Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 10.02.1987; Aktenzeichen L 15 BU 34/86)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Februar 1987 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Kläger in rechter Form angehört hat.

Der Kläger hatte sich am 22. Juli 1983 durch einen Arbeitsunfall eine Unterarmfraktur links zugezogen, deren Folgen die Beklagte zunächst nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH entschädigt hatte. Nach Durchführung einer Nachuntersuchung hatte die Beklagte mit Bescheid vom 11. September 1984 die vorläufige Rente ab 1. November 1984 auf 10 vH der Vollrente (Stützrente) festgestellt. Während eines daraufhin anhängigen Klageverfahrens hatte sie eine ärztliche Äußerung nach Lage der Akten eingeholt: nach allgemeiner ärztlicher Erfahrung seien die Unfallfolgen für die Festsetzung der Dauerrente mit einer MdE von weniger als 10 vH zu bewerten. Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger unter Hinweis auf jene Äußerung mit, es sei beabsichtigt, die Gewährung einer Dauerrente abzulehnen und die vorläufige Rente zu entziehen; gemäß § 24 des Sozialgesetzbuches – Zehntes Buch -(SGB X) werde ihm Gelegenheit gegeben, sich innerhalb von zwei Wochen nach Erhalt dieses Schreibens zu äußern (Schreiben vom 26. April 1985, abgesandt am 29. April 1985, laut Rückschein dem Kläger ausgehändigt am 10. Mai 1985). Eine Erklärung des Klägers ging nicht ein. Mit Bescheid vom 7. Juni 1985 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Dauerrente infolge des Arbeitsunfalls vom 22. Juni 1983 ab und entzog die vorläufige Rente mit Ablauf des Monats Juli 1985. Der Bescheid wurde Gegenstand des laufenden Klageverfahrens. Mit Urteil vom 25. Juni 1986 hat das Sozialgericht (SG) den Bescheid vom 7. Juli 1985 aufgehoben und im übrigen die Klage abgewiesen. Die hiergegen nur von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 10. Februar 1987 zurückgewiesen. Der Bescheid verstoße gegen § 24 Abs 1 SGB X. Die dem Kläger eingeräumte Erklärungsfrist von zwei Wochen sei zu kurz gewesen. Die Angemessenheit der Erklärungsfrist richte sich nach den Umständen des Einzelfalles. Der Kläger sei medizinischer Laie. Unter Berücksichtigung seines Wohnsitzes im nicht deutschsprachigen Ausland sowie der Postlaufzeit des Anhörungsschreibens sei eine Mindestanhörungsfrist von einem Monat erforderlich. Das Zuwarten des Beklagten bis zur Bescheiderteilung sei unerheblich.

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 24 SGB X. Entgegen der Auffassung des LSG sei bei der Bemessung der Anhörungsfrist die Postlaufzeit (sie betrage 5 Tage von der Türkei nach Deutschland) angemessen berücksichtigt worden; insbesondere in der Türkei müßten zudem erforderliche Übersetzungen bzw ärztlicher Rat regelmäßig kurzfristig zu erlangen sein. Bei außergewöhnlichen Schwierigkeiten habe der Versicherte die Möglichkeit, einen Antrag auf Verlängerung der Anhörungsfrist zu stellen. Außerdem sei dem Kläger das Anhörungsschreiben am 10. Mai 1985 zugegangen, der Entziehungsbescheid jedoch erst am 7. Juni 1985 erlassen worden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25. Juni 1986 und das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Februar 1987 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 7. Juni 1985 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Mit Beschluß vom 19. Februar 1992 (GS 1/89) hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (GS-BSG) auf den Vorlagebeschluß des Senats vom 22. Februar 1989 entschieden: Die Verletzung der Anhörungspflicht im Verwaltungsverfahren führt zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes und ist deshalb bei der Entscheidung des Gerichts auch dann zu berücksichtigen, wenn sich der Betroffene nicht darauf berufen hat.

 

Entscheidungsgründe

II

Der Senat hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen. Der nach § 96 Abs 1 SGG im Klageverfahren mitangefochtene Bescheid vom 7. Juni 1985, der allein noch Verfahrensgegenstand ist, unterliegt der Aufhebung. Wie von den Vorinstanzen zu Recht entschieden hat die Beklagte den Kläger vor seinem Erlaß nicht ordnungsgemäß angehört (§ 24 Abs 1 SGB X). Denn die ihm gesetzte Äußerungsfrist (zwei Wochen nach Erhalt des Anhörungsschreibens) war zu kurz. Darauf, ob der Kläger diesen Anhörungsfehler gerügt hat, kommt es nicht an (GS-BSG vom 19. Februar 1992 – GS 1/89 –).

