Entscheidungsstichwort (Thema)

Ruhen der Rente

 

Orientierungssatz

Alg und Bezug einer Versichertenrente.

 

Normenkette

RVO § 1283 Fassung: 1967-12-21, § 1294 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

SG Lübeck (Entscheidung vom 09.05.1975; Aktenzeichen S 3 J 536/74)

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 9. Mai 1975 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, die Rente wegen Berufsunfähigkeit an den Kläger auch für die Zeit vom 27. bis 30. Juni 1973 zu zahlen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

Es ist umstritten, ob die Berufsunfähigkeits(BU)-Rente des Klägers vom 27. bis 30. Juni 1973 wegen Bezugs von Arbeitslosengeld (Alg) ruht (§§ 1283, 1294 Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Der Kläger erhielt nach einem Arbeitsunfall im Oktober 1971 Verletztenrente. Von April bis Dezember 1972 erhielt er Rente wegen BU auf Zeit. Seit dem 27. Juni 1973 bezog er Alg. Im November 1973 anerkannte die Beklagte BU auf Zeit von Januar 1973 bis voraussichtlich Dezember 1974 und gewährte mit Bescheid vom 28. Februar 1974 die entsprechende Rente. Sie errechnete zunächst den Betrag der BU-Rente unter Anwendung der Ruhensvorschriften wegen des Zusammentreffens mit der Verletztenrente (§ 1278 RVO); dann verglich sie diesen Betrag mit dem Alg und stellte fest, daß die BU-Rente seit dem 27. Juni 1973 in voller Höhe ruhe (§ 1283 RVO).

Der Kläger meint, die BU-Rente ruhe für die Zeit vom 27. bis 30. Juni 1973 wegen des Alg nicht; sie müsse nach § 1294 RVO für den ganzen Monat, in dem das Ruhen eintrete - Juni 1973 -, gezahlt werden.

Die Beklagte hingegen ist der Auffassung, die Rente sei für den Monat, in dem das Ruhen eintrete, nur dann in voller Höhe zu zahlen, wenn der Berechtigte vor dem Beginn des Ruhens der Rente eine ruhensfreie Rente bezogen habe; dies sei hier nicht der Fall.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen; die "Berufung oder Revision" wurde zugelassen (Urteil vom 9. Mai 1975). Es hat im wesentlichen ausgeführt, § 1294 RVO sei nicht anzuwenden, wenn die Rente schon bei ihrem Beginn ruhe. § 1294 RVO erfasse nur Fälle, in denen das Ruhen eintrete, nachdem die Rente bereits begonnen habe.

Der Kläger hat Sprungrevision eingelegt und beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 27. bis 30. Juni 1973 auszuzahlen.

Der Kläger folgt nicht der Auffassung, § 1294 RVO sei hier nicht anzuwenden, weil er schon vor Auszahlung der zweiten Zeitrente Alg bezogen habe und deshalb das Ruhen mit dem Beginn der zweiten Zeitrente einsetze. Er meint, § 1294 RVO bezwecke, fällig gewordene Monatsbeträge dem Berechtigten zu belassen. Der Rentenanspruch werde mit dem Entstehen fällig und die Rente sei monatlich im voraus zu zahlen. Für die Anwendbarkeit des § 1294 RVO komme es nicht darauf an, wann zufälligerweise der Rentenbewilligungsbescheid erlassen werde, sondern von wann an die Rente bewilligt worden sei. Hier sei schon vor dem Zusammentreffen der Rente mit dem Alg eine Einzelleistung fällig gewesen. Das SG habe den Rentenbeginn mit der erstmaligen Auszahlung der Rente verwechselt.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, § 1294 RVO solle den Empfänger einer Rente davor schützen, daß die bereits monatlich im voraus fälligen Leistungen von ihm zurückgefordert werden. Außerdem solle sich der Rentenempfänger nicht unvermittelt einer Kürzung seiner Bezüge gegenübersehen. Diese Gedanken griffen aber nur ein, wenn die Rente bereits laufend ausgezahlt werde oder bereits bescheidmäßig zuerkannt worden sei. Ansprüche, die nur angemeldet seien, seien nicht in die Regelung des § 1294 RVO einbezogen.

Die Revision des Klägers ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf die Auszahlung des Teilbetrages der BU-Rente für die Zeit vom 27. bis 30. Juni 1973, der nach Berücksichtigung der Verletztenrente (§ 1278 RVO) nicht ruht.

Trifft eine Rente aus eigener Versicherung mit einem Alg zusammen, so ruht die Rente bis zur Höhe des Alg für den Zeitraum, für den beide Leistungen zu gewähren sind (§ 1283 Satz 1 RVO). Die Ausnahme, wenn ein BU-Rentenempfänger nach Beginn der Rente eine versicherungspflichtige Beschäftigung nach dem Arbeitsförderungsgesetz von 26 Wochen (6 Monaten) ausgeübt hat (§ 1283 Satz 2 RVO), liegt hier nicht vor, weil das Alg des Klägers nicht auf einer nach Beginn der BU-Rente ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung beruht.

