Leitsatz (redaktionell)

Das Verfahren leidet an einem wesentlichen Mangel, wenn das Urteil im wesentlichen auf gutachtliche Äußerung eines in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachverständigen gestützt wird, dessen Aussage nicht in die Niederschrift über die mündliche Verhandlung aufgenommen worden ist, weil dann das Rechtsmittelgericht nicht nachprüfen kann, ob die Aussage des Sachverständigen im Tatbestand des angefochtenen Urteils richtig wiedergegeben und in den Entscheidungsgründen zutreffend gewürdigt worden ist.

 

Normenkette

SGG § 122 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 160 Abs. 3 Nr. 4; SGG § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 4. November 1955 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin beantragte am 3. Januar 1951 Versorgung wegen Erblindung des rechten Auges, Herz- und Gallenleidens sowie eines Nervenleidens mit der Begründung, daß sie sich diese Schädigungen durch schwere Mißhandlungen während ihrer Inhaftierung im Stadtgefängnis Olmütz zugezogen habe. Sie sei bis 31. März 1945 bei Dienststellen des ehemaligen Oberkommandos der Wehrmacht in Brünn und Olmütz als Wehrmachtsangestellte tätig gewesen, dann durch Partisanen gefangen genommen und den Russen übergeben worden. Eine versorgungsärztliche Untersuchung am 20. Februar 1952 (Dr. S... ergab, daß die Erblindung des rechten Auges durch Schläge in der Gefangenschaft im Jahre 1945 an Wahrscheinlichkeit dadurch verliere, daß die Linsenluxation im rechten Auge erst nach dem September 1949 entstanden sein könne? weil bis zu diesem Zeitpunkt die Linse an Ort und Stelle gesessen habe. Nach einer Bescheinigung des Dr. O... sei die praktische Erblindung des rechten Auges 1947 im Anschluß an eine Herpes der Hornhaut und eine sekundäre Iritis entstanden. Auf Grund einer innerfachärztlichen Untersuchung am 25. April 1952 vertrat Dr. Sch... die Auffassung, daß ein Herzmuskelschaden und eine Blutdruckerhöhung als Versorgungsleiden im Sinne der Verschlimmerung anzusehen seien, dagegen bestehe kein ursächlicher Zusammenhang der Aderverkalkung, der Übererregbarkeit des Nervensystems, des chronisch rückfälligen Gallenblasenleidens und der Arthrosis der Fingergelenke mit den Strapazen und Mißhandlungen in Gefangenschaft. Durch Bescheid vom 28. Juli 1952 erkannte das. Versorgungsamt II Berlin Herzmuskelschaden und Blutdruckerhöhung im Sinne der Verschlimmerung als Schädigungsfolgen an und gewährte vom 1. Oktober 1950 ab eine Rente auf Grund einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H. Die Anerkennung weiterer Leiden wurde abgelehnt, da die Herpeserkrankung des rechten Auges erst 1947 eingetreten sei und die Aderverkalkung, Übererregbarkeit des Nervensystems, chronischen Gallenblasenleiden und Arthrosis der Fingergelenke konstitutionell bedingt seien. Der Einspruch gegen diesen Bescheid wurde nach Einholung einer innerfachärztlichen Stellungnahme vom 16. Februar 1953 und einer augenfachärztlichen Äußerung vom 16. März 1953 durch Entscheidung des Landesversorgungsamts Berlin vom 9. Mai 1953 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG.) Berlin hat ohne weitere Beweiserhebung durch Urteil vom 2. November 1954 die Erblindung des rechten Auges als Schädigungsfolge anerkannt und im übrigen die Klage abgewiesen: Der Augenarzt Dr. O... (Bescheinigung vom 25.10.1954) habe angegeben, daß das rechte Auge der Klägerin bereits seit 1947 im Anschluß an eine Herpes der Hornhaut erblindet sei. Die Ursache der Erblindung sei eine traumatische Linsenluxation in dem Glaskörper, die wahrscheinlich mit den während der Internierung erlittenen Mißhandlungen zusammenhänge.