Das BSG ist bisher davon ausgegangen, daß die Angemessenheit der – nicht gesetzlich vorgeschriebenen (BSG vom 30. März 1982, SozR 1300 § 24 Nr 4 S 7) – Anhörungsfrist der Nachprüfung durch die Gerichte unterliegt und sich diese Frist nach den Umständen des Einzelfalles richtet. Dabei hat es für den Fall der Entziehung einer Verletztenrente ausgeführt, der Versicherte müsse Gelegenheit haben, sich mit seinem behandelnden Arzt und mit einer mit dem Sozialrecht vertrauten Person zu beraten, bevor er sich äußere. Solche Beratungen seien nur zu bestimmten Zeiten möglich. Mit Rücksicht darauf und die eigene zeitliche Bindung des Klägers durch seinen Beruf erscheine die damals gesetzte Frist von einer Woche als unangemessen kurz: „Im Ergebnis ist dem LSG darin zuzustimmen, daß in Fällen der vorliegenden Art, in denen also ein mit dem Sozialrecht nicht vertrauter Versicherter Gelegenheit haben soll, sich zur beabsichtigten Rentenentziehung aufgrund eines medizinischen Gutachtens zu äußern, eine Frist von zwei Wochen als angemessen erscheint” (BSG vom 24. Juli 1980, SozR 1200 § 34 Nr 12; ebenso auch BSG vom 30. März 1982, SozR 1300 § 24 Nr 4 S 7 f).

Dieser Rechtsauffassung schließt sich der Senat mit der Maßgabe an, daß jene Anhörungsfrist von zwei Wochen unter Ausschluß der Postlaufzeiten zu berechnen ist. Sie gilt in der Regel als Mindestfrist für Sachverhalte, bei denen dem Betroffenen die Einholung einer ärztlichen Ansicht ermöglicht werden muß. Beim Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalles kann die Verwaltung freilich auch verpflichtet bzw berechtigt sein, eine längere bzw kürzere Äußerungsfrist einzuräumen.

Der Senat geht von folgenden Erwägungen aus: Im Interesse der Verwaltungspraktikabilität erscheint es angebracht, den Leistungsträgern einen Richtwert vorzugeben, bei dessen Einhaltung dem Betroffenen regelmäßig (mit Möglichkeiten einer Abweichung nach oben und unten im Einzelfall) eine angemessene Anhörungsmöglichkeit gewährt wird. Diese Frist muß so bemessen sein, daß ihm ausreichend Zeit zur Einholung medizinischen und rechtlichen Rats sowie zur Abfassung seiner Äußerung bleibt.

Außer für untypische Fallkonstellationen darf der Betroffene nicht darauf verwiesen werden, er könne die Verlängerung einer zu kurzen Frist beantragen (vgl § 26 Abs 7 SGB X; hierzu BSG vom 30. März 1982, SozR 1300 § 24 Nr 4 S 7). Denn nach § 24 Abs 1 SGB X muß ihn die Frist in die Lage versetzen, „sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern” – also nicht lediglich dazu, eine Fristverlängerung zu beantragen. Der Beteiligte hat hierzu nur dann Veranlassung, wenn er die jeweils angemessene Frist aus besonderen Gründen nicht einhalten kann (BSG vom 24. Juli 1980, SozR 1200 § 34 Nr 12 S 54f). Als derartige besondere Gründe kommen jedoch nur solche in Betracht, die für den anhörenden Leistungsträger nicht ersichtlich sind, zB ein ihm nicht bekannter Urlaub oder Krankenhausaufenthalt des Betroffenen. Solche Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, ist den Verwaltungsbehörden bei Festlegung der Anhörungsfrist nicht möglich. Erweist sich die Äußerungsfrist aus derartigen nicht vorhersehbaren Gründen als zu kurz, so obliegt es ggfs der Verwaltung, nach § 26 Abs 7 SGB X eine – auch rückwirkende -Verlängerung einzuräumen.

Dagegen kann der Leistungsträger nicht von der Pflicht entbunden werden, die Anhörungsfrist von vornherein länger zu bemessen, wenn ihm Umstände bekannt sind, die eine zeitgerechte Äußerung erschweren, so etwa wegen der Komplexität des medizinischen Sachverhalts, der erschwerten Auffassungsgabe des Betroffenen aufgrund einer Hirnverletzung, uU auch wegen der mit einem Auslandsaufenthalt des Betroffenen verbundenen Schwierigkeiten. Andererseits ist es ihm nicht verwehrt, auch solche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, die eine Verkürzung der üblicherweise einzuhaltenden Anhörungsfrist rechtfertigen (so zB bei einfacher Fallgestaltung oder bei medizinischer Sachkunde des Betroffenen).

