Leitsatz (amtlich)

Der Senat hält an der vom BSG in ständiger Rechtsprechung vertretenen Rechtsauffassung fest, daß bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit von freiwillig Weiterversicherten als "bisheriger Beruf" nur ein Beruf zugrundegelegt werden kann, in dem der Versicherte versicherungspflichtig (pflichtversichert) gewesen ist.

 

Normenkette

AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. August 1972 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Januar 1971 wird zurückgewiesen.

Kosten sind im Rechtsstreit nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Es ist streitig, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Angestelltenversicherung zusteht.

Der 1923 geborene Kläger war von Februar 1940 bis März 1942 als kaufmännischer Lehrling versicherungspflichtig beschäftigt. Nach der Gehilfenprüfung leistete er von April 1942 bis Mai 1945 Kriegsdienst. 1946 trat er als Geschäftsführer in die väterliche Kohlen-, Düngemittel-, Getreide- und Futtermittelhandlung ein, die er 1964 übernahm. Für die Zeit ab 1954 hat sich der Kläger freiwillig weiterversichert und jeden Monat mit Beiträgen, seit 1962 in den jeweils höchsten Klassen belegt.

Den im März 1968 nach einem Unfall vom Januar 1968 gestellten Rentenantrag des Klägers hat die Beklagte abgelehnt (Bescheid vom 18. September 1968). Das Sozialgericht (SG) Kassel hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. Januar 1971). Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte dagegen zur Rentenzahlung von April 1968 an verurteilt und ausgeführt: Der Kreis der für die Berufsunfähigkeit des Klägers maßgebenden Tätigkeiten umfasse die eines kaufmännischen Angestellten der Leistungsgruppe 2 in der Anlage 1 B zu § 22 des Fremdrentengesetzes (FRG). Berufsleben und Beitragsleistung des Klägers während der selbständigen Führung seines Handelsgeschäftes entsprächen der Tätigkeit und Beitragsleistung eines solchen gehobenen bis leitenden Angestellten. Die freiwilligen Beiträge dürften bei der Beurteilung des Berufsschutzes nicht außer Betracht bleiben; der gegenteiligen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), die als bisherigen Beruf bei freiwillig Weiterversicherten generell nur deren versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit berücksichtige, vermöge das LSG zumindest im vorliegenden Falle nicht zu folgen. Wenn bei Selbstversicherten der Beruf zugrunde gelegt werde, dem die freiwilligen Beiträge entsprächen, sei nicht einzusehen, weshalb das nicht auch für freiwillig Weiterversicherte gelten solle, zumal der Kläger ohne seine Pflichtversicherung im Jahre 1954 die Selbstversicherung hätte beginnen können. Aus gesundheitlichen Gründen könne der Kläger eine sitzende Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter nur noch fünf Stunden täglich ausüben; den gehobenen und höheren Angestellten sei aber für solche Teilzeitbeschäftigungen der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen. Auf seine Tätigkeit im eigenen Betrieb könne der Kläger nicht verwiesen werden, weil er dadurch nicht mehr das halbe Durchschnittseinkommen vergleichbarer Versicherter in abhängiger Beschäftigung erzielen könne (Urteil vom 24. August 1972; abgedruckt SozVers 1973, 50).

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung des § 23 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Die Rechtsprechung des BSG behandele die freiwillig Weiterversicherten und die Selbstversicherten zu Recht unterschiedlich. Bei freiwillig Weiterversicherten sei als bisheriger Beruf der versicherungspflichtige Beruf und demnach hier der Beruf eines kaufmännischen Lehrlings zugrunde zu legen. Der Kläger habe 1968 noch einen Reingewinn von 6.000,- DM und damit mehr als die Hälfte des Einkommens kaufmännischer Lehrlinge nach Abschluß ihrer Ausbildung erzielt; er könne also auf seine selbständige Tätigkeit verwiesen werden.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger ist noch nicht berufsunfähig i. S. des § 23 Abs. 2 AVG.

Bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit ist der "bisherige Beruf" des Versicherten der Ausgangspunkt der gesamten Beurteilung (BSG 24, 7; SozR Nr. 69 zu § 1246 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Das zeigt erneut der vorliegende Rechtsstreit, dessen Entscheidung von der zutreffenden Feststellung des "bisherigen Berufs" des Klägers abhängt. Nach der Rechtsprechung des BSG ist nicht jeder früher oder (und) jetzt vom Versicherten ausgeübte Beruf sein "bisheriger Beruf" i. S. des § 23 Abs. 2 AVG. Das gilt gerade auch für die Gruppe der freiwillig Weiterversicherten, zu denen der Kläger gehört. Dabei spielt es hier keine Rolle, daß es seit der Verkündung des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 die freiwillige Weiterversicherung als Sonderform freiwilliger Versicherung nicht mehr gibt (Art. 1 § 2 Nr. 4, Art. 6 § 8 Abs. 2 RRG); da der Kläger seine - bis 1968 festgestellten - freiwilligen Beiträge als zur Weiterversicherung Berechtigter geleistet hat, ist er als Weiterversicherter i. S. des bis zum RRG geltenden Rechts zu behandeln.

Es ist ständige Rechtsprechung des BSG, daß bei den freiwillig Weiterversicherten als bisheriger Beruf nur eine versicherungspflichtige (pflichtversicherte) Beschäftigung oder Tätigkeit des Versicherten zugrunde gelegt werden kann (BSG 7, 66; 19, 57, 58; 25, 129, 131; 27, 263, 264; SozR Nr. 10, 25, 65, 69, 92 zu § 1246 RVO). Diese Rechtsprechung hat an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes (RVA) zum damals maßgebenden "Lohndrittel" angeknüpft (EuM 40, 328); nach Ansicht des RVA (aaO S. 232) konnten "Personen, die nur vermöge der Fortsetzung der Pflichtversicherung ... Versicherte sind, nicht verlangen, daß das Einkommen ihrer jetzigen Berufsgenossen zum Vergleich herangezogen wird"; es könne "nur ihr Beruf zur Zeit des Bestehens der Versicherungspflicht ... maßgebend sein".

Der Senat sieht keinen überzeugenden Grund, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Er verkennt zwar nicht das Gewicht der dagegen erhobenen Einwände; das LSG (vgl. auch Jantz/Zweng, Rentenversicherung, 2. Aufl., § 1246 Anm. II B 3 c aa und B 7 a) weist zu Recht auf eine mangelnde Harmonie mit der Rechtsprechung zur Berufsunfähigkeit von Selbstversicherten hin. Diese Rechtsprechung (BSG 25, 129; SozR Nr. 64 und 66 zu § 1246 RVO) legt bei Selbstversicherten als "bisherigen Beruf" entweder die von ihnen während der Selbstversicherung ausgeübte Tätigkeit oder eine adäquate Tätigkeit von Pflichtversicherten zugrunde; unter dem Vorbehalt, daß die freiwillig entrichteten Beiträge diesem Beruf "entsprechen", wird demnach bei der Selbstversicherung von einem für den Versicherten nichtversicherungspflichtigen (pflichtversicherten) Beruf als "bisherige Beruf" ausgegangen. Hiernach liegt die Frage nahe, warum diese Grundsätze nicht auch bei freiwilliger Weiterversicherung angewendet werden. Hiergegen sprechen jedoch folgende Gründe:

Schon in BSG 24, 7 (11) hat der Senat dargelegt, daß der "bisherige Beruf" vom Sinngehalt des § 23 Abs. 2 AVG her (von Selbstversicherten einmal abgesehen) ein Beruf sein muß, in dem der Berechtigte versichert gewesen ist. Die konkrete Erwerbsfähigkeit des Versicherten wird zunächst (vgl. May, SozVers 1959, 184) im bisherigen Beruf und dann in Verweisungstätigkeiten geprüft, die "unter Berücksichtigung des bisherigen Berufes" (und weiterer dieses Merkmal modifizierender Kriterien) für den Versicherten zumutbar sein müssen (§ 23 Abs. 2 Satz 2 AVG); auch die "Vergleichsperson" i. S. des § 23 Abs. 2 Satz 1 AVG, mit deren Erwerbsfähigkeit die des Versicherten zu vergleichen ist, ist nur von dessen bisherigen Beruf aus zutreffend zu ermitteln (BSG 16, 34). Daraus folgt, daß bei dem Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit dem bisherigen Beruf des Versicherten eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt und daß deshalb dieser Beruf das versicherte Risiko bestimmt (nicht: ist). Das Risiko ist dementsprechend unter den Versicherten abgestuft, es steigt mit der jeweiligen beruflichen Qualifikation. Von daher ist es verständlich, daß ein solches unterschiedliches Risiko seine Grundlage im Versicherungsverhältnis haben muß; da das Risiko vom bisherigen Beruf des jeweiligen Versicherten bestimmt wird, muß dieser Beruf ein versicherter Beruf gewesen sein.

