Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 15.02.1995; Aktenzeichen L 8 An 134/94)

 

Tenor

Die Revision des Klägers wird zurückgewiesen, soweit Leistungen bis zum 30. Juni 1990 begehrt werden.

Im übrigen wird auf die Revision des Klägers das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Februar 1995 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger ist als jugoslawischer Staatsangehöriger nach Deutschland gekommen. Er lebte hier bereits seit Jahren, als er am 29. November 1985 in Düsseldorf auf einem öffentlichen Platz stark verletzt aufgefunden wurde. Infolge dieser Verletzungen leidet er unter einer mittelgradigen Halbseitenlähmung, einer zentralen motorischen Sprachstörung und unter einem schweren hirnorganischen Psychosyndrom.

Der Beklagte lehnte es ab, die im September 1986 beantragte Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) zu gewähren, weil eine Gewalttat sich nicht habe nachweisen lassen. Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat den Beklagten verurteilt festzustellen, daß die genannten Gesundheitsstörungen Schädigungsfolgen iS des OEG sind. Im übrigen – hinsichtlich des Leistungsantrages -hat es die Klage abgewiesen, weil die Gegenseitigkeit bei der Entschädigung von Gewaltopfern weder im Verhältnis zu Jugoslawien noch zu den daraus hervorgegangenen Teilstaaten verbürgt sei und der Kläger auch nicht unter die mit dem 2. OEG-Änderungsgesetz (2. OEG-ÄndG) vom 21. Juli 1993 eingeführte Neuregelung des § 1 Abs 5 OEG falle (Urteil vom 26. November 1993). Die allein vom Kläger eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen zurückgewiesen (Urteil vom 15. Februar 1995).

Mit der vom LSG zugelassenen Revision weist der Kläger darauf hin, daß das Erfordernis der Gegenseitigkeit im Amtshaftungsrecht fallengelassen worden sei.

Dieser Umstand führe iVm dem Ausschluß vor dem 1. Juli 1990 liegender Altfälle von den Verbesserungen durch das 2. OEG-ÄndG zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Februar 1995 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 26. November 1993 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 1. Juni 1987 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 1988 zu verurteilen, ab November 1985 Versorgungsleistungen nach dem OEG iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene zu 1) schließt sich dem Vorbringen des Klägers an. Sie stellt keinen Antrag; ebensowenig die Beigeladene zu 2).

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist teilweise iS einer Zurückverweisung begründet. Der im September 1986 gestellte Antrag kann frühestens seit 1. Juli 1990 zur nachträglichen Erbringung von Sozialleistungen führen. Für die vorausgehende Zeit hat es bei den ablehnenden Bescheiden des Beklagten zu verbleiben.

1. Vor dem 1. Juli 1990 standen dem Kläger Ansprüche auf Entschädigungsleistungen nach dem OEG schon deswegen nicht zu, weil er weder Deutscher war noch zum Personenkreis der „privilegierten Ausländer”, dh derjenigen Ausländer gehörte, deren Ansprüche nach dem OEG denjenigen von Deutschen vollständig gleichgestellt waren (vgl § 1 Abs 4 OEG). Nicht privilegierte Ausländer (vgl dazu insbesondere § 1 Abs 5 und 6 OEG in der seit 1. Juli 1990 geltenden Fassung) können Ansprüche nach dem OEG frühestens seit Inkrafttreten des 2. OEG-ÄndG (1. Juli 1990) haben (vgl § 10c OEG idF des OEG-ÄndG). Bis zum 30. Juni 1990 gehörten zum Kreis der privilegierten Ausländer nach dem Wortlaut des § 1 Abs 4 OEG aF solche Ausländer, deren Heimatstaat das Erfordernis der Gegenseitigkeit erfüllte. Zu den privilegierten Ausländern gehörten vor dem 1. Juli 1990 kraft höherrangigen Rechts aber auch Angehörige von Mitgliedsstaaten der EG (vgl die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Cowan 186/87, EuGHE 1989, 195 = NJW 1989, S 2183 sowie die klarstellende Bestimmung des § 1 Abs 4 Nr 1 OEG in der ab 1. Juli 1990 geltenden Fassung).

