Entscheidungsstichwort (Thema)

Verpflichtung der BA zur Förderung einer die Regelförderungszeit überschreitenden beruflichen Rehabilitationsmaßnahme

 

Beteiligte

… Klägerin und Revisionsbeklagte

Bundesanstalt für Arbeit,Nürnberg, Regensburger Straße 104, Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Bundesanstalt für Arbeit (BA) verpflichtet ist, eine die Regelförderungszeit überschreitende berufliche Rehabilitationsmaßnahme zu fördern, weil die Behinderte durch ihren Lebensweg ihre besondere Eignung und Neigung zu einem Beruf gezeigt hat, der nicht in dieser Zeit erreicht werden kann.

Nach ihrem Realschulabschluß absolvierte die Klägerin einige Praktika als Keramikerin. Da sie keine neigungsgerechte handwerkliche Lehrstelle bekam, erlernte sie den Beruf einer Krankenschwester und übte ihn auch einige Zeit aus. Im März 1982 mußte sie diesen Beruf aus Gesundheitsgründen aufgeben. In den nächsten drei Jahren arbeitete sie bei einem Porzellanrestaurator, im Historischen Museum der Pfalz in S.     und im Museum W.       . Sie erhielt dadurch die Möglichkeit, zur dreijährigen Ausbildung zur archäologischen Restauratorin am Römisch-Germanischen Zentralmuseum in M.    abweichend von den üblichen Aufnahmebedingungen zugelassen zu werden. Im März 1985 beantragte sie die Förderung dieser Ausbildung als Rehabilitationsmaßnahme. Das Arbeitsamt stellte ihr die Ablehnung dieses Antrags in Aussicht, weil sie die Aufnahmebedingungen für die angestrebte Ausbildung nicht erfülle. Entgegen dieser Annahme wurde die Klägerin wegen ihrer besonderen Eignung und Neigung und ihrer bisherigen Tätigkeit als Auszubildende aufgenommen und begann am 1. Oktober 1985 mit der Ausbildung. Mit Bescheid vom 19. November 1985 lehnte die Beklagte den Antrag mit der inzwischen widerlegten Begründung ab. Im Widerspruchsverfahren wurde sie am 6. Mai 1986 - also 7 Monate nach Ausbildungsbeginn - darauf hingewiesen, daß sie innerhalb von zwei Jahren zur Zahntechnikerin, Feinmechanikerin, Augenoptikerin oder Hörgeräteakustikerin umgeschult werden könne. Mit Bescheid vom 26. Juni 1986 - also etwa 9 Monate nach Ausbildungsbeginn - wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, die Klägerin erfülle zwar die Voraussetzungen für die Ausbildung, sie sei aber aus gesundheitlichen Gründen nicht geeignet, den Beruf auszuüben. "Im übrigen" könne die begonnene Ausbildung auch deshalb nicht gefördert werden, weil sie die Regelförderungszeit von zwei Jahren überschreite. Die Klägerin lehnte die angebotenen Alternativumschulungen ab, weil diese ihrer besonderen Neigung und Vorbildung nicht entsprächen. Sie führte mit Erfolg ihre Ausbildung zu Ende und arbeitet seitdem in dem erlernten Beruf als Restauratorin. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, weil die Beklagte grundsätzlich nur zweijährige Umschulungen fördern dürfe, und die einzige Ausnahme, daß eine Eingliederung nur durch eine längere Umschulung zu erreichen sei, nicht vorliege (Urteil vom 15. Dezember 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat der Klage zum Teil stattgegeben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin die berufsfördernden Leistungen für die zwei letzten Jahre der Ausbildung zur archäologischen Restauratorin zu gewähren. Der Klägerin sei nicht rechtzeitig eine Umschulung angeboten worden, die ebenfalls zur Eingliederung hätte führen können. Ihr sei nach mehrmonatiger Ausbildung nicht mehr zuzumuten gewesen, den Umschulungsberuf zu wechseln (Urteil vom 3. November 1989).

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, nach § 56 Abs 4 Satz 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) dürfe eine länger als zwei Jahre dauernde Umschulung nicht gefördert werden, weil die Klägerin durch kürzere Umschulung einen anderen Beruf hätte erlernen und in das Arbeitsleben wieder eingegliedert werden können.

