Leitsatz (amtlich)

Scheitert der Versuch eines Arbeitslosen, sich seinen Lebensunterhalt durch Übernahme einer selbständigen Tätigkeit zu verdienen, innerhalb von etwa 6 Monaten, dann ist die folgende Arbeitslosigkeit nur die Fortsetzung der diesem Selbsthilfeversuch vorangegangenen Arbeitslosigkeit; der Anschluß an die vor ihr ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung ist dann auch für die spätere Arbeitslosigkeit gewahrt.

 

Normenkette

RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09; AVG § 36 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. Juni 1971 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 26. Juni 1969 geändert.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger das Altersruhegeld unter Anrechnung auch der Zeit vom 14. März 1950 bis 30. November 1955 als Ausfallzeit zu zahlen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten noch um die Erhöhung des Altersruhegeldes durch Anrechnung einer Ausfallzeit vom 14. März 1950 bis 30. November 1955.

Der 1896 geborene Kläger war bis April 1949 mit durch Arbeitslosigkeit und Kriegsdienst bedingten Unterbrechungen als technischer Angestellter, Hilfsarbeiter und Kontrolleur versicherungspflichtig beschäftigt. Anschließend erhielt er Arbeitslosenunterstützung. Da ihm das Arbeitsamt keine Beschäftigung nachweisen konnte, meldete er sich im Oktober 1949 aus dem Unterstützungsbezug ab und versuchte, seinen Lebensunterhalt durch Übernahme einer Provisionsvertretung zu bestreiten. Am 14. März 1950 meldete er sich wieder beim Arbeitsamt und war dann bis Ende November 1955 arbeitslos. Seit Januar 1961 erhält er Altersruhegeld; die Beklagte stellte es auf Grund einer Beitragsnachentrichtung mit Bescheid vom 18. Juni 1968 neu fest. Als letzte Ausfallzeit berücksichtigte sie die Arbeitslosigkeit bis Oktober 1949. Die Klage, mit der der Kläger die Anerkennung weiterer Ausfallzeiten begehrte, hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Düsseldorf vom 26. Juni 1969). Während des Berufungsverfahrens erkannte die Beklagte zusätzlich mehrere vor April 1949 liegende Ausfallzeiten an: sodann wurde die Berufung zurückgewiesen (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Nordrhein-Westfalen vom 3. Juni 1971). Hinsichtlich der Zeit vom 14. März 1950 bis 30. November 1955 führte das LSG aus: Diese Zeit könne als Ausfallzeit nicht berücksichtigt werden, weil sie keine versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen habe; der Anschluß an den letzten, für April 1949 entrichteten Pflichtbeitrag könne nicht als gewahrt angesehen werden. Die gesetzliche Ausfallzeitregelung gestatte es nicht, den sich über mehrere Monate erstreckenden Versuch des Klägers, sich als selbständiger Vertreter eine Existenz aufzubauen, versicherungsrechtlich als nicht geschehen anzusehen; der Kläger habewährend dieser Zeit außerhalb der Versichertengemeinschaft gestanden.

Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger (sinngemäß),

die vorinstanzlichen Urteile zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, das Altersruhegeld unter Anrechnung auch der Zeit vom 14. März 1950 bis 30. November 1955 als Ausfallzeit zu zahlen.

Der Kläger meint, es sei unbillig, diese Zeit nur deshalb nicht zu berücksichtigen, weil er vorher viereinhalb Monate versucht habe, sich als selbständiger Vertreter eine Existenz aufzubauen, um nicht weiter arbeitslos zu sein; die Vertretertätigkeit habe ihm keine nennenswerten Einkünfte gebracht, er habe sich deshalb wieder als arbeitslos gemeldet und weiterhin ... Arbeitslosenunterstützung bezogen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist begründet; die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, die noch streitige Zeit vom 14. März 1950 bis 30. November 1955 als Ausfallzeit anzurechnen.

