Leitsatz (amtlich)

Die Besetzung eines Senats des Landessozialgerichts mit 2 an das Landessozialgericht abgeordneten Sozialgerichtsräten als Hilfsrichter ist ohne Rücksicht auf die Dauer der Abordnung vorschriftswidrig und stellt einen wesentlichen Mangel im Verfahren des Landessozialgerichts dar (Anschluß BSG 1959-02-04 10 RV 663/58 = BSGE 9, 137). Dieser Mangel ist bei einer durch Zulassung statthaften Revision von Amts wegen zu beachten.

 

Normenkette

SGG § 210 Fassung: 1958-06-25, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 551 Abs. 1 Nr. 1

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 15. Juni 1956 wird mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Während der Kämpfe in B Ende April 1945 hielt sich die Klägerin im Luftschutzkeller ihres Hauses auf. Sie lief dort mit dem Kopf gegen ein Bett, weil infolge der Kampfhandlungen die elektrische Beleuchtung seit längerem ausgefallen war. Dabei zerbrach ihre Brille und Glassplitter drangen in ihr rechtes Auge. Das Sehvermögen auf diesem Auge ist dadurch wesentlich vermindert.

Die Klägerin beantragte deshalb am 14. Februar 1951 Versorgung. Das Versorgungsamt (VersorgA.) lehnte den Antrag durch Bescheid vom 1. Juni 1953 ab, weil die Gesundheitsschädigung nicht auf unmittelbare Kriegseinwirkung zurückzuführen sei. Das Landesversorgungsamt (LVersorgA.) wies den Widerspruch durch Bescheid vom 12. März 1954 aus den gleichen Gründen zurück.

Mit der Klage beantragte die Klägerin, diese Bescheide aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die stark herabgesetzte Sehkraft ihres rechten Auges als Versorgungsleiden anzuerkennen. Einen Rentenanspruch erhob sie nicht, weil sie ihre Erwerbsfähigkeit nicht als in dem dafür erforderlichen Ausmaß herabgesetzt ansah. Das Sozialgericht (SG.) Berlin erkannte mit Urteil vom 31. Mai 1955 nach dem Klageantrag. Das Landessozialgericht (LSG.) Berlin wies die Berufung des Beklagten durch Urteil vom 15. Juni 1956 zurück. Bei der Verhandlung und Entscheidung wirkten mit: Landessozialgerichtsrat K als Vorsitzender, die Sozialgerichtsräte H und D als weitere Berufsrichter sowie zwei Landessozialrichter als ehrenamtliche Beisitzer. Laut Auskunft des Senators für Arbeit und Sozialwesen in B wurden die als Beisitzer tätigen Sozialgerichtsräte am 1. Juli 1955 bzw. 16.März 1956 zur Erprobung an das LSG. abgeordnet und am 1. Oktober 1956 bzw. am 1. April 1957 zu Landessozialgerichtsräten ernannt.

Das LSG. führte in den Gründen seines Urteils aus, der Tatbestand des § 5 Abs.1 Buchst. b des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei gegeben. Während der letzten Kampftage in Berlin sei Fliegerdaueralarm gegeben und die Zivilbevölkerung aufgefordert worden, sich ständig in den Schutzräumen aufzuhalten. Der noch in deutscher Hand befindliche Stadtteil C habe damals unter dem zusammengefaßten Feuer russischer Artillerie gelegen und die Umgebung des Hauses der Klägerin habe darunter besonders zu leiden gehabt, weil dort ein deutsches Eisenbahngeschütz gestanden habe. Ob im Augenblick des Unfalls noch mit Bombenwürfen zu rechnen gewesen sei, könne dahingestellt bleiben, denn der stets drohende Artilleriebeschuß sei einem unmittelbar bevorstehenden Luftangriff gleichzustellen. Auf den Bereich des Luftschutzraumes hätten die Kampfhandlungen unmittelbar durch den Ausfall der elektrischen Beleuchtung eingewirkt, so daß die Klägerin einer unmittelbaren Kriegseinwirkung ausgesetzt gewesen sei.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 1 Abs.2 Buchst. a und 5 Abs.1 Buchst. b BVG. Sie führt aus, nach der "Chronik der Luftangriffe auf B während des Krieges 1939 bis 1945" sei bereits am 16. April 1945 trotz der üblichen Warnzeichen bei der Bevölkerung der Eindruck entstanden, daß ununterbrochen feindliche Flugzeuge über der Stadt kreisten. Die Bevölkerung habe sich deshalb dauernd in den Schutzräumen aufgehalten. Am 21. April 1945 gegen 3 Uhr morgens sei die letzte Entwarnung erfolgt; danach seien keine Warnzeichen mehr gegeben worden. Ob - wie das LSG. angenommen habe - ein Daueraufenthalt in den Schutzräumen behördlich besonders angeordnet worden sei, lasse sich nicht mehr feststellen. Eine Schädigung durch Luftangriffe oder Fliegeralarm setze enge örtliche und zeitliche Beziehungen zwischen dem Angriff oder Alarm und dem schädigenden Ereignis voraus. Daran fehle es bei durch bloßen Aufenthalt im Schutzraum hervorgerufenen Gesundheitsstörungen; denn dieser über die allgemeine Gefahr nicht hinausgehenden Belastung seien große Teile der Bevölkerung für längere Zeit ausgesetzt gewesen. Der Unfall der Klägerin habe sich auch nur gelegentlich des Aufenthalts im Luftschutzkeller ereignet; er sei auf mangelnde Beleuchtung zurückzuführen und deshalb nicht typisch für den Aufenthalt im Schutzraum. Der Versorgungsanspruch der Klägerin sei daher nicht begründet. Die Beklagte beantragt, unter Abänderung der Urteile des LSG. Berlin vom 15.Juni 1956 und des SG. Berlin vom 31. Mai 1955 die Klage abzuweisen. Die Klägerin bittet, die Revision zurückzuweisen.