Der Kläger gehörte und gehört keinem Mitgliedsstaat der EG an. Auf ihn sind auch keine Rechtsvorschriften der EG anwendbar, die eine Gleichbehandlung mit Deutschen erforderlich machen (vgl dazu die – ebenfalls nur klarstellende -Vorschrift des § 1 Abs 4 Nr 2 OEG nF; diese Bestimmung bezieht sich auf das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 – BGBl 1993 II S 267 und S 1294). Eine Gleichbehandlung mit Staatsangehörigen von Mitgliedsstaaten der EG konnte der Kläger auch nicht nach dem zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien geschlossenen Kooperationsabkommen vom 24. Januar 1983 verlangen (vgl Verordnung des Rates der EWG Nr 314/83 vom 24. Januar 1983, Amtsbl der EG Nr L 41/1 vom 14. Februar 1983). Denn dieses – inzwischen gekündigte – Abkommen sah – im Gegensatz zum Vertrag zur Gründung der EG (EGVtr – vgl dort insbesondere Art 59 ff) -keinen freien Dienstleistungsverkehr vor, sondern beschränkte sich darauf, die Arbeitnehmer jugoslawischer Staatsangehörigkeit hinsichtlich der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen (Art 44 des Kooperationsabkommens) sowie auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit (vgl Art 45 des Kooperationsabkommens) Inländern gleichzustellen. Unter „Gebiet der sozialen Sicherheit” waren und sind dabei diejenigen Rechtsgebiete zu verstehen, die – in Konkretisierung des Art 51 EGVtr – in Art 4 der Verordnung des Rats der EWG Nr 1408/71 aufgezählt sind. Hierunter fällt das Entschädigungsrecht nicht (vgl dazu auch die Schlußanträge des Generalanwalts in der Rechtssache Cowan Rz 44 und 52, EuGHE aaO S 212 und S 213). Auch sonstige internationale Vereinbarungen führen nicht zur Gleichstellung des Klägers mit Deutschen (vgl dazu § 1 Abs 4 Nr 3 OEG nF). Das gilt insbesondere für das Europäische Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten vom 24. November 1983 (vgl dazu BR-Drucks 508/95). Dieses Abkommen ist noch nicht durch den Bundestag ratifiziert worden und daher noch nicht in Kraft getreten (vgl dazu Art 14 Satz 2 des Abkommens).