Rechtsgrundlage für die Anrechnung einer Zeit der Arbeitslosigkeit als Ausfallzeit ist § 36 Abs. 1 Nr. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG; = § 1259 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Hiernach setzt eine solche Anrechnung u.a. voraus, daß durch die Arbeitslosigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit unterbrochen worden ist; die Arbeitslosigkeit muß der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit also unmittelbar gefolgt sein (BSG 16, 120 = SozR Nr. 4 zu § 1259 RVO). Wie sich aus § 36 Abs. 1 Satz 2 AVG ergibt, ist das auch dann noch der Fall, wenn zwischen dem Ende der versicherungspflichtigen Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit ein oder mehrere aufeinanderfolgende Zeitabschnitte liegen, die ihrerseits als Ausfallzeiten in Betracht kommen, der versicherungspflichtigen Beschäftigung sich also beispielsweise zunächst eine Zeit unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit mit nachfolgendem Kuraufenthalt anschließt und die Arbeitslosigkeit erst am Schluß dieser Rehabilitationsmaßnahme einsetzt (BSG SozR Nr. 32 zu § 1259 RVO). Hier wird mithin der unmittelbare Anschluß der Arbeitslosigkeit an die versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit vom Gesetz selbst fingiert. Das Bundessozialgericht (BSG) hat eine solche Fiktion ferner für zulässig gehalten, wenn zwischen dem Ende einer mit Beiträgen belegten versicherungspflichtigen Beschäftigung und dem Beginn der Arbeitslosigkeit drei Monate derselben Beschäftigung liegen, für die lediglich wegen Konkurses des Arbeitgebers keine Rentenversicherungsbeiträge mehr entrichtet worden sind (BSG SozR Nr. 29 zu § 1259 RVO). Nichts anderes darf aber auch gelten, wenn ein Arbeitsloser einen alsbald mißglückten Arbeitsversuch unternommen hat. Meldet sich nämlich ein Arbeitnehmer, der gleich dem Kläger nach Beendigung seiner versicherungspflichtigen Beschäftigung zunächst Arbeitslosenunterstützung bezogen hat, mangels alsbaldiger Vermittlung einer geeigneten Arbeitsstelle aus dem Unterstützungsbezug ab mit der Absicht und in der Hoffnung, sich seinen Lebensunterhalt durch Übernahme einer selbständigen Tätigkeit zu verdienen, so ist ein derartiger Selbsthilfeversuch erfahrungsgemäß nicht selten zum Scheitern verurteilt, weil zunächst einmal alle Voraussetzungen für die erfolgreiche Ausübung der selbständigen Tätigkeit fehlen. Es bestehen deshalb keine Bedenken, einen Arbeitslosen, der zu einer selbständigen Tätigkeit übergeht, jedenfalls für eine gewisse Anlaufzeit sogar weiterhin als arbeitslos anzusehen (BSG SozR Nr. 10 zu § 87 a AVAVG). Im vorliegenden Fall kann offen bleiben, wie lange eine derartige Anlaufzeit zu bemessen ist. Auch wenn sie nicht die gesamte Zeit von Oktober 1949 bis März 1950 umfassen würde, so wäre der Kläger zwar für einen Teil dieser Zeit nicht mehr arbeitslos gewesen, dies wäre aber hier unschädlich. Hat sich nämlich ein solcher Versicherter wieder arbeitslos gemeldet, so ist die nun folgende Arbeitslosigkeit im Grunde nur die Fortsetzung der ersten, mit dem Ende der versicherungspflichtigen Beschäftigung eingetretenen Arbeitslosenzeit. Das muß jedenfalls dann gelten, wenn die Zeit zwischen dem Ausscheiden aus dem Unterstützungsbezug und der erneuten Arbeitslosmeldung - wie beim Kläger - nicht mehr als etwa sechs Monate beträgt, denn innerhalb eines solchen verhältnismäßig kurzen Zeitabschnitts läßt sich erfahrungsgemäß stets überblicken, ob der Selbsthilfeversuch Erfolg verspricht oder zum Scheitern verurteilt sein wird. Gibt der Arbeitslose innerhalb einer so kurz bemessenen Zeitspanne den Selbsthilfeversuch wieder auf, dann muß er aber bei Würdigung aller Umstände auch für die Zwischenzeit berufsmäßig als Arbeitnehmer angesehen werden.

Wollte man anders entscheiden, so stünde der Versicherte hinsichtlich der Höhe der späteren Rente schlechter als bei nicht unterbrochener Arbeitslosenzeit; seine mit dem Selbsthilfeversuch bewiesene Eigeninitiative würde sich auf die Rentenhöhe also negativ auswirken. Ein solches Ergebnis wäre - das macht der Kläger mit Recht geltend - offensichtlich unbillig; denn ein Arbeitsloser, der erfolglos versucht, seine Wiedereingliederung in den Produktionsprozeß durch Selbsthilfe zu erreichen, würde dann allein wegen dieser Eigeninitiative benachteiligt werden. Auch liegt ein solcher Fall offensichtlich anders als jene Fälle, in denen sich ein selbständig Tätiger nach dem Verlust seiner geschäftlichen Existenz arbeitslos meldet (BSG SozR Nr. 22 zu § 1259 RVO). Es handelt sich hier auch nicht um einen Versicherten, der sich selbständig gemacht hat in der Absicht, für immer aus der Versichertengemeinschaft der abhängig Beschäftigten auszuscheiden, sondern im Gegenteil um einen Empfänger von Arbeitslosenunterstützung, der lediglich wegen der augenblicklichen Aussichtslosigkeit, demnächst wieder in abhängige Beschäftigung vermittelt zu werden, den alsbald mißglückten Versuch unternommen hat, zumindest vorübergehend durch Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit wenigstens das Existenzminimum zu verdienen und dadurch - wenn auch vielleicht nur für kurze Zeit - von der Straße zu kommen.

Nach alledem muß die Revision des Klägers Erfolg haben, denn die übrigen Voraussetzungen für die Anrechnung der Zeit vom 14. März 1950 bis 30. November 1955 als Ausfallzeit sind unstreitig erfüllt (§ 170 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 93

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