Orientierungssatz

Bei einer Beitragsstreitigkeit ist die Feststellungsklage gemäß SGG § 55 Abs 1 Nr 1 iVm SGG § 55 Abs 2 gegeben, wenn es sich um die Anrechnung von Beiträgen handelt (vgl BSG 1973-05-25 11 RA 159/72 = SozR Nr 53 zu § 55 SGG). Durch SGG § 55 Abs 2 ist der Anwendungsbereich des SGG § 55 Abs 1 Nr 1 erweitert und auf Streitigkeiten erstreckt worden, deren Gegenstand nur die Berechnung oder die Anrechnung von Beiträgen ist. Die Anrechnung von Beiträgen ist dann Gegenstand des Streits, wenn die Beiträge für die Erfüllung der Wartezeit, die Erhaltung der Anwartschaft, die Berechnung der Rente und die Weiterversicherung von Bedeutung sind. In gleicher Weise betrifft der Streit, ob ein Versicherter zu den an sich versicherungspflichtig Beschäftigten, jedoch wegen Überschreitung der Jahresarbeitsverdienstgrenze befreiten Personen gehört und daher die von ihm freiwillig geleisteten Beiträge unter bestimmten Voraussetzungen den Pflichtbeiträgen gleichstehen, die Art der Anrechnung dieser Beiträge.

 

Normenkette

SGG § 55 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 18.01.1977; Aktenzeichen L 6 An 8/75)

SG Mannheim (Entscheidung vom 27.11.1974; Aktenzeichen S 5 An 820/74)

 

Gründe

I.

Der Kläger ist seit Juni 1966 ordentliches Vorstandsmitglied der P. H. AG in I. Er begehrt die Feststellung, daß die von der Beklagten ausgesprochene Befreiung von der Versicherungspflicht auch während seiner Tätigkeit als Vorstandsmitglied dieser Aktiengesellschaft in vollem Umfange fortwirkt.

Mit dem bindend gewordenen Bescheid vom 8. August 1968 hatte die Beklagte den Kläger auf dessen Antrag gem Art 2 § 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) wegen Überschreitung der Jahresarbeitsverdienstgrenze vom 1.Januar 1968 an von der Versicherungspflicht befreit. 1969 fragte der Kläger bei der Beklagten an, ob die von ihm seit 1968 entrichteten freiwilligen Beiträge Pflichtbeiträgen gleichstünden. Die Beklagte teilte dem Kläger daraufhin zunächst in einem Schreiben vom 23. Dezember 1969 und später mit den Schreiben vom 7. Dezember 1972 und 23. August 1973 unter Hinweis auf § 3 Abs 1a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) idF des Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 28.Juli 1969 - BGBl I 956 - (3. RVÄndG) mit, daß er als Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft nicht zu dem Personenkreis der pflichtversicherten Angestellten gehöre. Im Gegensatz hierzu wies die Beklagte mit den Schreiben vom 4. Januar und 6. Februar 1973 den Kläger unter Bezugnahme auf die Befreiung von der Versicherungspflicht auf die Voraussetzungen für die Gleichstellung freiwilliger Beiträge mit Pflichtbeiträgen hin.

Der Kläger hat am 22. April 1974 Klage auf Feststellung der Fortwirkung des Bescheides vom 8. August 1968 erhoben. Während der Anhängigkeit dieses Verfahrens im ersten Rechtszuge hat die Beklagte mit Bescheid vom 13. Mai 1974 den Befreiungsbescheid vom 8. August 1968 aufgehoben; diese Entscheidung hat sie aber alsbald wieder zurückgenommen, weil sie nunmehr der Ansicht ist, daß die in dem Bescheid vom 8. August 1968 getroffene Entscheidung lediglich ruhe.

Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat die Klage durch Urteil vom 27. November 1974 abgewiesen und ausgeführt, die Feststellungsklage sei zwar zulässig, weil der Kläger die Feststellung des Bestehens eines Rechtsverhältnisses iS des § 55 Abs 1 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) begehre, dessen Fortbestand durch das spätere Verhalten der Beklagten zweifelhaft geworden sei. Die Klage sei aber unbegründet, weil der Bescheid vom 8. August 1968 nicht wirksam sei. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 18. Januar 1977 zurückgewiesen. Es ist der Ansicht, die Feststellungsklage sei unzulässig. Soweit die Beklagte das Versicherungsverhältnis durch die Bescheide vom 8. August 1968 und 13.Mai 1974 sowie durch den zu dem letztgenannten Bescheid ergangenen Aufhebungsbescheid geregelt habe, komme allenfalls die Fortsetzungs-Feststellungsklage iS des § 131 Abs 1 Satz 3 SGG in Betracht; einen solchen Rechtsbehelf habe der Kläger jedoch nicht erhoben; er wolle vielmehr mit seinem Antrag nur die Anrechnung der Ausfallzeit klären; damit begehre er die Vorabentscheidung über eine einzelne Rechtsfrage, die nur für die Berechnung der späteren Rente bedeutsam sei. Hierfür bestehe derzeit kein Rechtsschutzbedürfnis. Der Streit betreffe schließlich auch keine Feststellung iS des § 55 Abs 2 SGG, weil die Berechnung oder Anrechnung der ab 1. Januar 1968 vom Kläger geleisteten Beiträge nicht streitig und die Auswirkung dieser Beiträge für die Anrechnung anderer Zeiten kein Beitragsstreit in diesem Sinne sei.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger - die vom Senat zugelassene - Revision eingelegt und zur Begründung ausgeführt, das Urteil des LSG beruhe auf einem wesentlichen Verfahrensmangel. Er begehre die Feststellung des Bestehens eines Versicherungsverhältnisses und habe an dieser Feststellung auch ein primär berechtigtes Interesse, weil im Hinblick auf die widersprüchlichen Entscheidungen und Erklärungen der Beklagten der Bestand und der Inhalt des Versicherungsverhältnisses streitig geworden seien.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 18. Januar 1977 und das Urteil des SG Mannheim vom 10. Dezember 1974 aufzuheben und festzustellen, daß die von der Beklagten mit Bescheid vom 8. August 1968 ausgesprochene Befreiung des Klägers von der Versicherungspflicht auch während seiner Tätigkeit als Vorstandsmitglied einer AG in vollem Umfange fortwirkt.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

II.

Die Revision des Klägers ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger macht zu Recht einen Verfahrensmangel geltend, auf dem das angefochtene Urteil auch beruht (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG); das LSG hat die Zulässigkeit der vom Kläger erhobenen Feststellungsklage iS des § 55 Abs 1 SGG iVm § 55 Abs 2 SGG wegen Fehlens des Rechtsschutzinteresses für diese Klage zu Unrecht verneint. Der Erlaß eines Prozeßurteils statt eines gebotenen Sachurteils ist stets ein wesentlicher Mangel des Verfahrens (BSGE 34, 237).

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß bei einer Beitragsstreitigkeit die Feststellungsklage gem § 55 Abs 1 Nr 1 SGG iVm § 55 Abs 2 SGG gegeben ist, wenn es sich um die Anrechnung von Beiträgen handelt (BSG SozR Nr 53 zu § 55 SGG). Durch § 55 Abs 2 SGG ist der Anwendungsbereich des § 55 Abs 1 Nr 1 SGG erweitert und auf Streitigkeiten erstreckt worden, deren Gegenstand nur die Berechnung oder die Anrechnung von Beiträgen ist (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: 9. Aufl 50. Nachtrag, S 240 m I; Meyer-Ladewig, SGG, § 55 RZ 11; offen gelassen noch in BSG SozR Nr 53 zu § 55 SGG). Die Anrechnung von Beiträgen ist dann Gegenstand des Streits, wenn die Beiträge für die Erfüllung der Wartezeit, die Erhaltung der Anwartschaft, die Berechnung der Rente und die Weiterversicherung von Bedeutung sind (BSGE 4, 264, 265; Brackmann aaO; Meyer-Ladewig aaO). In gleicher Weise betrifft der Streit, ob ein Versicherter zu den an sich versicherungspflichtig beschäftigten, jedoch wegen Überschreitung der Jahresarbeitsverdienstgrenze befreiten Personen gehört und daher die von ihm freiwillig geleisteten Beiträge unter bestimmten Voraussetzungen den Pflichtbeiträgen gleichstehen, die Art der Anrechnung dieser Beiträge.