Der Kläger gehört auch keinem Staat an, dessen Rechtsordnung hinsichtlich des Gewaltopferentschädigungsrechts das Erfordernis der Gegenseitigkeit erfüllt (vgl § 1 Abs 4 OEG aF und § 1 Abs 4 Nr 4 OEG nF). Gegenseitigkeit in diesem Sinne ist dann gegeben, wenn ein staatliches Entschädigungssystem vorhanden ist, welches den Leistungen des OEG entsprechende Leistungen für Folgen von Gewalttaten auch für Deutsche vorsieht (vgl Kunz/Zellner, 3. Aufl, Rz 103 zu § 1 OEG). Die staatlichen Leistungen müssen sich zwar nicht in jeder Hinsicht decken; dies wird im Verhältnis zu einer fremden Rechtsordnung praktisch nie der Fall sein können. Es muß aber ein gewisser Mindeststandard gewährleistet sein. Das Gesetz umschreibt diesen Mindeststandard allerdings nicht. Es ordnet auch nicht an, daß – wie auf anderen Rechtsgebieten (vgl § 121 Abs 5 Urheberrechtsgesetz; § 34 Abs 2 Markengesetz; § 14 Abs 5 Nr 1 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes vom 18. Dezember 1990 – BGBl I S 2983) – die Vergleichbarkeit der ausländischen Regelung durch Bekanntmachung oder Verordnung des zuständigen Bundesministers in verbindlicher Weise geregelt wird. Dennoch ist das Erfordernis der Gegenseitigkeit, ausgelegt am Maßstab seiner Funktion, hinreichend justiziabel, und die Frage der Bejahung oder Verneinung nicht ein bloßer Akt politischer Wertung, insbesondere außenpolitischer Opportunität. Seine Funktion, langfristig gesehen Deutschen im Ausland einen Schutz vor Gewalttaten etwa wie im Inland zu verschaffen, kann es nur erfüllen, wenn die staatlichen Leistungen im Kernbereich übereinstimmen. Dies ist von den Gerichten zu überprüfen und ohne weiteres zu verneinen, wenn in dem entsprechenden ausländischen Staat überhaupt keine Gewaltopferentschädigung existiert oder eine solche nur in Teilbereichen der Gewaltkriminalität, insbesondere bei politisch motivierten Gewalttaten, vorgesehen ist. Ob wegen des unbestimmten Rechtsbegriffs der Verwaltung im Zweifelsfall ein Beurteilungsspielraum iS einer Einschätzungsprärogative einzuräumen wäre, kann hier offenbleiben. Die jugoslawische Regelung erfüllt die Mindestanforderungen eindeutig nicht, so daß jede andere Entscheidung als die Verneinung der Gewährleistung der Gegenseitigkeit nicht vertretbar wäre. Nach den Feststellungen des LSG sieht das jugoslawische Obligationenrecht lediglich Entschädigungen für solche Schäden vor, die infolge von Gewalt- und Terrorakten im Verlauf von öffentlichen Demonstrationen und Manifestationen „Manifesten”) entstanden sind. Entschädigungen werden also insbesondere nicht für Verbrechen innerhalb der Privatsphäre gewährt. Gegen diese Feststellungen zum Inhalt der jugoslawischen Rechtsordnung hat der Kläger Revisionsrügen nicht erhoben. Sie sind, da sie nicht den Inhalt und die Auslegung von Bundesrecht betreffen (§ 162 SGG), für das Revisionsgericht bindend (BSGE 44, 221, 222 = SozR 5050 § 15 Nr 8). Zu Recht hat das LSG aus der von ihm festgestellten ausländischen Rechtslage (im Einklang mit dem Rundschreiben des BMA vom 4. November 1991, BArbBl 1992, 2/110) geschlossen, daß die Gegenseitigkeit im Verhältnis zu Jugoslawien nicht gegeben ist. Dies unterliegt als Auslegung des bundesrechtlichen Merkmals der Gegenseitigkeit der revisionsrechtlichen Nachprüfung. Weil für den wesentlichen Teil der deutschen Regelung, nämlich der umfassenden Entschädigung für Opfer vorsätzlicher Gewalttaten jedweder Art, sich in der jugoslawischen Rechtsordnung keine Entsprechung findet und ein Deutscher bei einer vergleichbaren Gewalttat im Herkunftsland des Klägers ohne Entschädigung geblieben wäre, kann auch nicht annähernd von einer Vergleichbarkeit der Entschädigungssysteme gesprochen werden. Daß eine weitergehende Regelung in einem jugoslawischen Nachfolgestaat gegeben wäre, behauptet der Kläger nicht; dafür besteht auch kein Anhaltspunkt (vgl Rundschreiben des BMA vom 15. Februar 1993 – BArbBl 4/1993 S 88).