In § 1283 Satz 1 RVO ist mit den Worten "für den Zeitraum, für den beide Leistungen zu gewähren sind" eine besondere Zeitbestimmung für das Ruhen getroffen, während § 1294 RVO bestimmt, daß die Rente für den Monat, in dem das Ruhen der Rente eintritt, für den ganzen Monat gezahlt wird.

Der erkennende Senat hat die Frage, ob § 1283 Satz 1 RVO die Anwendung des § 1294 RVO ausschließt, so daß die Rente in dem Monat, in dem das Alg beginnt, nicht mit dem vollen Monatsbetrag, sondern nur mit dem Betrag, der auf die Tage bis zum Beginn des Alg entfällt, zu zahlen wäre, bereits in früheren Entscheidungen verneint (BSG 29, 173; SozR 2200 § 1294 Nr. 1 RVO; s. auch SozR 2200 § 1283 Nr. 4 RVO). Daran ist festzuhalten. § 1294 RVO ist die allgemeine Vorschrift für Ruhenstatbestände. Der Zweck der Ruhensvorschriften zu vermeiden, daß solche Leistungen, die beide den Ausfall von Arbeitsverdienst ausgleichen sollen, nebeneinander bezogen werden, ist auch bei § 1283 RVO gegeben; jedoch ist die kleinste Renteneinheit - der Monatsbezug - nur bei klar erkennbarem Grund in Tagesraten aufzuteilen.

Im Zweifel - wie bei § 1283 Satz 1 RVO - ist an dem Grundprinzip des Monatsbetrages festzuhalten.

§ 1294 RVO ist auch anzuwenden, wenn eine Rente rückwirkend für eine Zeit vor Beginn des Alg bewilligt wird. Nach der Entstehungsgeschichte und der Entwicklung der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes (RVA) zu den entsprechenden früheren Vorschriften, die in den genannten Entscheidungen des Senats dargelegt sind, war der Zeitpunkt der Fälligkeit des Rentenanspruchs für die Anwendung des § 1301 RVO aF, später § 1290 RVO i. d. F. vom 17. Mai 1934, maßgebend. Dem ist auch bei der Auslegung der §§ 1283, 1294 RVO zu folgen.

Der Zeitpunkt der Fälligkeit des Rentenanspruchs ist ein von dem mehr oder weniger zufälligen Zeitpunkt der bescheidmäßigen Festsetzung eines Rentenanspruchs unabhängiges Kriterium. Ein Rentenanspruch wird fällig, wenn er beim Versicherungsträger geltend gemacht werden kann. Dann ist der Anspruch entstanden. Er ist entstanden, wenn seine materiell-rechtlichen Voraussetzungen vorliegen (GS vom 21. Dezember 1971 in BSG 34, 1, 14 ff, 18). Es kommt also für die Anwendung des § 1294 RVO nicht darauf an, ob die Rente schon laufend gezahlt wird, wenn der Ruhenstatbestand eintritt. Auch wenn ein Teil der Versichertenrente wegen Bezugs von Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung bereits ruht, ist am 1. des Monats, in dem das Alg beginnt, der restliche, nicht ruhende Teil der Versichertenrente fällig. Dieser Teil ist deshalb gemäß § 1294 RVO für den ganzen Monat zu zahlen.

Die vom SG herangezogene Entscheidung des 5. Senats vom 25. Mai 1972 (SozR Nr. 4 zu § 1294 RVO) steht nicht entgegen. Sie betrifft einen anderen Sachverhalt. Dort ist ausgeführt, daß § 1294 RVO nicht anzuwenden sei, wenn eine Rente von ihrem Beginn an ruht; wenn das Ruhen gleichzeitig mit dem Rentenbeginn eingetreten sei, so sei vor Eintritt des Ruhens noch keine Einzelleistung fällig geworden (vgl. auch die Entscheidung vom 29. Oktober 1975 - 12 RJ 96/75).

Der Anspruch des Klägers auf die zweite Zeitrente als Stammrecht ist spätestens im Januar 1973 entstanden. Sein Anspruch auf die restliche Rente für den Monat Juni 1973, in dem das Alg begann, ist am 1. Juni 1973 entstanden und gleichzeitig fällig geworden. Die Rente für Juni 1973 ist daher in der Höhe, die nach Anwendung der Ruhensvorschriften wegen des Bezugs von Verletztenrente bleibt, für den vollen Monat auszuzahlen.

Das Urteil des SG war daher aufzuheben und die Beklagte antragsgemäß zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650980

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