Beteiligte

…, Klägerin und Revisionsbeklagte

Bundesanstalt für Arbeit,Nürnberg, Regensburger Straße 104, Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I

Die Klägerin hat einen nach § 40a des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) iVm Art 3 des Beschäftigungsförderungsgesetzes (BeschäftFG) geförderten Grundausbildungslehrgang (Bürotechnik mit Erwerb des Hauptschulabschlusses) bis zum 18. Januar 1984 besucht. Nach Anhörung hob die Beklagte die Bewilligungsentscheidung für die anschließende Zeit vom 19. Januar bis 31. Mai 1983 gem § 48 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Zehntes Buch -(SGB X) auf und forderte die eingetretene Überzahlung in Höhe von 2.860,37 DM zurück (Bescheid vom 11. Dezember 1984 und Widerspruchsbescheid vom 14. April 1985). Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben der Klage insoweit stattgegeben, als die Entscheidungen aufgehoben worden sind, weil die Beklagte eine Ermessensentscheidung habe treffen müssen (Urteil des SG vom 29. März 1988 und Urteil des LSG vom 22. September 1989). Nach den Feststellungen des LSG hat die Klägerin die gebotene Mitteilung über den Abbruch der Maßnahme unterlassen und auch im übrigen gewußt, daß ihr weitere Leistungen danach nicht mehr zustanden. Es handele sich aber um einen atypischen Fall, der eine Ermessensentscheidung der Beklagten notwendig gemacht habe. Das ergebe sich aus dem Mitverschulden der Beklagten; denn sie habe erkannt, daß die Klägerin abbruchgefährdet gewesen sei.

Die Beklagte hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügt eine fehlerhafte Anwendung des § 48 SGB X; ein atypischer Fall habe nicht vorgelegen. Die Überzahlung wäre auch bei intensiver Überwachung nicht zu vermeiden gewesen, weil die Fehlzeitenmeldungen der Schule mit erheblicher Verspätung eingetroffen seien. An die Überwachungspflicht dürften keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Im übrigen verkehre das Urteil die bestehenden Anzeigepflichten in ihr Gegenteil und berücksichtige die Zwänge einer rationell abzuwickelnden Massenverwaltung nicht ausreichend.

Die Beklagte beantragt,die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen,hilfsweise,den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, die Beklagte hätte schon durch regelmäßige Telefongespräche mit der Schule oder der Klägerin selbst ihren Kontrollpflichten genügen können; dann hätte sie den Abbruch der Maßnahme rechtzeitig bemerkt. Anlaß zu solcher Kontrolle habe für die Beklagte bestanden, weil die Schule die Fehlzeitmeldungen nicht rechtzeitig abgesandt habe. Auf einen Verstoß gegen Mitwirkungspflichten könne es nicht mehr ankommen, wenn diese nicht ursächlich geworden seien, weil die Verwaltung sich die gebotene Information habe selbst beschaffen können.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision der Beklagten führt zur Änderung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage. Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid ist rechtmäßig.

Nach den auch von der Klägerin nicht mit begründeten Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG hat die Klägerin den Abbruch der Maßnahme weder angezeigt noch tatsächlich gemeint, daß ihr die nach § 40a AFG (idF vom 20. Dezember 1982 - BGBl I 1857) iVm Art 3 BeschäftFG (idF vom 3. Juni 1982 - BGBl I 641) bewilligte Bildungsbeihilfe für arbeitslose Jugendliche (BBH) auch noch nach dem Abbruch der Maßnahme zugestanden habe. Damit sind die Voraussetzungen für die rückwirkende Aufhebung der Bewilligungsentscheidung nach § 48 Abs 1 Nrn 2 und 4 SGB X gegeben; die Berechtigung zur Rückforderung der eingetretenen Überzahlung ergibt sich aus § 50 Abs 1 SGB X.

Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen waren die angefochtenen Bescheide zu bestätigen; denn der Sachverhalt ist nicht so zu bewerten, daß der Leistungsbescheid nach der Sollvorschrift des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X rückwirkend auf den Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse nur durch eine begründete Ermessensentscheidung hätte aufgehoben werden dürfen.

Ob ein atypischer Fall vorliegt, der eine solche Ermessensentscheidung gebietet, ist als Rechtsvoraussetzung im Rechtsstreit von den Gerichten zu entscheiden und hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Dieser muß Merkmale aufweisen, die im Hinblick auf die mit der Rückwirkung verbundenen Nachteile von den Normalfällen der Tatbestände des § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 1 bis 4 SGB X deutlich abweichen, so daß der Leistungsempfänger in besondere Bedrängnis gerät (vgl BSGE 66, 103 = SozR 4100 § 103 Nr 47; BSG SozR 1300 § 48 Nrn 44 und 53 jeweils mwN). Ein solcher atypischer Fall liegt jedoch nicht vor, wenn der Betroffene zunächst seiner Verpflichtung zur Mitteilung einer wesentlichen, für ihn nachteiligen Änderung der Verhältnisse nicht nachkommt, er hierdurch eine auch von ihm erkannte Leistungsüberzahlung verursacht, jedoch nach den Gesamtumständen des Falles die Verwaltung auch ohne Anzeige den geänderten Tatbestand hätte bemerken können. So darf § 48 SGB X nicht ausgelegt werden. Denn die Vorschrift beruht auf einer vom Gesetzgeber vorgenommenen Interessenabwägung, die in Verbindung mit § 60 Abs 1 Nr 2 des Sozialgesetzbuches - Erstes Buch - (SGB I) den Leistungsempfänger zu aktivem Handeln verpflichtet; die Verwaltung wird nicht als eine überwachende staatliche Einrichtung verstanden.

Wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, hat Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind, unverzüglich mitzuteilen; auf diese Verpflichtung des § 60 SGB I nimmt § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X Bezug. Zusätzlich weist die Beklagte im Interesse der Leistungsbezieher im Antrag formularmäßig ausdrücklich auf diese Verpflichtung hin, wobei beispielhaft ein vorzeitiges Ausscheiden aus der Maßnahme angeführt wird. Die Mitwirkungsverpflichtung des Leistungsberechtigten, deren Versäumnis Nachteile zur Folge hat, verdeutlicht, daß vom Bürger eigenverantwortliches Handeln gefordert wird. Dadurch wird grundsätzlich eine überwachende und nachforschende Verwaltung entbehrlich. Unterläßt die Verwaltung eine regelmäßige Kontrolle, kann ihr kein Fehlverhalten durch Unterlassen vorgeworfen werden. Die Bundesanstalt für Arbeit (BA) ist als Leistungsträger nicht gehalten, den Maßnahmeträger, hier die Schule, oder die Leistungsempfänger regelmäßig zu überwachen und hierdurch sicherzustellen, daß keine unberechtigten Leistungen gezahlt werden. Welche Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Verwaltungshandeln zu stellen sind, wenn der Verwaltung tatsächlich die Änderung in den Verhältnissen auch ohne die geforderte Anzeige des Berechtigten bekannt wird (vgl BSGE 66, 103, 109 ff), kann hier offenbleiben, weil vom LSG insoweit kein Fehlverhalten festgestellt worden ist. Die Beklagte hat erst wenige Tage vor Ablauf des Überzahlungszeitraums Kenntnis vom Abbruch der Maßnahme erhalten.

Eine andere Beurteilung folgt auch nicht aus der Tatsache, daß der Beklagten die Fehltage regelmäßig vom Maßnahmeträger gemeldet werden und diese Meldungen im vorliegenden Fall sehr verspätet eingegangen sind (vgl § 7 Abs 5 iVm § 2 Abs 1 und 1a der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit über die individuelle Förderung der beruflichen Ausbildung [AAusb] idF vom 15. März 1983 - ANBA 1983, 445). Diese Meldungen dienen in erster Linie dazu, den Betroffenen zu erfolgreicher Mitwirkung an der Maßnahme (§§ 64 bis 67 SGB I) anzuhalten und zugleich zu überprüfen, ob die beim Maßnahmebeginn angestellte Prognose der Eignung des Teilnehmers für die ausgewählte Maßnahme fortbesteht, ob also weiterhin ein erfolgreicher Abschluß zu erwarten ist. Ob die Beklagte hier ihre Prognose angesichts der bekannten Fehlzeiten aufrechterhalten durfte oder ob sie vielmehr die Klägerin zum Abbruch der Maßnahme hätte drängen müssen, bedarf keiner Entscheidung. Denn die Klägerin hat die Maßnahme von sich aus verlassen, und die Beklagte hat ihr für die Vergangenheit die Leistung belassen.

Ebenso kann offen bleiben, ob die subjektiven Vorstellungen des Begünstigten oder seine weiterbestehende Bedürftigkeit eine Fallgestaltung als atypisch prägen können (vgl BSG NZA 1987, 467 f und Urteil vom 20. Februar 1991 - 11 RAr 67/89 - nicht veröffentlicht). Denn jedenfalls kann sich auf die Atypik der Fallgestaltung derjenige, dessen vorsätzliches Handeln aufgedeckt wird, nicht allein zur Schadensbegrenzung berufen. Wenn der Begünstigte weiß, daß ihm die höhere Leistung (hier BBH) nicht mehr zusteht, und er eine andere, niedrigere Leistung (hier Alhi) nicht beantragt, um den fortdauernden unrechtmäßigen Leistungsbezug nicht zu gefährden, bewirkt die Rückzahlungsverpflichtung keine untypische Härte im Einzelfall. Von der Rückforderung ist nicht der Betrag ausgenommen, der (die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen einmal unterstellt) an Alhi zu zahlen gewesen wäre. Der Rechtsgedanke des § 44 Abs 6 AFG, der einen Spezialfall der Zweckverfehlung öffentlich-rechtlicher Leistungen (vgl auch § 151 AFG) regelt, läßt sich nicht auf die verschuldensabhängigen Überzahlungstatbestände des § 48 SGB X übertragen. Es handelt sich um unterschiedliche Lebenssachverhalte und um rechtlich unterschiedlich zu bewertende Tatbestände, wenn in einem Fall das schuldhafte Verhalten dem Leistungsempfang nachfolgt (§ 44 Abs 6 AFG) und im anderen Fall das schuldhafte Verhalten den Leistungsbezug bewirkt (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X). Wird die Überzahlung durch eine grobe Pflichtwidrigkeit des Begünstigten verursacht, begründet die volle Erstattungspflicht selbst bei schlechter Einkommens- und Vermögenslage keinen atypischen Fall (Anschluß an BSG AuB 1989, 161, 162 und NZA 1987, 467, 468).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.BUNDESSOZIALGERICHT

 

Fundstellen

Dokument-Index HI517880

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