Die Gegenseitigkeitsregelung in § 1 Abs 4 OEG in den verschiedenen Fassungen ist verfassungsgemäß. Bei dem Gegenseitigkeitsvorbehalt handelt es sich um ein im Völkerrecht übliches Rechtsinstitut, das zahlreichen völkerrechtlichen Verträgen und auch zahlreichen inländischen Normen mit Auslandsbezug zugrunde liegt, deren Verfassungsmäßigkeit bereits bejaht worden ist (vgl dazu auch Art 25 Grundgesetz ≪GG≫ und Urteil des Senats BSGE 60, 186, 188 = SozR 3800 § 1 Nr 8; BVerfGE 30, 409, 414 – Verfassungsmäßigkeit des Gegenseitigkeitsvorbehalts bei der Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft; BVerfG, Beschluß vom 5. Oktober 1982, EuGRZ 1982, 508 – zum Gegenseitigkeitsvorbehalt bei Staatshaftung; BVerfG, Beschluß vom 17. Januar 1991, NVwZ 1991, 661 – ebenfalls zur Gegenseitigkeit im Staatshaftungsrecht). Die in dem Gegenseitigkeitsvorbehalt liegende Ungleichbehandlung der Ausländer ist auch im Bereich der Gewaltopferentschädigung nach wie vor durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Dem kann nicht entgegengehalten werden, die bisherige Praxis habe erwiesen, daß der Gegenseitigkeitsvorbehalt ein untaugliches Mittel sei, deutschen Staatsbürgern im Ausland einen gleichwertigen Schutz zu verschaffen, weil zwanzig Jahre nach Inkrafttreten des OEG nur wenige Staaten ein vergleichbares Opferentschädigungssystem aufwiesen. Dieser Einwand verkennt, daß der Gegenseitigkeitsvorbehalt auf eine langfristige Wirkung angelegt ist und als ein ständiges Angebot an ausländische Staaten zum Abschluß zwischen- oder überstaatlicher Vereinbarungen verstanden werden kann. Es muß dem Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit auch die Möglichkeit eingeräumt werden, bei einer völlig neuen Sozialleistung wie der Opferentschädigung die Auswirkungen seiner Regelungen zu beobachten, Erfahrungen zu sammeln und auszuwerten, und erst dann über gesetzgeberischen Reformbedarf nachzudenken. Die mit dem 2. OEG-ÄndG vollzogenen Verbesserungen der Rechtsstellung der Ausländer bedeuten nicht, daß die ursprüngliche Regelung von Anfang an verfehlt gewesen wäre. Sie bedeuten nur, daß der Gesetzgeber in der konkreten innen- und außenpolitischen Lage dem Schutz der ständig in Deutschland lebenden Ausländer nunmehr den Vorrang vor anderen Zielen eingeräumt hat. Daß die an den Gegenseitigkeitsvorbehalt geknüpften Erwartungen des Gesetzgebers nicht von vornherein aussichtslos waren, für die Regelung damit iS des Art 3 Abs 1 GG sachliche Gründe sprechen, zeigen auch die Bestrebungen, nunmehr im Rahmen des Europarats zu vertraglichen Vereinbarungen über eine Gewaltopferentschädigung zu gelangen, die zu dem Übereinkommen vom 24. November 1983 geführt haben, das dem Bundestag inzwischen zur Ratifizierung vorliegt. Bei Würdigung dieser Entwicklung läßt sich nicht erkennen, daß der Gesetzgeber mit dem Gegenseitigkeitsvorbehalt ein von Anfang an zur Zweckerreichung ungeeignetes Mittel gewählt hat, noch daß er seiner Verpflichtung, nachträglich erkennbar gewordene Fehlentwicklungen zu beheben, nicht rechtzeitig nachgekommen ist.

2. Für die Zeit nach dem 30. Juni 1990 ist der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif. Seine Entscheidung hängt von dem Ergebnis weiterer Tatsachenfeststellungen ab, die der Senat nicht selbst treffen kann. Der Rechtsstreit ist daher insoweit an das LSG zurückzuverweisen.

Zu Recht hat das LSG Leistungsansprüche des Klägers auch für die Zeit nach dem 30. Juni 1990 geprüft. Die Bescheide des Beklagten vom 1. Juni 1987 und 21. Januar 1988 waren während der Rechtshängigkeit der gegen sie gerichteten Anfechtungs- und Leistungsklage (vgl BSGE 55, 87, 89 = SozR 1300 § 44 Nr 4; auch BSGE 63, 33 = SozR 1300 § 44 Nr 33) auch darauf zu überprüfen, ob dem Kläger inzwischen ein Anspruch auf die begehrte Leistung durch eine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse erwachsen war. Das ergibt sich aus dem Grundsatz, daß bei einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage die zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bestehende Sach- und Rechtslage maßgebend ist (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, Rz 34 und 37 mwN).