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 162 Abs.1 Nr.1, 164 und 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist daher zulässig.

Die Revision muß zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht führen, denn das Urteil des LSG. leidet an einem wesentlichen, in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel.

Das LSG. hat den vorliegenden Rechtsstreit in der Besetzung mit einem Landessozialgerichtsrat als Vorsitzendem und zwei Sozialgerichtsräten als weiteren Berufsrichtern sowie zwei Landessozialrichtern entschieden. Es handelt sich um einen Zeitsenat. Wie der 10. Senat des Bundessozialgerichts im Urteil vom 4. Februar 1959 (BSG. 9 S. 137) entschieden hat, darf in Zeitsenaten den Vorsitz ständig ein Landessozialgerichtsrat führen. Es dürfen auch Hilfsrichter (Sozialgerichtsräte) zur Vertretung, zu ihrer Fortbildung und zur Bewältigung eines vorübergehenden Geschäftsanfalls darin mitwirken, indessen darf ihre Verwendung stets nur für vorübergehende Zeit erfolgen. Die gleichzeitige Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern ist in jedem Fall vorschriftswidrig. Auch nach Auffassung des erkennenden Senats sind Hilfsrichter nicht in gleichem Maße unabhängig, wie die planmäßigen Richter des Landessozialgerichts, weil sie als zum Landessozialgericht abgeordnete Richter jederzeit vom Widerruf ihrer Abordnung bedroht sind, mag diese auch für längere Zeit ausgesprochen sein. Es ist daher nicht auszuschließen, daß solche Hilfsrichter den Widerruf ihrer Abordnung als für ihre richterliche Laufbahn schädlich zu vermeiden trachten, insbesondere wenn sie im Hinblick auf eine beabsichtigte Beförderung abgeordnet worden sind. Da aber die Abordnung und ihr Widerruf von der (Arbeits-) Verwaltung ausgesprochen werden, besteht die Gefahr, daß die Hilfsrichter sich bei Ausübung des Richteramtes nicht ausschließlich von ihrer Rechtsüberzeugung leiten lassen, sondern sich den Ansichten der Verwaltung geneigt zeigen. Daß die Rechtsuchenden einem Gericht mit Mißtrauen begegnen, dessen Mitglieder nicht die im Rechtsstaat zu fordernde volle richterliche Unabhängigkeit besitzen (vgl. Art. 97 GG, § 1 SGG und § 1 GVG), bedarf keiner weiteren Begründung. Deshalb verbietet der Rechtsstaatsgedanke, zu dessen besonderen Ausprägungen die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit und die strengen Vorschriften der Gerichtsverfassung über die Besetzung der Spruchkörper gehören (vgl. BVerfG. Bd. 4 S. 412 (416)), jedenfalls die gleichzeitige Mitwirkung zweier Hilfsrichter im Senat eines LSG. (vgl. auch den Beschluß des BSG. vom 15.9.1959 - 8 RV 301/59 -). Ob diese Hilfsrichter die Stimmenmehrheit im Spruchkörper haben oder nicht, kann dabei nicht entscheidend sein. Wenn überhaupt in einem nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zusammengesetzten Richterkollegium Personen mitwirken dürfen, deren richterliche Unabhängigkeit in Zweifel gezogen werden kann, muß jedenfalls ihr Einfluß auf die Entscheidung so gering als möglich gehalten werden. Selbst wenn also ein besonderer Geschäftsanfall oder die Fortbildung des Richternachwuchses die Verwendung von Hilfsrichtern in Kollegialgerichten erfordert, darf diese nur in engsten Grenzen erfolgen (vgl. BVerfG. Bd. 4 S. 331 (345) sowie Kern JZ. 56 S. 166, Baumgärtel Sgb. 59 S. 205). Diese Grenzen werden überschritten, wenn in einem Spruchkörper gleichzeitig mehr als ein Hilfsrichter mitwirkt (vgl. hierzu § 19 des Reg.-Entwurfs einer Verwaltungsgerichtsordnung (Bundestag, 3. Wahlperiode 1957, Drucks. Nr. 55) und § 25 des Reg.-Entwurfs eines Richtergesetzes (Bundestag, 3. Wahlperiode 1957 Drucks. Nr. 516)). Der Bundesgerichtshof hat zwar in mehreren Entscheidungen, teilweise ohne nähere Begründung, die Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern in einem Spruchkörper zugelassen; er hat aber, worauf bereits der 10. Senat a.a.O. S. 144 hingewiesen hat, nicht zu der besonderen Frage Stellung genommen, ob die einschränkenden Regeln des Gerichtsverfassungsrechts die gleichzeitige Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern in einem Spruchkörper zulassen. Mit dem 10. Senat und der in Rechtsprechung und Schrifttum immer mehr sich durchsetzenden Auffassung ist daher auch der erkennende Senat der Ansicht, daß das Verfahren eines mit zwei Hilfsrichtern besetzten Spruchkörpers in jedem Fall und ohne Rücksicht auf die Zeit der Abordnung der einzelnen Hilfsrichter gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstößt und deshalb mit einem wesentlichen Mangel behaftet ist (vgl. OLG. Karlsruhe, NJW. 57 S. 1367, OLG. Hamm, JZ. 56 S. 540; Kern in JZ. 56 S. 167 ff., 410 und 541; Siegert DRiZ. 1958 S. 191, ähnlich mit anderen Gründen BGHZ. Bd. 20 S. 209 und 250, Bd. 22 S. 142). Ob die Verwendung nur eines Hilfsrichters gerechtfertigt gewesen wäre, ist für die Entscheidung im vorliegenden Fall ohne Bedeutung und kann deshalb dahingestellt bleiben.

Die vorschriftswidrige Besetzung des Berufungsgerichts hat die Revision zwar nicht gerügt; sie ist jedoch von Amts wegen zu beachten. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG. ist ein Verfahrensmangel von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn gegen einen prozeßrechtlichen Grundsatz verstoßen worden ist, der im öffentlichen Interesse zu beachten ist und dessen Befolgung dem Belieben der Beteiligten entzogen ist, und wenn der Verstoß bei Nichtbeachtung in der Revisionsinstanz fortwirken würde (vgl. BSG. Bd. 1 S. 153 (159), Bd. 2 S. 225 (226), S.245 (253)). Derartige Mängel nehmen dem Berufungsurteil die Fähigkeit, ordnungsmäßige Grundlage eines Revisionsverfahrens, insbesondere eines auf die Sache selbst eingehenden Revisionsurteils zu sein (vgl. BSG. Bd. 7 S. 3 (7), S. 230 (234)). Die gesetzmäßige Besetzung der Richterbank gehört zu den tragenden Grundsätzen des rechtsstaatlich geordneten Gerichtsverfahrens, die im öffentlichen Interesse aufgestellt sind und auf deren Befolgung die Beteiligten nicht verzichten können. Jeder Verstoß gegen diesen Grundsatz wiegt so schwer, daß er - selbst wenn die Entscheidung, bei der er vorgekommen ist, sachlich richtig und rechtskräftig ist - eine Nichtigkeitsklage rechtfertigt (§ 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 179 SGG). Die Nichtigkeitsklage ist zwar in den Fällen des § 579 Abs. 2 ZPO - Möglichkeit der Geltendmachung durch ein Rechtsmittel - ausgeschlossen; der Ausschluß findet aber nach herrschender Meinung nur statt, wenn die Partei im Rechtsmittelverfahren den Nichtigkeitsgrund bei Anwendung der von ihr zu verlangenden prozessualen Sorgfalt geltend machen konnte (vgl. Baumbach-Lauterbach, Komm. z. ZPO, 25. Aufl. § 579 Anm. 6; Stein-Jonas, Komm. z. ZPO, 18. Aufl., § 579 Anm. III; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., § 155 zu I 2).

Würde das Revisionsgericht den hier festgestellten Verfahrensmangel nicht von Amts wegen berücksichtigen und zur Sache entscheiden - wobei es an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden wäre (§ 163 SGG) -, so müßte es Feststellungen zur Grundlage seines Urteils machen, deren Mangelhaftigkeit gesetzlich unwiderleglich zu vermuten ist. Die Verletzung des Grundsatzes der Unabhängigkeit und Stetigkeit der Rechtspflege durch die Vorinstanz würde damit in der Revisionsinstanz fortwirken (vgl. BVerfG. Bd. 4 S. 412 (424)). Der vorliegende Verfahrensmangel der vorschriftswidrig besetzten Richterbank muß daher bei der Entscheidung über eine zulässige Revision von Amts wegen berücksichtigt werden (vgl. BSG. Bd. 7 S. 230 (234); Siegert DRiZ. 58 S. 193 und NJW. 57 S. 1624 zu VI; OVG. Münster, DÖV. 59 S. 636). Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen sowie zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Dieses wird den Rechtsstreit in gesetzmäßiger Besetzung neu zu entscheiden haben.

Dabei wird auch zu prüfen sein, ob nicht im vorliegenden Fall der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG - längere Zeit andauernder Ausfall der elektrischen Beleuchtung als nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge - vorliegt und deshalb die Frage dahingestellt bleiben kann, ob Fliegeralarm wegen unmittelbarer Kampfhandlungen (Feindalarm) dem Fliegeralarm wegen eines bevorstehenden Luftangriffs (Luftalarm) gleichzusetzen ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 22

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