Das Landessozialgericht (LSG.) Berlin hat am 4. November 1955 auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG. Berlin vom 2. November 1954 insoweit abgeändert, als durch dieses die Erblindung des rechten Auges als Schädigungsfolge anerkannt worden ist; es hat die Klage auch insoweit abgewiesen. In der mündlichen Verhandlung hat das LSG. den Augenfacharzt Dr. H... als Sachverständigen gehört, ohne jedoch seine Aussage in die Niederschrift aufzunehmen. Nach dem Tatbestand des Urteils soll sich der Sachverständige wie folgt geäußert haben: "Ein Herpes corneae könne mit einer Iridocyclitis zusammenhängen. Es handle sich bei dem Herpes um eine Virus-Krankheit, die Irodocyclitis sei eine Begleitentzündung. Bei der Linsenluxation handle es sich um eine Verlagerung. Es gebe hierfür verschiedene Ursachen; sie könne angeboren, aber auch traumatisch oder spontan entstanden sein. Da Dr. O... die Linsenluxation 1949 nicht festgestellt habe, sei es nicht wahrscheinlich, daß sie vor 1949 vorhanden gewesen sei. Die Blindheit sei die Folge der dichten Hornhautnarben. Die Narben könnten Folge einer Wunde oder einer Entzündung sein. Ein Herpes der Hornhaut trete meist einseitig auf." In den Entscheidungsgründen hat das LSG. ausgeführt, es sei der Ansicht des Dr. ... gefolgt, nach der es wahrscheinlich sei, daß die Erblindung des rechten Auges nicht eine Folge der Luxation der Linse sei, sondern auf der Vernarbung der Hornhaut nach einer Herpes beruhe. Eine solche Herpes könne entweder durch Entzündung oder durch Trauma entstehen. Das von der Klägerin angegebene Trauma sei aber, wenn man es überhaupt als erwiesen ansehen wolle, unwesentlich gewesen, da alle Umstände dafür sprächen, daß die Erblindung erst im Jahre 1947 eingetreten sei. Die offenbar erst 1947 aufgetretene Herpes sei nicht auf ein Trauma aus dem Jahre 1945, sondern auf eine Entzündung (Iridocyclitis) zurückzuführen. Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen.

Die Klägerin hat gegen das am 28. Dezember 1955 zugestellte Urteil des LSG. Berlin mit Schriftsatz vom 23. Januar 1956, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG.) am 25. Januar 1956, Revision eingelegt und beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils entsprechend den Anträgen erster Instanz zu erkennen; hilfsweise, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

In der beim BSG. am 23. Februar 1956 eingegangenen Revisionsbegründung rügt die Klägerin eine unzureichende Aufklärung des Sachverhalts. Das Berufungsgericht sei verpflichtet gewesen, sie nochmals verantwortlich zu vernehmen, wenn es Bedenken gegen ihre Glaubwürdigkeit gehabt habe. Ferner sei die Einholung eines weiteren Gutachtens durch das LSG. im Hinblick darauf erforderlich gewesen, daß sich der gerichtliche Sachverständige Dr. H... zu der Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen den Augenleiden und den Mißhandlungen während der Inhaftierung weder im positiven noch im negativen Sinne geäußert habe. Damit sei die Stellungnahme des Dr. H... nicht geeignet, die Auffassung des Dr. O... zu widerlegen, der einen ursächlichen Zusammenhang der Erblindung des rechten Auges mit den Mißhandlungen angenommen habe.

Der Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zu verwerfen.

Nach seiner Ansicht liegt weder ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) noch eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs in Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG vor.

Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist - da vom LSG. nicht zugelassen - nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und auch vorliegt (BSG. 1 S. 150).