Ob dem Kläger nach dem 2. OEG-ÄndG seit dem 1. Juli 1990 ein Anspruch auf Entschädigungsleistungen zusteht, läßt sich aufgrund der vom LSG getroffenen Feststellungen noch nicht abschließend beantworten. Nach dem OEG idF des 2. OEG-ÄndG sind jetzt auch „nichtprivilegierten Ausländern” unter bestimmten Voraussetzungen Entschädigungsansprüche wegen der Folgen von an ihnen begangenen Gewalttaten eingeräumt. Das gilt vor allem für solche Ausländer, die sich seit mindestens drei Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten oder deren Aufenthalt ebensolange aus humanitären Gründen oder erheblichem öffentlichen Interesse geduldet worden ist (§ 1 Abs 5 Satz 1 Nr 1 iVm Satz 2 OEG nF). Dieser Personenkreis steht weitgehend Deutschen und privilegierten Ausländern gleich. Darüber hinaus erhalten nunmehr eingeschränkte (nur einkommensunabhängige) Leistungen solche (nichtprivilegierte) Ausländer, die sich rechtmäßig für einen nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von längstens sechs Monaten im Bundesgebiet aufhalten (§ 1 Abs 5 Satz 1 Nr 2 iVm Satz 2 OEG nF). Dieselben Leistungen erhalten nach § 1 Abs 6 OEG nF auch solche Ausländer, die sich – rechtmäßig – zwar nur für einen vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet aufhalten, aber mit einem Deutschen oder einem privilegierten oder unter Abs 5 fallenden Ausländer verheiratet oder in gerader Linie verwandt sind. Für alle drei genannten Gruppen von nichtprivilegierten Ausländern gilt die Erlöschens- und Abfindungsregelung des § 1 Abs 7 OEG nF. Keine Ansprüche stehen grundsätzlich nur solchen in Deutschland lebenden Ausländern zu, die sich für einen vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet aufhalten, ohne mit einem Deutschen oder einem der vorgenannten anspruchsberechtigten Ausländer verheiratet oder in gerader Linie verwandt zu sein; nicht anspruchsberechtigt bleiben schließlich auch diejenigen Ausländer, die sich unberechtigt im Bundesgebiet aufhalten. Aber auch den beiden zuletzt genannten Personengruppen ist in besonderen Härtefällen zumindest ein Ausgleichsanspruch eingeräumt (vgl § 10b OEG nF). Bezieht man diese Härteregelung mit ein, so können nunmehr – jedenfalls in besonderen Härtefällen – alle in Deutschland geschädigten Ausländer Leistungen nach dem OEG erhalten.

Eine Ausnahme bilden nach dem reinen Wortlaut des Gesetzes lediglich diejenigen nichtprivilegierten Ausländer, an denen eine Gewalttat vor dem 1. Juli 1990 verübt worden ist (§ 10 Satz 3 OEG). Diese Stichtagsregelung wäre aber verfassungswidrig, wenn sie Leistungen für Gewalttaten, die vor dem 1. Juli 1990 an Ausländern begangen worden sind, eindeutig auch für Härtefälle ausschlösse. Das Fehlen einer ausdrücklichen Härteregelung stellt eine gegen Art 3 Abs 1 GG verstoßende Gesetzeslücke dar, die im Wege verfassungskonformer Auslegung von den Gerichten geschlossen werden kann. Bei einer entsprechenden Anwendung des § 10a OEG auf die in § 1 Abs 5 und 6 genannten nichtprivilegierten Ausländer lassen sich die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Stichtagsregelung in § 10 Satz 3 OEG nF ausräumen (vgl BVerfGE 82, 6, 12).

Zwar sind – insbesondere bei Einräumung von Ansprüchen auf Sozialleistungen – Stichtagsregelungen grundsätzlich zulässig (BVerfGE 49, 275; 79, 219; 80, 311). Stets ist aber zu prüfen, ob der Gesetzgeber den ihm zukommenden Gestaltungsspielraum in sachgerechter Weise genutzt, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und ob sich die gefundene Lösung im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung durch sachliche Gründe rechtfertigen läßt oder als willkürlich erscheint (BVerfGE 80, 311; 44, 21 ff). Gegen den allgemeinen Gleichheitssatz wird insbesondere dann verstoßen, wenn der Gesetzgeber ohne erkennbare Gründe von seinen eigenen Grundsätzen abweicht (vgl BVerfGE 13, 31).