Als versichert kann aber ein Beruf nur dann gelten, wenn der Versicherte während dessen Ausübung versicherungspflichtig (pflichtversichert) gewesen ist. Dementsprechend kann bei den freiwillig Weiterversicherten als bisheriger Beruf allein eine Beschäftigung oder Tätigkeit in Betracht kommen, während der sie der Pflichtversicherung unterlagen. Ihre anschließende freiwillige Versicherung hat keine Beziehung zu einem bestimmten Beruf, sie war von jeglicher Berufsausübung unabhängig. Demzufolge fehlt auch jede Grundlage für eine Argumentation, die aus der Höhe und der Zahl der in dieser Zeit geleisteten freiwilligen Beiträge Schlüsse auf eine versicherungsrechtlich bedeutsame Wertung (Einschätzung) eines während der Weiterversicherung ausgeübten Berufes ziehen will.

Im Gegensatz zur freiwilligen Weiterversicherung stand die Rechtsprechung bei der Selbstversicherung vor dem Dilemma, daß es bei ihnen schlechthin keinen versicherten Beruf gibt. Es braucht hier nicht erörtert zu werden, welche Wege die Rechtsprechung zur Berufsunfähigkeit von Selbstversicherten hätte beschreiten können. Sie ist dahin gegangen, nach einem Ersatz für den fehlenden versicherten Beruf zu suchen und hat so jedenfalls eine unbeschränkte Verweisbarkeit für alle Selbstversicherten vermieden. Diese "Notlösung" kann nicht auf die freiwillige Weiterversicherung übertragen werden, weil sie sich von den eigentlich maßgebenden Prinzipien entfernt und nur für einen Sonderfall, nämlich den der Selbstversicherung gelten kann. Diese war unter dem hier noch maßgebenden Rechtszustand ein Fremdkörper in der gesetzlichen Rentenversicherung; sie konnte nach 1956 nicht mehr begonnen werden und hat nur einen unbedeutenden Teil der Versicherten erfaßt. Eine Erstreckung der für die Berufsunfähigkeit von Selbstversicherten entwickelten Grundsätze über diesen Kreis hinaus ist daher nicht gerechtfertigt.

Sie würde auch zu Komplikationen führen und nicht immer, wie im vorliegenden Fall, die Lage der Versicherten verbessern. Nach der bisherigen Rechtsprechung hat der Versicherte jedenfalls seinen beim Ausscheiden aus der Pflichtversicherung erlangten "Berufsschutz" erhalten. Der damals maßgebende "bisherige Beruf" war auch bei wesentlich späterer Berufsunfähigkeit zugrunde zu legen (SozR Nr. 65 zu § 1246 RVO; BSG 27, 263), ohne Rücksicht darauf, wieviele und wie hohe freiwillige Beiträge nach dem Ende der Pflichtversicherung noch entrichtet worden sind. Hieran möchte das LSG zwar nichts ändern, soweit die freiwillig Versicherten dadurch begünstigt werden; der Senat hielte es jedoch nicht für folgerichtig, die Grundsätze zur Berufsunfähigkeit von Selbstversicherten auf freiwillig Weiterversicherte nur dann anzuwenden, wenn sie sich zum Vorteil dieser Versicherten auswirken. Komplikationen entstünden beispielsweise, wenn etwa jeweils die Gründe für die Höhe und Dichte der Beitragsleistung aufzuklären wären.

Bei Abwägung aller dieser Gesichtspunkte hält es der Senat für richtig, an der bisherigen Rechtsprechung zur Berufsunfähigkeit von freiwillig Weiterversicherten festzuhalten. Dabei berücksichtigt er auch, daß es sich um eine langjährige Rechtsprechung handelt, die einen jetzt in der Vergangenheit liegenden Rechtszustand betrifft. Künftig gibt es nur noch eine einheitliche freiwillige Versicherung; welche Grundsätze dann anzuwenden sein werden, braucht hier nicht erörtert zu werden.

Unerheblich ist ferner der Hinweis des LSG, daß der Kläger 1954 ohne Pflichtbeiträge die Selbstversicherung hätte beginnen können (vgl. Koch/Hartmann AVG, IV, 3. Aufl., § 23 AVG, III, 1). Das ändert nichts daran, daß er als freiwillig Weiterversicherter zu behandeln ist. Im übrigen hat die Beklagte, vom Kläger unwidersprochen, aus ihren Akten vorgetragen, die Weiterversicherung sei erst im Dezember 1956 (mit Beitragsnachentrichtung bis 1954) begonnen worden, so daß eine damals begonnene Selbstversicherung nach Art. 2 § 5 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nicht hätte fortgesetzt werden dürfen.

Die bei Selbstversicherten geltenden Grundsätze können auch nicht ausnahmsweise aus den vom Prozeßbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geltend gemachten Gründen angewandt werden. Selbst wenn der Kläger nach dem Ende der Pflichtversicherung seinen Beruf nicht gewechselt hätte, ist dieser dennoch nur in der Gestalt zugrunde zu legen, wie er während der Pflichtversicherung ausgeübt worden ist (SozR Nr. 92 zu § 1246 RVO). Daran ändert sich auch nichts dadurch, daß der Kläger mit der versicherungspflichtigen Beschäftigung allein die Wartezeit für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit noch nicht erfüllt hatte. Die Entscheidung BSG 19, 279, auf die der Prozeßbevollmächtigte hingewiesen hat, betraf keinen Fall freiwilliger Weiterversicherung. Sie hat wie die Ausführungen auf Seite 281 zu BSG 6, 38, 39 ergeben, zudem anerkannt, daß der versicherungspflichtigen Beschäftigung, für die "Berufsschutz" begehrt wird, eine anschließende Ersatzzeit zugerechnet werden kann, hier also die Kriegsdienstzeit des Klägers, mit der die Wartezeit erfüllt würde. Mit dem erhobenen Einwand kann der Kläger schon darum nicht durchdringen.

Im Gegensatz zur Auffassung des LSG ist sonach als "bisheriger Beruf" der während der Pflichtversicherung ausgeübte Beruf zugrunde zu legen. Ob der Kläger in einer solchen Tätigkeit noch ausreichend erwerbsfähig wäre, kann dahingestellt bleiben. Er kann jedenfalls, von diesem Beruf ausgehend, wie die Beklagte zutreffend vorbringt, auf seine jetzige selbständige Tätigkeit verwiesen werden. Seine Erwerbsfähigkeit in dieser Tätigkeit ist noch nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten i. S. des § 23 Abs. 2 Satz 1 AVG (Vergleichsperson) - hier eines solchen aus der Gruppe der kaufmännischen Lehrlinge, auch nach Abschluß ihrer Ausbildung - herabgesunken. Das ergibt sich aus den tatsächlichen Feststellungen des LSG. Dieses hat für die Zeit nach dem Unfall die Verhältnisse des Jahres 1968 zugrunde gelegt. Der Kläger, der 1967 noch einen Gewinn von über 33.000,- DM erzielt hatte, hat im Jahre 1968 einen Gewinn von nahezu 10.000,- DM erwirtschaftet. Auch wenn davon eine Verzinsung von 4.000,- DM für ein Geschäftskapital von 100.000,- DM abgesetzt wird, liegt der Restbetrag höher als das halbe Durchschnittsjahresgehalt der Vergleichsgruppe.

Auf die Revision der Beklagten ist somit das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668969

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