 26. August 1950 und vom 11. September 1950 bis 18. August 1953 bei diesem Unternehmen als Hochbauhelfer beschäftigt. Zum letztgenannten Tage wurde das Arbeitsverhältnis wegen längerer Krankheit und Ungeeignetheit des Klägers zum Einsatz auf dem Bau aufgelöst.

In der Zeit vom 27. August bis 10. September 1950 hatte der Kläger am Bauarbeiterstreik in Frankfurt/Main teilgenommen.

II. Das Arbeitsamt Gießen bewilligte dem Kläger, nachdem er sich arbeitslos gemeldet hatte, ab 22. August 1953 Arbeitslosenunterstützung auf die Dauer von 32 Wochen. Anschließend wurde dem Kläger mit Verfügung vom 14. April 1954 Arbeitslosenfürsorgeunterstützung gewährt.

Dagegen erhob der Kläger Widerspruch mit der Begründung, daß ihm zufolge seiner 8-jährigen ununterbrochenen Beschäftigung bei der Firma P H A. G. auf Grund des § 99 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) in der Fassung des § 1 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften auf dem Gebiete der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenfürsorge vom 24. August 1953 (BGBl. I S. 1022) für 52 Wochen und nicht lediglich für 32 Wochen Arbeitslosenunterstützung zustehe. Dieser Widerspruch wurde nach einem Zwischenbescheid vom 6. Mai 1954 vom Arbeitsamt Gießen mit Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 1954 als unbegründet zurückgewiesen, weil das versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis in der Zeit vom 27. August bis 10. September 1954 durch die Teilnahme des Klägers an dem Bauarbeiterstreik in Frankfurt/Main unterbrochen gewesen sei.

III. Auf die vom Kläger erhobene Klage hat das Sozialgericht Gießen mit Urteil vom 24. September 1954 den Anspruch als unbegründet abgewiesen.

In den Entscheidungsgründen war ausgeführt, daß das sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis bei der Firma P H A. G. in der Zeit vom 27. August bis 10. September 1950 durch die Teilnahme am Streik als unterbrochen angesehen werden müsse und deshalb die Voraussetzungen der Unterstützungshöchstdauer durch den Kläger nicht erfüllt seien.

Die Rechtsmittelbelehrung zu diesem Urteil lautet: "Gegen dieses Urteil kann gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz Berufung an das Landessozialgericht eingelegt werden ..."

Das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 24. September 1954 wurde der Industriegewerkschaft Bau - Steine - Erden, Verwaltungsstelle Frankfurt/Main, als Vertreterin des Klägers am 8. Dezember 1954 zugestellt.

IV. Der Kläger legte mit Schriftsatz vom 5. Januar 1955, beim Bundessozialgericht eingegangen am 6. Januar 1955, gemäß § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Revision ein (Sprungrevision). Er beantragte:

1. das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 24. September 1954, den Widerspruchsbescheid des Arbeitsamts Gießen vom 14. Juli 1954 und den Bescheid des Arbeitsamts Gießen vom 6. Mai 1954 aufzuheben,

2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die anwartschaftsbegründete Arbeitslosenunterstützung für 52 Wochen zu gewähren.

Der Revisionsschrift des Klägers war eine Erklärung des Direktors des Arbeitsamts Gießen vom 16. Dezember 1954 mit folgendem Wortlaut beigefügt:

"Entsprechend § 161 Abs. 1 SGG wird hiermit die schriftliche Einwilligung zur Übergehung des Berufungsverfahrens und der Einlegung der Sprungrevision in vorstehender Angelegenheit erteilt ...

In Vertretung: Unterschrift".

In der Revisionsbegründung bestritt der Kläger, daß die Teilnahme am Streik sein Beschäftigungsverhältnis unterbrochen habe; er sei der Verfügungsmöglichkeit seines Arbeitgebers nicht entzogen und der Wille der Arbeitsvertragsparteien auf Fortsetzung der Beschäftigung gerichtet gewesen.

Der Kläger rügte ferner als wesentlichen Verfahrensmangel, daß das Sozialgericht den Schiedsspruch für das Baugewerbe vom 9. September 1950, der den Anspruch auf den alten Arbeitsplatz zuerkannt und das Arbeitsverhältnis als nicht unterbrochen erklärt habe, bei der Rechtsfindung nicht gewürdigt sowie durch unterschiedliche Behandlung der Tatbestände der Aussperrung und des Streiks geltendes Bundesrecht unrichtig angewendet habe. Insoweit wurden Verletzungen der Artikel 3 und 9 des Grundgesetzes (GG) geltend gemacht.