Die Klägerin bringt vor, daß das Berufungsgericht den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt habe. Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Hierbei muß es das tatsächliche Vorbringen der Beteiligten zwar berücksichtigen; es ist jedoch an das Vorbringen und die Beweisanträge nicht gebunden (§ 103 Satz 2 SGG). Zur Feststellung, ob die für das Bestehen oder Nichtbestehen des geltend gemachten Anspruchs erheblichen Tatsachen vorliegen, hat das Gericht alle geeigneten und notwendigen Ermittlungen anzustellen. Über den Umfang der zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Ermittlungen entscheidet der Tatrichter im Rahmen der ihm obliegenden Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts. Er verletzt seine Aufklärungspflicht, wenn er eine tatsächliche Frage über den gesundheitlichen Zustand eines Versorgungsberechtigten oder über die Ursache einer Gesundheitsstörung entscheidet, die er auch vom Standpunkt eines lebenserfahrenen Richters nicht aus eigener Sachkunde entscheiden kann, oder wenn er seine Feststellungen auf ein Gutachten stützt, das in sich widerspruchsvoll oder wegen anderer Mängel zur Erforschung der rechtserheblichen Tatsachen nicht geeignet oder nicht ausreichend ist (vgl. BSG. 1 S. 91).

Im vorliegenden Falle macht die Klägerin dem Sinne nach geltend, daß das Berufungsgericht seine einen Versorgungsanspruch wegen Erblindung des rechten Auges ablehnende Entscheidung zu Unrecht insbesondere auf eine gutachtliche Äußerung des in der mündlichen Verhandlung am 4. November 1955 als Sachverständigen gehörten Augenfacharztes Dr. H... gestützt habe. Der Sachverständige habe zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs der bei der Klägerin vorliegenden Erblindung des rechten Auges mit Mißhandlungen während ihrer Inhaftierung im Stadtgefängnis Olmütz weder im positiven noch im negativen Sinne Stellung genommen. Damit will die Klägerin offenbar vorbringen, daß die Äußerung des Dr. H... zur Feststellung der für den Versorgungsanspruch rechtserheblichen Tatsachen - insbesondere als Stütze für die Ablehnung des Anspruchs - nicht ausreiche. Die Nachprüfung durch den Senat, ob der hiermit gerügte Verfahrensmangel auch tatsächlich vorliegt, hängt davon ab, wie sich Dr. H... in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht geäußert hat. Das LSG. hat die Aussage des Sachverständigen Dr. H... nicht in die Niederschrift über die mündliche Verhandlung aufgenommen; diese enthält nur den kurzen Vermerk, daß der Sachverständige sein Gutachten erstattet habe. Dem Senat ist es daher nicht möglich, das Vorbringen der Klägerin nachzuprüfen, daß die Aussage des Dr. H... im Tatbestand des angefochtenen Urteils nicht richtig wiedergegeben und in den Entscheidungsgründen nicht zutreffend gewürdigt worden sei. Damit leidet das Verfahren vor dem Berufungsgericht an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, den die Klägerin mit ihrem Angriff gegen die Feststellungen des LSG. hinsichtlich der Aussage des Dr. H... dem Sinne nach auch gerügt hat, da die nur im Tatbestand des angefochtenen Urteils wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständiger. Dr. H... aus den vorstehend angegebenen Gründen als Stütze für die Ablehnung des geltend gemachten Versorgungsanspruchs nicht ausreichen. Die Revision ist daher wegen Vorliegens eines wesentlichen Verfahrensmangels statthaft.

Das Urteil beruht auch auf dieser Gesetzesverletzung (vgl. BSG. 2 S. 197 = SozR. SGG § 162 Bl. Da 7 Nr. 29). Im Hinblick darauf, daß in dieser Sache noch weitere Ermittlungen erforderlich sind - insbesondere die Herbeiführung einer nicht zu beanstandenden und zu allen für den geltend gemachten Anspruch wesentlichen Punkten Stellung nehmenden Aussage des Sachverständigen Dr. H... oder eines anderen Sachverständigen -, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Berlin zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2314095

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