Leitsatz (amtlich)

Ist das Begehren eines Beschädigten auf Anerkennung einer bestimmten Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes durch den angefochtenen Bescheid ausdrücklich abgelehnt worden, so ist die dagegen erhobene Klage eine Aufhebungs- und Feststellungsklage im Sinne des SGG § 55 Abs 1 Nr 3, über die das Gericht auf Antrag des Klägers in der Urteilsformel entscheiden muß.

 

Normenkette

SGG § 54 Fassung: 1953-09-03, § 55 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Februar 1957 und der ihm zugrunde liegenden Feststellungen wird die Sache an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Das Versorgungsamt (VersorgA.) A erteilte dem Kläger am 14. Juni 1952 einen Bescheid, der folgende "Feststellung" enthält:

1. Als Versorgungsleiden im Sinne des Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) und des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) kann nicht anerkannt werden: "Rechtsseitige Taubheit; linksseitige Schalleitungsschwerhörigkeit mittleren Grades".

2. Ein Anspruch auf Versorgung besteht weder nach dem KBLG noch nach dem BVG.

Das Oberversicherungsamt (OVA.) A wies mit Urteil vom 7. Juli 1953 die Berufung (alten Rechts) des Klägers als unbegründet zurück. Es handele sich um ein anlagebedingtes Ohrenleiden, das durch den Wehrdienst verschlimmert worden sei. Der Verschlimmerungsanteil bedinge jedoch nur eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 20 v. H.. Hiernach bestehe kein Anspruch auf Rente. In der Berufungsverhandlung beantragte der Kläger nach der Sitzungsniederschrift vom 21. Februar 1957, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des angefochtenen Bescheides das Ohrenleiden als Schädigungsfolge anzuerkennen und ihm Rente nach einer MdE. um 30 v. H. zuzusprechen. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) wies mit Urteil vom 21. Februar 1957 die Berufung des Klägers zurück. Es führte aus: "Da im angefochtenen Urteil die Ohrenerkrankung bereits als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung anerkannt und die hierdurch bedingte MdE. auf 20 v. H. festgesetzt wurde, besteht nur mehr Streit darüber, ob die wehrdienstbedingte MdE. einen rentenberechtigenden Grad erreicht." Das LSG. stellte fest, dass sich das Gehörleiden des Klägers erst nach Beendigung seines Dienstes bei der Küstenartillerie (März 1944), und zwar erst nach dem Juli 1944 verschlechtert hat. Die Verschlimmerung sei aber offenbar eine Weiterentwicklung des vordienstlichen Leidens. Für den wehrdienstbedingten Verschlimmerungsanteil könne keine höhere MdE. als 20 v. H. in Frage kommen. Der Rentenanspruch des Klägers sei somit unbegründet. Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen.

Gegen dieses Urteil, das dem Kläger am 29. April 1957 zugestellt worden war, hat der Kläger am 21. Mai 1957 Revision eingelegt und diese, nachdem die Frist zur Begründung der Revision gemäß § 164 SGG bis zum 29. Juli 1957 verlängert worden war, mit Schriftsatz vom 26. Juni 1957, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG.) am 28. Juni 1957, begründet.

Er beantragt, unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Februar 1957 die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Der Kläger, der sich für die Statthaftigkeit seiner Revision auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beruft, rügt eine Verletzung der §§ 103 und 106 Abs. 1, 123, 128 Abs. 1 Satz 1 SGG durch das LSG. Er bezeichnet es als fehlerhaft, dass das LSG. es unterlassen habe, unter Abänderung des angefochtenen Bescheides und des angefochtenen Urteils in der Urteilsformel selbst festzustellen, dass sein Ohrenleiden Schädigungsfolge ist. Das LSG. habe außerdem nicht ausreichend begründet, weshalb der wehrdienstbedingte Verschlimmerungsanteil des Ohrenleidens nur mit 20 v. H. zu bemessen sei. Es hätte den medizinischen Sachverhalt aufklären müssen.