Die Stichtagsregelung des § 10 Satz 3 OEG nF enthält eine solche Systemwidrigkeit. Der gesetzlichen Regelung des 2. OEG-ÄndG läßt sich einerseits der Grundsatz entnehmen, daß nunmehr auch die bisher nicht nach dem OEG geschützten Ausländer, die sich rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, jedenfalls in Härtefällen für die Zeit ihres Aufenthalts im Inland in den Schutz des OEG einbezogen werden. Ein Bedürfnis für die Neuregelung sah der Gesetzgeber vor allem für die jüngste Vergangenheit und für die Zukunft, weshalb er in § 10 Satz 3 OEG nF einen entsprechenden Stichtag festsetzte. Der Anlaß für die Wahl des Stichtages – 1. Juli 1990 – war dabei der Umstand, daß etwa von diesem Zeitpunkt an eine alarmierende Zunahme von politisch motivierten Gewalttaten gegen in Deutschland lebende Ausländer zu beobachten war (vgl Gesetzentwurf BT-Drucks 12/4889, S 6). Durch die Neuregelung wurden aber nicht nur solche Ausländer begünstigt, die Opfer ausländerfeindlicher Aggressionen geworden waren. Vielmehr wurden mehr oder weniger alle Ausländer für Gewalttaten jeder Art in den Schutz des Gesetzes einbezogen. Damit trat für den Gesetzgeber des 2. OEG-ÄndG der Zweck der Ausländerintegration durch Einbeziehung in den Versorgungsschutz bei Gewalttaten jedweder Art in den Vordergrund; die politisch motivierten Gewalttaten waren nur der Anlaß, den Schutz der Ausländer insgesamt neu zu regeln. Ein Bedürfnis nach rechtlicher Integration besteht aber gerade auch für die vor dem Stichtag geschädigten Ausländer, weil diese sich in der Regel noch länger im Inland aufgehalten haben als die später Geschädigten. Eine Ausgrenzung dieses Personenkreises erscheint – jedenfalls in Härtefällen – um so weniger systemgerecht, als der Gesetzgeber in § 10b OEG nF zum Ausdruck gebracht hat, daß er in besonderen Härtefällen allen im Inland geschädigten Ausländern den Schutz des OEG zuwenden will. Mit diesem Grundgedanken ist das völlige Fehlen einer Härteregelung für Taten unvereinbar, die vor dem 1. Juli 1990 an Ausländern begangen worden sind. Treffen sogar beide Gesichtspunkte zusammen, handelt es sich also um Fälle von Gewalttaten, die an bereits typischerweise integrierten (§ 1 Abs 5 Satz 1 Nr 1 OEG nF) oder an typischerweise integrationswilligen Ausländern (§ 5 Abs 1 Satz 1 Nr 2 OEG nF) oder an deren sich vorübergehend im Inland aufhaltenden Angehörigen (§ 1 Abs 6 OEG nF) begangen worden sind, und liegt außerdem ein sozialer Härtefall vor, erscheint die Nichteinbeziehung dieser Ausländer nur wegen des Zeitpunkts ihrer Schädigung nach der Gesamtsystematik der Novelle vom 21. Juli 1993 als nicht mehr nachvollziehbar. Aus dem Gesetzgebungsverfahren des 2. OEG-ÄndG läßt sich nur sicher entnehmen, daß alle bekanntgewordenen politisch motivierten schweren Gewalttaten rückwirkend in das OEG einbezogen werden sollten. Daraus kann nicht der Schluß gezogen werden, daß alle sonstigen Gewalttaten an Ausländern aus der Vergangenheit künftig unentschädigt bleiben sollten. Es ist mangels eines entgegenstehenden erkennbaren gesetzgeberischen Willens von einer Regelungslücke auszugehen, die in verfassungskonformer Weise zu schließen ist.

