Orientierungssatz

AVG § 10 Abs 1a (= RVO § 1233 Abs 1a) gilt für Personen, die gemäß AVG § 7 Abs 2 von der Versicherungspflicht befreit worden sind, auch während der Zeit, in der sie keine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Solange die Befreiung besteht, sind sie zur freiwilligen Versicherung nach AVG § 10 Abs 1 (= RVO § 1233 Abs 1) nur berechtigt, wenn sie für 60 Kalendermonate Beiträge entrichtet haben (Anschluß an BSG 1975-12-16 11 RA 26/75 = SozSich 1976, 123).

Sind für weniger als 60 Monate Beiträge geleistet, kann ein Anspruch auf Beitragserstattung nach AVG § 82 Abs 1 (= RVO § 1303 Abs 1) geltend gemacht werden, weil eine Berechtigung zur freiwilligen Versicherung nicht besteht.

 

Normenkette

AVG § 7 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 10 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16, Abs. 1a Fassung: 1972-10-16; RVO § 1233 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16, Abs. 1a Fassung: 1972-10-16; AVG § 82 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1303 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. Juni 1975 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 27. August 1974 zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch dessen außergerichtliche Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Beitragserstattung nach § 82 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) verlangen kann.

Der Kläger war von Januar 1966 bis November 1971 als Medizinalassistent bzw. als Assistenzarzt beschäftigt. Bis Dezember 1970 waren für ihn 59 Pflichtmonatsbeiträge entrichtet worden. Vom Januar 1971 an wurde er aufgrund seiner Pflichtmitgliedschaft beim Versorgungswerk der Ärztekammer H gemäß § 7 Abs. 2 AVG von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Angestellten befreit (Bescheid der Beklagten vom 12. Juli 1971). Seit Dezember 1971 ist der Kläger selbständiger Augenfacharzt und als solcher weiterhin Mitglied des Versorgungswerks der Ärztekammer.

Seinen im Mai 1971 gestellten Antrag auf Erstattung der von 1966 bis 1970 entrichteten Beiträge lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22. August 1972 ab, weil seit dem Wegfall der Versicherungspflicht noch nicht zwei Jahre verstrichen seien. Im Dezember 1972 erinnerte der Kläger an die Beitragserstattung. Ein entsprechender - erneuter - formeller Antrag folgte im Januar 1973. Diesen lehnte die Beklagte nunmehr mit der Begründung ab, daß der Kläger nach § 10 Abs. 1 AVG in der Fassung des Rentenreformgesetzes (RRG) zur freiwilligen Versicherung berechtigt sei und die Berechtigung einen Erstattungsanspruch ausschließe (Bescheid vom 15. Februar 1973).

Der hiergegen erhobenen Klage gab das Sozialgericht (SG) statt (Urteil vom 27. August 1974). Auf die - zugelassene - Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) die erstinstanzliche Entscheidung auf und wies die Klage ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Ein Anspruch auf Beitragserstattung nach § 82 Abs. 1 AVG bestehe nicht, weil der Kläger erst im Januar 1973 einen zulässigen Erstattungsantrag habe stellen können und zu diesem Zeitpunkt für ihn gemäß der am 19. Oktober 1972 in Kraft getretenen Neufassung des § 10 Abs. 1 AVG auch ohne vorangegangene Versicherung mit Beiträgen für 60 Kalendermonate das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung bestanden habe. Entgegen der Ansicht des SG falle der Kläger nicht unter § 10 Abs. 1 a AVG, weil die von der Beklagten mit Wirkung ab 1. Januar 1971 ausgesprochene Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 7 Abs. 2 AVG sich nicht auf die vom Kläger seit Dezember 1971 ausgeübte selbständige Tätigkeit als freipraktizierender Arzt erstrecke. Da der Befreiungsbescheid der Beklagten vom 12. Juli 1971 nur die an sich versicherungspflichtige Beschäftigung erfaßt habe, sei bei deren Wegfall im November 1971 auch kein Widerruf der Befreiung nach § 7 Abs. 5 AVG erforderlich gewesen. Die Rechtslage sei auch im Hinblick auf die - freiwillige - Fortsetzung der Mitgliedschaft des Klägers beim Versorgungswerk der Ärztekammer Hamburg nicht anders zu beurteilen. Diese Mitgliedschaft sei hier nicht rechtserheblich, weil der Kläger aus dem gemäß § 2 AVG versicherungspflichtigen Personenkreis ausgeschieden sei (Urteil vom 20. Juni 1975).

Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt Verletzungen des materiellen Rechts durch das Berufungsgericht.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Osnabrück vom 27. August 1974 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Beitragserstattung nach Maßgabe des § 82 Abs. 1 Satz 1 AVG, weil für ihn die Versicherungspflicht in allen Zweigen der gesetzlichen Rentenversicherung entfallen ist, ohne daß das Recht zur freiwilligen Versicherung besteht.