Der Beklagte hat beantragt, die Revision zu verwerfen, da ein wesentlicher Mangel des Verfahrens nicht vorliege. Soweit ein Verfahrensmangel darin zu finden sei, dass das OVA. hinsichtlich des Ohrenleidens kein Feststellungsurteil erlassen hat, habe der Kläger das Recht, diesen Mangel zu rügen, dadurch verloren, dass er ihn nicht im Berufungsverfahren geltend gemacht hat.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil der Kläger einen wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt hat und dieser Mangel auch vorliegt. Die Revision ist daher zulässig.

Es kann dahingestellt bleiben, ob das LSG. den Sachverhalt ungenügend aufgeklärt hat; denn der Kläger rügt einen anderen Verfahrensmangel mit Erfolg. Das LSG. hat nämlich gegen § 123 SGG insofern verstoßen, als es über das Begehren des Klägers, sein Ohrenleiden als Schädigungsfolge anzuerkennen, nicht entschieden hat, obwohl das OVA. mit der Zurückweisung der Berufung nach der Urteilsformel auch dieses Begehren zurückgewiesen hatte. Aus dem Inhalt der im Verfahren vor dem OVA. und im Berufungsverfahren vor dem LSG. gestellten Anträge ist zu entnehmen, welchen Klagearten der prozessuale Anspruch des Klägers nach neuem Recht (§§ 54, 55 SGG) unterzuordnen ist. Der Kläger hatte vor dem OVA. wie auch vor dem LSG. beantragt, den Beklagten zu verurteilen, das Ohrenleiden als Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen und ihm eine Rente zu gewähren. Dieses Begehren, soweit es die Rente angeht, ist eine zusammengefasste Aufhebungs- und Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs. 4 SGG. Soweit das Begehren die Anerkennung des Ohrenleidens als Wehrdienstbeschädigung betrifft, handelt es sich um eine Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG), verbunden mit einer Aufhebungsklage, die sich auf die Aufhebung der unter der Ziffer I 1 des angefochtenen Bescheides getroffenen negativen Feststellung, dass das Ohrenleiden nicht ein Versorgungsleiden ist, richtet. Diese im Bescheid getroffene Feststellung ist im vorliegenden Fall ein selbständiger Verwaltungsakt, was nicht nur aus der Form des angefochtenen Bescheides hervorgeht, sondern auch aus der Bedeutung einer solchen Feststellung für das anzuwendende sachliche Versorgungsrecht (vgl. § 10 Abs. 1 und 2, § 38 Abs. 1 Satz 2, § 57 Abs. 2, § 58 Abs. 2, § 59 Abs. 2, § 62 Abs. 1, § 85 Satz 1 BVG). Die Entscheidung über die Anerkennung oder Nichtanerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge enthält die Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit der Rechtsfolge, dass sie nach § 77 SGG für die Beteiligten bindend werden kann (vgl. BVerwG. 2 S. 273; 4 S. 128 ff.). Da es das prozessuale Ziel des Klägers ist, zu erreichen, dass der die Anerkennung seines Ohrenleidens als Versorgungsleiden betreffende Verwaltungsakt beseitigt und durch eine ihm günstige gerichtliche Feststellung ersetzt wird, hat sein dahingehender Antrag - anders als der in BSG. 5 S. 121 (122) mitgeteilte Fall - als Aufhebungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) und Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG) zu gelten.