Das Modell zur Schließung dieser Lücke entnimmt der Senat der Regelung, die der Gesetzgeber schon mehrfach bei der nachträglichen Einbeziehung sog Altfälle ins OEG getroffen hat. So hat er mit dem 1. OEG-ÄndG vom 20. Dezember 1984 (BGBl I S 1723) durch § 10a OEG schwere Gewalttaten aus der Zeit vom 23. Mai 1949 bis zum 15. Mai 1976 jedenfalls für die Zukunft in die Entschädigungstatbestände einbezogen. Ebenso ist der Gesetzgeber bei Einführung des OEG in den neuen Bundesländern vorgegangen. Das OEG gilt dort uneingeschränkt nur für Ansprüche aus Taten, die nach dem 2. Oktober 1990 begangen worden sind. Nach Maßgabe des § 10a OEG werden als Härtefälle aber auch Opfer von Gewalttaten aus der Zeit vom 7. Oktober 1949 (Gründung der DDR) bis zum Stichtag 2. Oktober 1990 entschädigt (Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr 18 Buchst c Einigungsvertrag idF der Änderung durch Art 2 des 2. OEG-ÄndG). Eine ähnliche Härteregelung enthält auch die mit Gesetz vom 24. Juli 1995 (BGBl I S 962) in das Soldatenversorgungsgesetz (SVG) eingefügte Vorschrift des § 81e Abs 12 SVG. Ein Versorgungsanspruch dienstlich im Ausland verwendeter Soldaten, die dort durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff geschädigt werden, besteht uneingeschränkt erst für Taten ab Inkrafttreten des Gesetzes am 29. Juli 1995. Für Hinterbliebene und Geschädigte, die allein infolge dieser Schädigung schwerbehindert sind, gilt dieser Stichtag nicht. Sie erhalten Versorgungsleistungen auch dann, wenn sie in der Zeit vom 1. April 1956 (Inkrafttreten des Soldatengesetzes) bis zum Inkrafttreten des § 81e SVG geschädigt worden sind.

Eine entsprechende Härteregelung kann auch den nach dem OEG nichtprivilegierten Ausländern nicht vorenthalten werden. Es gibt keinen sachlichen Grund, der das Fehlen einer solche Regelung noch als mit Art 3 Abs 1 GG vereinbar erscheinen lassen könnte. Zwar darf und muß der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung sozialer Leistungen auch die Finanzierbarkeit berücksichtigen, was dazu führen kann, daß Leistungen auch zeitlich gestaffelt und in verschiedener Höhe für bestimmte Personengruppen eingeführt werden können, wenn anders eine Finanzierung bei Beachtung einer soliden Haushaltsplanung nicht möglich erscheint (vgl BVerfG SozR 3-5761 Allg Nr 1). Für eine Gefährdung der staatlichen Haushalte von Bund und Ländern (vgl § 4 Abs 2 OEG) durch die Einbeziehung der sog Altfälle bestehen aber keine Anhaltspunkte, wenn nur die Härtefälle hinzutreten. Bei geschätzten Gesamtkosten zwischen jährlich vier bis 6,6 Mio DM in den Jahren 1993 bis 1996 (vgl Gesetzentwurf aaO S 2) dürften die Mehrkosten kaum ins Gewicht fallen. Für eine Ausgrenzung der Altfälle aus finanziellen Erwägungen finden sich in den genannten Gesetzesmaterialien auch keine Anhaltspunkte. Hinzu kommt, daß die auf Dauer im Inland lebenden schwerbeschädigten, bedürftigen Ausländer in der Regel ohnehin öffentlich-rechtliche Leistungen in Anspruch nehmen müssen, insbesondere solche nach dem Bundessozialhilfegesetz. Der Mehrbelastung von Bund und Ländern entspräche damit eine gewisse Entlastung der Gemeinden, die im Finanzausgleich berücksichtigt werden könnte.

Voraussetzung für die Härteregelungen des OEG ist durchgehend, daß der Betroffene allein als Folge der Gewalttat schwerbeschädigt und daß er finanziell bedürftig ist. Unter diesen Voraussetzungen muß auch in der Vergangenheit geschädigten Ausländern ab 1. Juli 1990 eine Entschädigung gewährt werden.

Ob dem Kläger nach dem zuvor Gesagten ab 1. Juli 1990 ein Anspruch nach dem OEG im Rahmen des § 1 Abs 5 oder 6 OEG nF zusteht, läßt sich nicht abschließend beurteilen, so daß der Rechtsstreit zur Klärung der tatsächlichen Voraussetzungen eines solchen Anspruchs an das LSG zurückzuverweisen ist. Zwar steht bestandskräftig fest, daß der Kläger Opfer einer Gewalttat geworden ist und welche Schädigungsfolgen bei ihm vorliegen. Das LSG wird aber noch zu prüfen haben, ob und ggf ab wann der Kläger die Voraussetzungen des § 1 Abs 5 oder Abs 6 OEG nF erfüllt. Bejahendenfalls wird zu prüfen sein, ob der Kläger unter die Härteregelung des § 10a OEG fällt, also insbesondere, ob er schwerbeschädigt und auch bedürftig ist.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175025

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