Sie beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 3. November 1988 aufzuheben, soweit es der Berufung der Klägerin stattgegeben hat, und die Berufung in vollem Umfang zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG hat die einzelnen Voraussetzungen der von der Klägerin begehrten Förderung ihrer Umschulung zur archäologischen Restauratorin geprüft und in Übereinstimmung mit den Beteiligten zutreffend festgestellt, daß nur noch streitig ist, ob die Umschulungsdauer der Förderung entgegensteht. Zu Recht hat das LSG entschieden, daß die Vorschrift über die Regelförderungsdauer von zwei Jahren (§ 56 Abs 4 Satz 2 AFG) hier die Förderung nicht ausschließt, obwohl die Umschulung drei Jahre dauert.

Nach § 56 Abs 4 Satz 2 AFG (idF des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes [RehaAnglG] vom 17. August 1974 - BGBl I 1881 -) sollen Leistungen für die berufliche Fortbildung und Umschulung nur gewährt werden, wenn die Maßnahme bei ganztägigem Unterricht nicht länger als zwei Jahre dauert, es sei denn, daß eine Eingliederung nur durch eine längerdauernde Maßnahme zu erreichen ist. Diese Vorschrift, die mit § 11 RehaAnglG sowie mit den entsprechenden Rehabilitationsvorschriften der Rentenversicherung (§ 1237a Abs 3 Satz 2 RVO) und der Unfallversicherung (§ 567 Abs 3 Satz 2 RVO) übereinstimmt, ist nach der bisherigen Rechtsprechung so zu verstehen, daß trotz der Formulierung als Soll-Vorschrift ein striktes Verbot mit nur einer gesetzlichen Ausnahmeregelung ausgesprochen wird. Der Senat hat in seinem Urteil vom 28. März 1990 (BSGE 66, 275 = SozR 3-4100 § 56 Nr 1) die Zweifel an dieser engen Auslegung dargestellt, aber (entgegen Boecken, SGb 1991, 144) daran festgehalten. Allerdings hat der Senat entschieden, daß die Ausnahmeregelung weiter auszulegen ist, als die BA meint: Die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung sind nicht nur in den Fällen erfüllt, in denen wegen Eignungseinschränkungen des Behinderten die Verlängerung einer normalerweise zwei Jahre dauernden Ausbildung nötig ist, um das Ausbildungsziel zu erreichen. Unter Berücksichtigung der Bedeutung, den das Grundgesetz (GG) der Berufsfreiheit (Art 12 GG) zumißt, ist die Ausnahmeregelung vielmehr weiter zu verstehen. Die Voraussetzungen können auch dann erfüllt sein, wenn ein Behinderter einen die Eingliederung gewährleistenden Beruf wählt, für den er uneingeschränkt geeignet ist, für den es aber keinen auf zwei Jahre begrenzten Ausbildungsgang gibt.

Das heißt allerdings nicht, daß die Verwaltung einem der Eignung entsprechenden Berufswunsch, der nur in einer länger als zwei Jahre dauernden Ausbildung zu erreichen ist, immer entsprechen müßte. Auch ein Behinderter, der auf seine berufliche Rehabilitation einen durch Beiträge erworbenen Anspruch hat, erwirbt diesen Anspruch nur im gesetzlich geregelten Umfang und kann sich nicht zur Erweiterung dieses Anspruchs auf das Grundrecht des Art 12 GG berufen, denn dieses Grundrecht schützt die Berufsfreiheit grundsätzlich nur gegenüber staatlichen Eingriffen und begründet allein keine Leistungsansprüche. Dem Antrag auf Förderung einer mehr als zweijährigen Umschulung kann in aller Regel § 56 Abs 4 Satz 2 AFG entgegengehalten werden. Aus Art 12 GG folgt aber, daß der Zugang zu einem gewählten Beruf nicht durch das öffentliche Leistungsrecht erschwert oder wirtschaftlich unmöglich gemacht werden darf (BVerfGE 82, 209, 223; 228 f) und deshalb die gesetzlichen Vorschriften im öffentlichen Leistungsrecht im Zweifel zu Gunsten der Berufsfreiheit auszulegen sind. Demnach darf § 56 Abs 4 Satz 2 AFG nicht so verstanden werden, daß ausnahmslos alle Berufe von der Förderung ausscheiden, die auch bei erwachsenengerechter Ausbildung nicht in zwei Jahren erreicht werden können. Die Ausnahme von der Regelförderungszeit soll nicht nur die Verlängerung einer zweijährigen Ausbildung bei erschwerter Rehabilitation ermöglichen, sondern auch verhüten, daß die BA ohne Rücksicht auf besondere Eignung und Neigung nur einen abgeschlossenen Kreis von Berufen fördert, die in zwei Jahren erlernt werden können. Dafür spricht, daß nach § 56 Abs 1 Satz 2 AFG die BA auch bei der Auswahl der Förderungsmaßnahmen Eignung, Neigung und bisherige Tätigkeit angemessen zu berücksichtigen hat. Mit dem Begriff der Neigung wird die selbstbestimmte Berufswahl zum Tatbestandsmerkmal und damit zu einem Entscheidungskriterium, das die Verwaltung mit Rücksicht auf Art 12 GG besonders dann beachten muß, wenn sich die Neigung tatsächlich zu einer entschiedenen Berufswahl verdichtet hat.