Das OVA. hat über sämtliche prozessualen Ansprüche des Klägers zu dessen Ungunsten entschieden, indem es die Berufung (alten Rechts) zurückwies. Es hat also auch den auf Anerkennung des Ohrenleidens als Schädigungsfolge gerichteten Antrag des Klägers abgewiesen. Das Urteil des OVA. ist zwar insofern widerspruchsvoll, als in den Entscheidungsgründen ausgeführt ist, das Ohrenleiden sei - im Gegensatz zu dem Inhalt des angefochtenen Bescheides - durch den Wehrdienst verschlimmert worden. Die Frage der Gesetzmäßigkeit der Begründung besagt im vorliegenden Fall jedoch nichts für den Umfang der Entscheidung, die ihrem Wortlaut nach eindeutig ist (vgl. RGZ. 93 S. 158 (157)). Hat aber das OVA. über alle erhobenen prozessualen Ansprüche entschieden, so sind sie auf den unbeschränkten Rekurs des Klägers, der nach § 215 Abs. 3 SGG als Berufung galt, ohne Ausnahme dem LSG. zur Entscheidung angefallen (§ 202 in Verb. mit § 537 ZPO). Das LSG. musste daher sowohl über die zusammengefasste Aufhebungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) als auch über die Aufhebungs- und Feststellungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG) entscheiden. Hierzu war es um so mehr gedrängt, als der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. seinen Feststellungsantrag ausdrücklich wiederholt hatte. Das LSG. hat es jedoch unterlassen, hierüber zu entscheiden, weil es, wie nach seinem Hinweis auf den Inhalt der Entscheidungsgründe des Urteils des OVA. anzunehmen ist, der Ansicht war, dass es einer solchen Entscheidung nicht bedürfe. Diese Auffassung trifft aber nicht zu; denn aus § 141 SGG folgt, dass die Entscheidungsgründe an der materiellen Rechtskraft des Urteils nicht teilnehmen, wenngleich sie auch unter Umständen zum Verständnis der Urteilsformel heranzuziehen sind (vgl. BSG. 1 S. 52 (56); Peters-Sautter-Wolff, Komm. z. Sozialgerichtsbarkeit, § 141 Anm. 3 b/bb; Mellwitz, Komm. zum SGG, S. 81 Fußnote 6).

In dem Verfahren des LSG. liegt daher insofern, als es gegen § 123 SGG verstoßen hat, ein wesentlicher Mangel des Verfahrens, den der Kläger ordnungsgemäß mit der Revision gerügt hat. Der Geltendmachung dieses Mangels mit der Revision steht nicht entgegen, dass gemäß § 140 SGG ein Urteil, das einen Anspruch "übergangen" hat, grundsätzlich nur ergänzt werden kann. Um einen solchen Mangel handelt es sich hier nicht, da das LSG. von der Ansicht ausging, dass es über die Aufhebungs- und Feststellungsklage des Klägers nicht zu entscheiden habe (vgl. zu § 321 ZPO: RGZ 105 S. 236 (242), BGHZ. in MdR. 1953 S. 164, Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozessrechts, 7. Aufl., § 57 I 3 c).

Die Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Gesetzesverletzung (§ 162 Abs. 2 SGG). Hätte das LSG. seiner Pflicht gemäß über sämtliche erhobenen prozessualen Ansprüche entschieden, wäre das angefochtene Urteil möglicherweise anders ausgefallen. Obwohl es sich bei der Feststellungsklage und bei der Leistungsklage um verschiedene prozessuale Ansprüche handelt, wird die vom LSG. getroffene Entscheidung im ganzen von der Gesetzesverletzung ergriffen, da sie mit der Zurückweisung der Berufung über alle vom Kläger erhobenen prozessualen Ansprüche vollständig und abschließend geurteilt hat (vgl. BGHZ. in MdR. 1953 S. 164 ff.).

Das angefochtene Urteil war daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen in vollem Umfang aufzuheben. Der Rechtsstreit musste an das LSG. zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG. wird bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung davon ausgehen müssen, dass im vorliegenden Fall eine Feststellungsklage neben einer Aufhebungsklage erhoben werden kann (BSG. 3 S. 95 (98)). Das berechtigte Interesse des Klägers an der baldigen gerichtlichen Feststellung (§ 55 Abs. 1 SGG) wird gerade dann zu bejahen sein, wenn die Anerkennung des Ohrenleidens als Schädigungsfolge nicht dazu führt, den Kläger eine Beschädigtenrente gemäß § 29 BVG zuzusprechen. Der Entscheidung über die Aufhebungs- und Feststellungsklage wird die Sach- und Rechtslage zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht zugrunde zu legen sein (BSG. 3 S. 95 (103)). Gegenstand der Feststellung nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG ist die Frage, ob die in dem Antrag des Klägers bestimmt bezeichneten Gesundheitsstörungen Folgen einer Schädigung im Sinne des BVG. sind (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Komm. z. Sozialgerichtsbarkeit, 2. Aufl., § 55 SGG Anm. 4).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2290961

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