Damit kann es nur im Interesse des Leistungsträgers liegen, nicht eine von vornherein zu kurze Anhörungsfrist zu setzen. Denn dann muß er stets gewärtigen, daß ein daraufhin ohne vorherige Äußerung des Betroffenen ergangener Bescheid keinen Bestand hat. Dies gilt gerade angesichts der vom Großen Senat des BSG in seinem Beschluß vom 19. Februar 1992 (GS 1/89) bekräftigten Auffassung, daß Anhörungsfehler auch ohne Rüge des Betroffenen zur Aufhebung des Bescheides vor Gericht führen. Dabei rechtfertigt die Abschaffung der „Sprungklage” (Streichung des § 78 Abs 2 SGG durch Anl I Kap VIII Sachgebiet D Abschnitt II Nr 1 Buchst a des Einigungsvertrages – BGBl 1990 II 1032) keine nachlässige Verfahrensweise. Denn auch bei Geltung des Vorverfahrenszwangs werden Anhörungsfehler nicht denknotwendig im Widerspruchsverfahren geheilt – zB bei Einbeziehung eines Bescheides in ein laufendes Klageverfahren nach § 96 SGG (wie im vorliegenden Fall) oder wenn die Widerspruchsbehörde Vorbringen des Klägers nicht zur Kenntnis nimmt (vgl allg BVerwG vom 17. August 1982, BVerwGE 66, 111, 114 f).

Auf dieser Grundlage aber ist eine Äußerungsfrist von zwei Wochen – verstanden als Zeitspanne zwischen dem Eingang des Anhörungsschreibens beim Betroffenen und der Absendung seiner Stellungnahme, also ohne Anrechnung der Postlaufzeiten – bei einer geplanten Bescheiderteilung unter Berücksichtigung medizinischer Erkenntnisse im Regelfall angemessen (so auch Krasney, NVwZ 1986, 337, 341).

Dabei bleibt es dem Leistungsträger überlassen, ob er dem Betroffenen im Anhörungsschreiben ein bestimmtes Datum vorgibt, das mindestens zwei Wochen zuzüglich der normalen Postlaufzeiten (zum und vom Betroffenen) nach dem Datum der Absendung des Anhörungsschreibens beim Leistungsträger zu liegen hätte, oder ob er dem Betroffenen eine Äußerungsfrist von zB „drei Wochen nach Erhalt” des Anhörungsschreibens (also unter Einbeziehung der Postlaufzeit) setzt.

Auf der Grundlage der dargelegten Maßstäbe aber war die dem Kläger gesetzte Anhörungsfrist von zwei Wochen nach Erhalt des Anhörungsschreibens auf jeden Fall zu kurz. Unter Berücksichtigung der hierin enthaltenen Postlaufzeit aus der Türkei in die Bundesrepublik (nach dem Vortrag der Beklagten: 5 Tage) verblieb dem Kläger eine Zeitspanne von lediglich knapp über einer Woche, welche Frist bereits in der oben zitierten Rechtsprechung des BSG als eindeutig zu kurz erachtet worden war. Offen kann daher bleiben, inwieweit die Beklagte darüber hinaus besondere Schwierigkeiten des in der Türkei lebenden Klägers hätte berücksichtigen müssen.

Zur Feststellung eines Verstoßes gegen die Anhörungspflicht nach § 24 Abs 1 SGB X ist darüber hinaus nicht die Überzeugung erforderlich, der Kläger hätte sich in der Tat, wäre ihm eine angemessene Frist zur Verfügung gestellt worden, zum geplanten Erlaß des Verwaltungsakts geäußert. Denn nach dieser Vorschrift ist dem Beteiligten, in dessen Rechte durch einen Verwaltungsakt eingegriffen werden soll, „Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern”. Dies aber setzt voraus, daß der Betroffene von dem Vorhaben der Verwaltung Kenntnis erhält und ihm die Möglichkeit einer Äußerung eingeräumt wird. Hierzu gehört die Gewährung einer angemessen langen Äußerungsfrist (vgl BSG vom 24. Juli 1980, SozR 1200 § 34 Nr 12). Ob der betroffene Beteiligte die Gelegenheit zur Äußerung wahrnimmt, ist dann seine Sache. Es erschiene auch widersinnig, den Tatsachengerichten Ermittlungen dahin aufzubürden, ob der Versicherte willens gewesen wäre, sich zu äußern, wenn – wie vom GS nunmehr bekräftigt – eine Verletzung der Anhörungspflicht jederzeit von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Denn dies würde bedeuten, daß sich dann die Gerichte jeweils an den Kläger mit der Frage zu richten hätten, ob er sich denn bei korrekter Anhörung geäußert hätte. Eine solche Anfrage wird regelmäßig mit „Ja” beantwortet werden, was kaum überprüfbar sein wird.

Schließlich vermag auch das Abwarten der Beklagten nach dem Ablauf der auf zwei Wochen bemessenen Äußerungsfrist am 24. Mai 1985 bis zur Bescheiderteilung am 7. Juni 1985 den Anhörungsfehler nicht zu beseitigen. Denn ein stillschweigendes Zuwarten ersetzt die zu kurz bemessene Äußerungsfrist nicht: Zu einer Äußerung nach dem 24. Mai 1985 hat die Beklagte dem Kläger iS des § 24 Abs 1 SGB X keine Gelegenheit gegeben.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1174595

BSGE, 104

NJW 1993, 1614

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