Demgemäß betrifft der Streit unter den Beteiligten nicht nur eine später für die Rentenberechnung rechtserhebliche Vorfrage, sondern einen Anrechnungsstreit iS des § 55 Abs 2 SGG. Die Entscheidung über die Anrechnung der Beiträge setzt voraus, daß der Kläger ab 1. Januar 1968 überhaupt noch versicherungspflichtig ist, wovon die Beklagte in dem Bescheid vom 8. August 1968 und auch noch in den Schreiben vom 4. Januar und 6. Februar 1973 ausgegangen ist. Erst wenn die Versicherungspflicht des Klägers festgestellt wird, kann entschieden werden, ob die mit dem Bescheid vom 8. August 1968 ausgesprochene Befreiung überhaupt Rechtswirkungen entfalten konnte, ggf, ob die zunächst eingetretene Wirksamkeit dieses Verwaltungsaktes erloschen ist, ob die Befreiung - wie die Beklagte jetzt meint - derzeit ruht oder ob der Bescheid vom 8. August 1968 durch eine später getroffene inhaltsgleiche Entscheidung ersetzt worden ist. Dann kann auch erst entschieden werden, ob die vom Kläger nach dem 1. Januar 1968 aufgebrachten freiwilligen Beiträge Pflichtbeiträgen gleichgestellt sind.

Der Kläger hat auch ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung, da die Gleichstellung der von ihm freiwillig geleisteten Beiträge mit Pflichtbeiträgen von Bedeutung für die Entscheidung des Klägers über Art und Umfang seiner zukünftigen Beitragsaufwendungen ist. Das Rechtsschutzinteresse entfällt auch nicht deshalb, weil die Feststellungsklage grundsätzlich subsidiär gegenüber der Anfechtungsklage ist. Abgesehen davon, daß der Subsidiaritätsgrundsatz bei Feststellungsklagen gegen Versicherungsträger nicht gilt, soweit angenommen werden kann, daß der Streitstoff durch ein Feststellungsurteil sachgerecht erledigt wird (BSGE 10, 24; 12, 46; Brackmann aaO S 240 k I mwN), würde die Kombination der Feststellungsklage mit einer Anfechtungsklage voraussetzen, daß letztere sich gegen einen belastenden Verwaltungsakt der Beklagten richtet. Der Befreiungsbescheid vom 8.August 1968 ist kein den Kläger belastender Verwaltungsakt. Da die Beklagte die Wirksamkeit dieses Bescheides in Frage gestellt hat, ist hier auch die isolierte Feststellungsklage gem § 55 Abs 1 Nr 1 SGG iVm § 55 Abs 2 SGG die zutreffende Klageart. Nur soweit die Beklagte während der Rechtshängigkeit des sozialgerichtlichen Verfahrens neue den Kläger belastende Regelungen durch Verwaltungsakt getroffen und diese nicht bereits rechtswirksam wieder zurückgenommen hat, käme auch eine kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage in Betracht. Insoweit wird das LSG zu prüfen haben, ob der Kläger nicht bereits mit seinem bisherigen Sachvortrag eine entsprechende Anfechtungsklage erhoben hat; dem LSG würde es dann obliegen, gem § 106 Abs 1 SGG auf die Stellung eines diesem Begehren entsprechenden sachdienlichen Antrages hinzuwirken.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664679

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