V. Die Beklagte beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie machte hierzu geltend, gemäß § 161 SGG könne Sprungrevision nur gegen die Urteile des Sozialgerichts eingelegt werden, die nach § 150 SGG mit der Berufung anfechtbar seien. Gegen das angefochtene Urteil sei die Berufung aber "nicht auf Grund des § 150 SGG, sondern nach den §§ 143 bis 149" möglich. Ferner führte die Beklagte aus, die Verfügungsmacht des Arbeitgebers über den Arbeitnehmer sei während des Streiks tatsächlich erloschen, bei Aussperrung, Urlaub oder Krankheit hingegen nur eingeschränkt. Deshalb müßten diese verschiedenen Tatbestände auch unterschiedlich behandelt werden. Schließlich werde während des Streiks kein Entgelt gezahlt, so daß auch insoweit während dessen Dauer die Voraussetzungen für ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht gegeben seien.

VI. Der Kläger erwiderte darauf, dem Hinweis des § 161 SGG auf die Regelung des § 150 SGG könne nicht die prozeßrechtliche Wirkung einer ausschließlichen Beschränkung der Sprungrevision auf den Rechtsmittelbereich des § 150 SGG beigemessen werden; für die Statthaftigkeit der Revision nach § 161 SGG sei Übereinstimmung mit den Merkmalen des § 150 SGG als ausreichend zu erachten. Sinn und Zweck der Sprungrevision könne auch im Bereich der Sozialgerichtsbarkeit nur sein, eine höchstrichterliche Entscheidung bei Verzicht auf die Berufung unmittelbar dann herbeizuführen, wenn sich die Berufung als prozeßökonomisch entbehrliches Rechtsmittel erweise und die grundsätzliche Bedeutung des Streitgegenstandes die Anwendung der Sprungrevision rechtfertige. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache hätte das Sozialgericht die Berufung gemäß § 150 Nr. 1 SGG ausdrücklich zulassen müssen. Diese Unterlassung werde als wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt.

Der Kläger beantragte daher hilfsweise,

das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 24. September 1954 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Vordergericht zurückzuverweisen.

Für das Vorbringen der Parteien im einzelnen wird auf die Schriftsätze des Klägers vom 12. Januar und vom 25. März 1955 sowie auf den Schriftsatz der Beklagten vom 8. März 1955 Bezug genommen.

Der Kläger rügte schließlich in der mündlichen Verhandlung vom 8. Juni 1955 weiter noch als wesentlichen Verfahrensmangel, daß der Erstrichter es unterlassen habe, die Rechtsmittelbelehrung auch auf die Sprungrevision zu erstrecken.

VII. Die unter Übergehung des Berufungsverfahrens unmittelbar an das Bundessozialgericht gelangte Revision ist fristgerecht eingelegt und begründet worden.

Bezüglich der Wahrung der Formvorschriften ergeben sich Bedenken daraus, daß die der Revisionsschrift beigefügte schriftliche Erklärung der Einwilligung der Rechtsmittelgegnerin zur Sprungrevision (§ 161 Abs. 1 Satz 2 SGG) nicht von einer in diesem Falle zur gesetzlichen Vertretung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung nach deren Satzung zugelassenen Person unterzeichnet ist. Die Direktoren der Arbeitsämter sind gemäß Art. 4 der Satzung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 24. Juni 1953 (Bundesanzeiger Nr. 153 vom 12. August 1953) von der gerichtlichen Vertretung ausgeschlossen.

Formrichtigkeit und Rechtswirksamkeit dieser Einwilligungserklärung können indessen dahingestellt bleiben, weil die Sprungrevision selbst in vorliegender Sache nach Wortlaut und Inhalt des § 161 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht statthaft ist. Nach dieser Bestimmung kann die unmittelbare Revision zum Bundessozialgericht nur eingelegt werden, falls "Urteile der Sozialgerichte nach § 150 mit der Berufung anfechtbar sind".

VIII. Die infolge der Bezugnahme durch § 161 SGG erforderliche Prüfung des § 150 SGG führt, da dessen Einleitungssatz die negative Verweisung "ungeachtet der §§ 144 bis 149" enthält, zwingend dazu, diese Vorschrift positiv so auszulegen, wie wenn sie eingeleitet würde "Ungeachtet der Unzulässigkeit der Berufung nach §§ 144 bis 149 SGG findet die Berufung in den Fällen der §§ 144 bis 149 statt ...". Hiernach besagt die Voraussetzung des § 161 Abs. 1 Satz 1 SGG "Sind Urteile der Sozialgerichte nach § 150 mit der Berufung anfechtbar", daß die Sprungrevision in Streitsachen der §§ 144 bis 149 im gleichen Umfang statthaft sein soll, in dem nach § 150 SGG in den Fällen der §§ 144 bis 149 die Berufung statthaft ist.