Da der Anspruch gemäß § 82 Abs. 1 Satz 3 AVG nur geltend gemacht werden kann, wenn seit dem Wegfallen der Versicherungspflicht im Januar 1971 zwei Jahre verstrichen sind, bei Ablauf der Zweijahresfrist aber bereits § 10 AVG i. d. F. des RRG gegolten hat (Art. 1 § 2 Nr. 4 i. V. m. Art. 6 § 8 Abs. 2 des Gesetzes), ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, daß für die Versicherungsberechtigung des Klägers § 10 AVG in dieser Fassung maßgeblich ist (ebenso Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 16. Dezember 1975 - 11 RA 200/74 mit weiteren Nachweisen). Hiernach steht dem Kläger kein Recht auf freiwillige Versicherung zu, wenn er zu den in § 10 Abs. 1 a AVG aufgeführten Personen gehört, deren Versicherungsberechtigung eine Beitragsentrichtung für 60 Kalendermonate voraussetzt. Denn nach den für das Revisionsgericht gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des LSG sind hier insgesamt nur für 59 Monate Pflichtbeiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet worden. Von der das Recht zur freiwilligen Versicherung einschränkenden Regelung des § 10 Abs. 1 a AVG werden u. a. Personen erfaßt, die - wie der Kläger - nach § 7 Abs. 2 AVG von der Versicherungspflicht befreit sind. Insoweit kann der Auffassung des Berufungsgerichts, § 10 Abs. 1 a AVG betreffe die nach § 7 Abs. 2 AVG Befreiten nur in Zeiten an sich gegebener Versicherungspflicht, nicht zugestimmt werden.

Das BSG hat bereits mit Urteil vom 16. Dezember 1975 - 11 RA 26/75 - entschieden, daß § 10 Abs. 1 a AVG für die gemäß § 7 Abs. 2 AVG von der Versicherungspflicht befreiten Personen auch während der Zeit gilt, in der sie - wie der Kläger seit Dezember 1971 - keine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Es hat dies mit dem - nicht nach "latenter" und voller Wirksamkeit der Befreiung differenzierenden - Wortlaut, der Entstehungsgeschichte sowie dem Sinn und Zweck der Ausnahmevorschrift des § 10 Abs. 1 a AVG begründet. Danach ist die durch § 10 Abs. 1 a AVG erfolgte Einschränkung der Versicherungsberechtigung darauf zurückzuführen, daß der Gesetzgeber die dort genannten Personen bereits außerhalb der Rentenversicherung für sozial gesichert ansah und es deshalb nicht für gerechtfertigt hielt, ihnen in gleicher Weise wie anderen, nicht so gesicherten Personen das Versicherungsrecht zu eröffnen. Nach der genannten Entscheidung besteht daher kein einleuchtender Grund, bei den nach § 7 Abs. 2 AVG Befreiten zwischen Zeiten an sich gegebener Versicherungspflicht und anderen Zeiten zu unterscheiden. Das BSG hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß die nach § 7 Abs. 2 AVG von der Versicherungspflicht befreiten Personen auch in Zeiten, in denen sie keine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben, nicht nur - wie dies im vorliegenden Fall der Kläger auch getan hat - die Mitgliedschaft in der Versicherungs- bzw. Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe aufrechterhalten, sondern auch ihren dortigen Versicherungs- bzw. Versorgungsschutz ausbauen können. Dies würde aber dazu führen, daß sie in der Lage wären, für gewisse Zeiten eine doppelte Versicherung bzw. Versorgung, nämlich einmal in der entsprechenden Einrichtung ihrer Berufsgruppe und zum zweiten in der Rentenversicherung - und zwar hier ohne Vorversicherungszeit von 60 Monaten - zu erreichen. Zu Recht wird im Urteil des BSG vom 16. Dezember 1975 aaO die Auffassung vertreten, daß eine derartige Doppelversicherung zugunsten eines bestimmten Personenkreises den Absichten des Gesetzgebers widersprechen würde.

Da somit auch im vorliegenden Fall die Befreiung nach § 7 Abs. 2 AVG fortbesteht, ist der Kläger - unter Berücksichtigung der nur für 59 Kalendermonate entrichteten Beiträge - gemäß § 10 Abs. 1 a AVG zur freiwilligen Versicherung nicht berechtigt. Das dem geltend gemachten Anspruch auf Beitragserstattung im Sinne des § 82 Abs. 1 AVG stattgebende Urteil des SG ist deshalb entsprechend dem Revisionsbegehren des Klägers wieder herzustellen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648008

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