Es ergibt sich daher unmittelbar aus dem Gesetz, daß es Fälle gibt, in denen die Verwaltung nicht befugt ist, durch Versagung von Förderungsmitteln auf die Berufswahl Einfluß zu nehmen.

Diese Befugnis ist vor allem dann eingeschränkt, wenn der Behinderte durch seine bisherige Tätigkeit eine besonders ausgeprägte Eignung und Neigung zu einem bestimmten Beruf gezeigt hat, für den es eine zweijährige Ausbildung nicht gibt. Dann ist es Aufgabe der Verwaltung zu prüfen, ob demgegenüber die Gründe des Gemeinwohls, insbesondere der Sparsamkeit bei der Verwendung öffentlicher Mittel, die § 56 Abs 4 Satz 2 AFG zugrunde liegen, es gebieten, den Behinderten auf eine zweijährige Umschulung zu einem anderen Beruf zu verweisen (vgl Voelzke, Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 1991, 256, 261). Im Rahmen dieser Prüfung ist vor allem zu verlangen, daß nur solche zweijährigen Umschulungsgänge vorgeschlagen werden, die der besonderen Eignung und Neigung des Behinderten entgegenkommen und die bisher erworbenen Kenntnisse nicht völlig nutzlos erscheinen lassen. Ferner ist zu prüfen, ob die spezielle Eignung und Neigung als Kehrseite sogar einen Eignungsmangel für wesentlich anders geartete Berufe darstellen. Insbesondere ist zu beachten, daß die Verweisung auf einen anderen Beruf gerade bei Behinderten mit spezieller Begabung zu einer erheblichen Motivationseinbuße führen kann, die den Erfolg der Umschulung in Frage stellt.

Die Verwaltung hat diese Prüfung unterlassen, weil sie der Auffassung war, daß der Klägerin unter keinem Gesichtspunkt eine mehr als zweijährige Umschulung bewilligt werden dürfe. Wozu eine solche Unterlassung im allgemeinen führt, braucht hier nicht entschieden zu werden, denn in Übereinstimmung mit dem LSG ist der Senat der Überzeugung, daß nur eine positive Entscheidung in Betracht kommt. Die nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG sind eine geeignete Grundlage für diese Bewertung.

Diese Bewertung ist allerdings nicht allein deshalb begründet, weil die Klägerin zur Zeit der letzten Tatsachenfeststellung schon die Prüfung als archäologische Restauratorin bestanden hatte und in diesem Beruf erfolgreich beschäftigt war. Entscheidend für die Bewertung von Eignung und Neigung sind vielmehr die Verhältnisse, die zu der Zeit vorlagen, als die Verwaltung mit dem Antrag der Klägerin befaßt war und die Klägerin mit der Umschulung noch nicht begonnen hatte (BSGE 49, 263, 265; 67, 228, 230). Aber schon damals sprach für diese Bewertung entscheidend nicht nur die bisherige Tätigkeit der Klägerin, sondern ihr ganzer Lebensweg.

Obwohl die Dauer der von der Klägerin gewählten Maßnahme einer dreijährigen Förderung nicht entgegensteht, hat das LSG ihr nur eine Förderung für zwei Jahre zuerkannt. Das ist im Revisionsverfahren hinzunehmen, weil die Klägerin gegen das Urteil keine Anschlußrevision eingelegt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.BUNDESSOZIALGERICHT

 

Fundstellen

Haufe-Index 517883

BSGE, 128

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