IX. Das bedeutet allerdings zugleich, daß eine Sprungrevision dann nicht statthaft sein kann, wenn die Berufung bereits nach § 143 SGG möglich ist. Diese Regelung ist aber auch durchaus systematisch und prozeßökonomisch sinnvoll.

Der Gesetzgeber stellt zunächst mit dem den "Zweiten Abschnitt" = Rechtsmittel im "Ersten Unterabschnitt" = Berufung einleitenden § 143 SGG im ersten Halbsatz allgemein den Grundsatz auf "Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt". Er beschränkt diesen Grundsatz sodann mit dem zweiten Halbsatz "soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt", um die anschließend vom Gesetz in den §§ 144 bis 149 behandelten Angelegenheiten "minderen Grades" zur Entlastung der oberen Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit von Rechtsmitteln auszuschließen. Der Gesetzgeber schafft aber selbst wieder von jener Einschränkung eine rechtlich begründete Ausnahme, indem er unter den drei Voraussetzungen des § 150 in bestimmten Fällen der §§ 144 bis 149 die Berufung freigibt. Nur für diese in besonderer Art aus dem "Massenniveau" herausragenden Streitsachen erscheint der abgekürzte Instanzenzug durch Sprungrevision nach § 161 SGG vertretbar. Soweit das Gesetz hingegen das Rechtmittel der Berufung uneingeschränkt eröffnet hat - und dies trifft allgemein bei den in § 143 SGG einzuordnenden Fällen zu -, ist kein zwingender Anlaß erkennbar und würde es dem Interesse der Rechtspflege auf dem Gebiet der Sozialgerichtsbarkeit sogar entgegenstehen, eine Tatsacheninstanz allein nach Parteiwillen ausfallen zu lassen (zu vgl. Hofmann-Schroeter, § 161, Anm. 1; Peters-Sautter-Wolff, § 161, Erl. 1. Abs.). Die Dreistufigkeit des Rechtsgangs bildet in den Prozeßordnungen aller fachlichen Zweige der deutschen Gerichtsbarkeit die Regel. Ist ausnahmsweise in Verkürzung des Instanzenzugs eine Sprungrevision vorgesehen, so wird sie von Gesetzeswegen an feste Voraussetzungen und Bedingungen gebunden. Diese sind eng auszulegen, wie es die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gleichheit vor dem Gesetz für Ausnahmen im gerichtlichen Verfahrensrecht allgemein erfordern.

X. Die sprachliche Gestaltung des Gesetzestextes erhärtet die vorstehende Auslegung.

§ 143 SGG beginnt "Gegen die Urteile der Sozialgerichte ... (findet regelmäßig die Berufung statt). § 161 SGG dagegen ist eingeleitet "Sind Urteile ...". Wollte der Gesetzgeber in allen Fällen, in denen er die Berufung nach § 143 eröffnet, zugleich die Sprungrevision - unter den Voraussetzungen der Nr. 1 bis 3 des § 150 - zulassen, so hätte er unsomehr " die Urteile der Sozialgerichte" als Anwendungsbereich der Sprungrevision bezeichnen müssen, als er auch in der dem § 161 SGG unmittelbar vorhergehenden Vorschrift des § 160 die Revision nicht gegen "Urteile", sondern gegen " die Urteile" (der Landessozialgerichte) zugelassen hat.

Im übrigen wäre aber auch die Verweisung "ungeachtet der §§ 144 bis 149" im Einleitungssatz des § 150 SGG überflüssig und sinnlos, falls diese Gesetzesvorschrift den § 143 SGG miterfassen sollte.

XI. Nachdem der Anspruch des Klägers auf Arbeitslosenunterstützung für die Höchstdauer von 52 Wochen unbestreitbar nicht von den Rechtsmittelbeschränkungen der §§ 144 Abs. 1 Nr. 2 und 147 SGG betroffen wird, ist also das Urteil des Sozialgerichts nicht gemäß § 150 SGG, sondern allein nach § 143 SGG anfechtbar.

Das Sozialgericht konnte wegen dieser von Gesetzeswegen bereits vorhandenen Berufungsmöglichkeit keine weitere besondere Zulassung der Berufung durch Urteil aussprechen. Insoweit rügte der Kläger zu Unrecht einen Verfahrensmangel.

Nach Rechtslage war auch die Rechtsmittelbelehrung des Vorderrichters zutreffend. Hätte dieser darin die Sprungrevision erwähnt, so wäre die Belehrung mit den Rechtsfolgen aus § 66 Abs. 2 SGG unrichtig erteilt worden.

XII. Nach alledem entbehrte die vom Kläger unter Übergehung des Berufungsverfahrens unmittelbar beim Bundessozialgericht eingelegte Revision der gesetzlichen Grundlage; sie mußte deswegen gemäß § 169 Satz 2 SGG als unzulässig verworfen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324010

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge