Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausspruch der Ehenichtigkeit nach dem Tode des Ehemannes. Unterhaltspflicht aus einem "sonstigen Grunde". Unterhaltspflicht für die Zeit vor Nichtigerklärung der Ehe

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ist eine Ehe erst nach dem Tode des Versicherten für nichtig erklärt worden, so hat die "frühere Ehefrau" einen Anspruch auf Rente aufgrund des AVG § 42 S 1 Alternative 1, wenn ihr der Versicherte unter der Voraussetzung einer Nichtigerklärung schon vor seinem Tode während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode nach den Vorschriften des EheG (§§ 26, 58 ff) zum Unterhalt verpflichtet gewesen wäre.

2. Ein während der später für nichtig erklärten Ehe bestehender Unterhaltsanspruch aus BGB § 1360 ist kein Unterhaltsanspruch "aus einem sonstigen Grunde" iS des AVG § 42 S 1 Alternative 2.

 

Normenkette

AVG § 42 S. 1 Alt. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 42 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23; BGB § 1360 Fassung: 1957-06-18; EheG § 20 Fassung: 1946-02-20, § 23 Fassung: 1946-02-20, § 24 Fassung: 1946-02-20, § 26 Fassung: 1946-02-20, § 58 Fassung: 1946-02-20; EheGDV § 16 Fassung: 1938-07-27

 

Tenor

Auf die Revision der Beigeladenen wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 9. April 1974 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Ehe der Beigeladenen mit dem Versicherten Edwin K wurde durch Urteil des Landgerichts (LG) Graudenz vom 20. August 1943 geschieden. Das Oberlandesgericht (OLG) Danzig hob dieses Urteil auf und verwies den Rechtsstreit an das zuständige LG zurück (Urteil vom 5. Mai 1944). Wegen der Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse kam es zu keinem Abschluß des Verfahrens.

Am 28. März 1946 heiratete der Versicherte die Klägerin; nach Scheidung dieser Ehe durch Urteil des LG Itzehoe vom 6. Februar 1952 heiratete er sie am 7. Dezember 1957 zum zweiten Mal. Am 25. September 1965 verstarb er.

Die beiden Ehen der Klägerin mit dem Versicherten wurden auf Klage der Staatsanwaltschaft durch Urteil des LG Hamburg vom 27. Oktober 1970, rechtskräftig am 30. November 1970, für nichtig erklärt; die Kosten wurden mit der Begründung gegeneinander aufgehoben, daß die Klägerin vom Fortbestehen der Ehe des Versicherten mit der Beigeladenen nichts gewußt habe.

Die Beklagte gewährte zunächst der Klägerin ab September 1965 Witwenrente (§ 41 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -); mit Bescheiden vom 2. Februar 1971 bewilligte sie der Beigeladenen ab September 1965 und der Klägerin ab April 1971 in entsprechender Anwendung von §§ 41, 45 Abs. 4 AVG gekürzte Witwenrenten, wobei sie sich Neufeststellungen für den Fall der - ihr bis dahin noch nicht bekannten - Rechtskraft des Ehenichtigkeitsurteils vorbehielt. Mit Bescheid vom 12. Oktober 1971 entzog die Beklagte, der inzwischen die Akte des LG Hamburg vorgelegen hatte, der Klägerin die Witwenrente mit Ablauf des Monats Oktober 1971. Mit Bescheid vom 3. November 1972 lehnte es die Beklagte ab, der Klägerin eine Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG zu gewähren.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat den Bescheid vom 3. November 1972 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin die Rente nach § 42 AVG zu gewähren (Urteil vom 3. Juli 1973). Die Berufung der Beigeladenen hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg mit Urteil vom 9. April 1974 zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Es könne dahingestellt bleiben, ob der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet habe; er habe ihr jedenfalls zur Zeit seines Todes Unterhalt "aus sonstigen Gründen" im Sinne der zweiten Möglichkeit des § 42 AVG leisten müssen. Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten sei damals noch nicht für nichtig erklärt und sei daher noch wie jede andere Ehe wirksam gewesen. Demgemäß sei der Versicherte der Klägerin nach den Vorschriften der §§ 1360 ff des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zum Unterhalt verpflichtet gewesen. Das Ehenichtigkeitsurteil habe daran nichts geändert, da zumindest die Klägerin die Nichtigkeit der Ehe im Zeitpunkt der Eheschließung nicht gekannt habe.

Hiergegen hat die Beigeladene die - zugelassene - Revision eingelegt und geltend gemacht, das LSG habe zu Unrecht das Vorliegen einer Unterhaltspflicht des Versicherten aus "sonstigen Gründen" bejaht.

Die Beigeladene beantragt

Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und Klagabweisung.

Die Klägerin beantragt

Zurückweisung der Revision.

Die Beklagte stellt keinen Antrag.

Alle Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie hat die Aufhebung des Berufungsurteils und die Zurückverweisung der Sache an das LSG zur Folge.

§ 42 AVG sieht die Gewährung einer Rente an die "frühere Ehefrau" auch für den Fall vor, daß ihre Ehe mit dem Versicherten für nichtig erklärt worden ist. Dabei ergeben sich keine Besonderheiten, wenn die Rechtskraft des die Nichtigkeit aussprechenden Urteils noch zu Lebzeiten des Versicherten eingetreten ist. Ob der Versicherte seiner "früheren Ehefrau" nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) Unterhalt zu leisten hatte, ergibt sich dabei aus den §§ 26 Abs. 1, 2, 58 ff EheG, § 16 der 1. DVO zum EheG. Ebenso kann der Versicherte in ähnlicher Weise wie nach einer Ehescheidung seiner "früheren Ehefrau" aus einem "sonstigen Grund", insbesondere aus Vertrag, zum Unterhalt verpflichtet gewesen sein oder ihr nach der (vgl. BSG 14, 255 (258)) Nichtigerklärung der Ehe Unterhalt geleistet haben.

Wesentlich anders ist die Lage bei Nichtigerklärung der Ehe erst nach dem Tode des Versicherten (vgl. Zeihe, ZfS 1965, 365; Barnewitz, ZfS 1968, 168; zum Fall der Scheidung nach dem Tode des Versicherten vgl. LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1967, 763). Da eine Unterhaltspflicht nach den §§ 58 ff EheG unter den Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 EheG nur vom Zeitpunkt der Rechtskraft des Nichtigkeitsurteils an bestehen kann (BGB - RGRK, 10. u. 11. Aufl., Anm. 10, 11 zu § 26 EheG; RGZ 104, 246 (248); Doelle, Familienrecht, S. 290; Gernhuber, Lehrbuch des Familienrechts, S. 117), ist hier für eine Unterhaltspflicht nach den Vorschriften des EheG kein Raum; ebenso fehlt es auch an einer Zeit nach Auflösung der Ehe, in der der Versicherte tatsächlich einen nach § 42 Abs. 1 Satz 1 AVG, 3. Alternative, in Betracht kommenden Unterhalt geleistet haben könnte.

Entgegen der Ansicht des LSG kann aber auch ein bis zum rechtskräftigen Ausspruch der Nichtigkeit gegebener Anspruch auf Unterhalt nach § 1360 BGB (vgl. BGB-RGRK, Anm. 11 zu § 26 EheG) nicht als ein Anspruch aus einem "sonstigen Grund" (zweite Alternative) angesehen werden. Würde man solches annehmen, so stünde der "früheren Ehefrau" eines vor der Nichtigerklärung verstorbenen Versicherten ein Anspruch auf Rente nach § 42 AVG u. U. selbst dann zu, wenn sie allein die Nichtigkeit gekannt hatte, während bei einer Nichtigerklärung zu Lebzeiten des Versicherten die Gewährung einer Rente nach der ersten Alternative des § 42 Abs. 1 Satz 1 AVG "Gutgläubigkeit" der früheren Ehefrau voraussetzt und § 1360 BGB als "sonstiger Grund" im Sinne der zweiten Alternative schon deswegen nicht in Betracht kommt, weil er "zur Zeit des Todes" nicht mehr gegeben war. Die Ansicht des LSG würde aber nicht nur zu einer Ungleichbehandlung je nach dem Zeitpunkt der Nichtigerklärung führen, sie ist auch unvereinbar mit den Grundgedanken des § 42 AVG. Denn wenn auch, wie der Große Senat in seinem Beschluß vom 27. Juni 1963 (BSG 20, 1 (4 f)) ausgeführt hat, die drei Alternativen des § 42 Abs. 1 Satz 1 AVG gleichwertig nebeneinander stehen, so sind doch die zweite und dritte Alternative nur als eine Erweiterung der ersten zu verstehen (vgl. BT-Drucksache II/2437). Mit der Erstreckung des Anspruchs aus § 42 AVG auf Fälle einer Unterhaltspflicht aus "sonstigen Gründen" hat der Gesetzgeber nicht zum Ausdruck gebracht, daß der Verlust irgendwelcher Geldansprüche durch den Tod des Versicherten ausgeglichen werden soll (SozR Nr. 37 zu § 1265 RVO Aa 40). Als Anspruch "aus einem sonstigen Grund" kann nicht eine Rechtsposition angesehen werden, deren Berücksichtigung in einem eindeutigen Gegensatz zu der bei der Auslegung der gesamten Vorschrift zu beachtenden Zielsetzung der ersten Alternative stünde. Die Begrenzung der Unterhaltsansprüche im Sinne der ersten Alternative auf solche nach dem EheG schließt einen Rückgriff auf gesetzliche Unterhaltsansprüche unter Ehegatten während bestehender Ehe aus. Dazu stünde es im Widerspruch, wollte man einen solchen gesetzlichen Unterhaltsanspruch im Rahmen der zweiten Alternative auch nur für den Fall genügen lassen, daß ein Unterhaltsanspruch nach dem EheG nicht entstanden sein kann. Denn wenn es auch für die Rentengewährung nach § 42 AVG eines Unterhaltsanspruchs nach dem EheG nicht immer bedarf, so muß doch für einen solchen Anspruch Raum gewesen sein; daran fehlt es bei einem gesetzlichen Unterhaltsanspruch, dessen Bestand die Entstehung eines Unterhaltsanspruchs nach dem EheG ausschließt und der daher nicht einen solchen Anspruch ersetzt oder ergänzt haben kann.

Aus diesen Überlegungen erhellt, daß der Gesetzgeber nur die Fälle im Auge gehabt hat, in denen der Versicherte erst nach rechtskräftigem Ausspruch der Nichtigkeit verstorben ist. Nur für diese Fälle lassen sich aus einer unmittelbaren Anwendung des Gesetzes sinnvolle Ergebnisse gewinnen. Für Fälle der vorliegenden Art besteht dagegen eine Gesetzeslücke. Bei deren Schließung ist auf die Regelung abzustellen, die der Gesetzgeber getroffen hätte, wenn er sich des hier gegebenen Sachverhalts bewußt gewesen wäre. Danach ist unter Berücksichtigung des Umstandes, daß die Ehe später für nichtig erklärt worden ist, von der zur "Zeit des Todes" des Versicherten gegebenen Lage auszugehen. Es kommt mithin zunächst darauf an, ob die Klägerin während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode des Versicherten gegen diesen einen Unterhaltsanspruch nach den Vorschriften des EheG gehabt hätte, wenn die Ehe damals bereits für nichtig erklärt gewesen wäre; damit wird eine Gleichbehandlung der Klägerin mit Ehefrauen erreicht, deren Ehe noch zu Lebzeiten des Versicherten für nichtig erklärt worden ist. Bei der Prüfung, ob die zweite Alternative des § 42 AVG gegeben ist, kommen nur solche Rechtsbeziehungen in Betracht, die durch einen früheren Ausspruch der Nichtigkeit nicht berührt worden wären; eine Unterhaltspflicht nach § 1360 BGB scheidet damit aus. Außer Betracht bleiben muß auch aus den in BSG 14, 255 (258) dargelegten Gründen die dritte Alternative des § 42 Abs. 1 Satz 1 AVG; denn wenn es auch in besonderen Ausnahmefällen nicht erforderlich erscheint, daß der Unterhalt während eines vollen Jahres geleistet worden ist (BSG 25, 86 (89)), müssen die Unterhaltsleistungen doch stets während einer Zeit zwischen der Nichtigerklärung der Ehe und dem späteren Tod des Versicherten erbracht worden sein.

Bei Beachtung dieser Grundsätze kann das Urteil des LSG nicht bestätigt werden. Es war zu prüfen, ob die Klägerin, wenn die Nichtigerklärung ihrer Ehen schon vor der "Zeit des Todes" des Versicherten erfolgt wäre, gemäß § 26 EheG einen Unterhaltsanspruch (nicht nur geringfügigen Umfangs) gegen den Versicherten gehabt hätte. Die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen nicht aus, diese Frage im Revisionsverfahren zu beantworten.

Der Rechtsstreit muß daher zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dabei hat das LSG auch über die außergerichtlichen Kosten der Beteiligten im Revisionsverfahren mitzubefinden.

 

Fundstellen

BSGE, 242

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