Leitsatz (amtlich)

Ein Gericht darf eine schriftliche Äußerung, auch wenn sie inhaltlich den Anforderungen eines "Gutachtens" entspricht, nur dann als Sachverständigenbeweis würdigen, wenn es den Verfasser der Äußerung eines Gutachtens beauftragt hat.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ist gemäß SGG § 109 beantragt worden, einen bestimmten Arzt (persönlich) gutachtlich zu hören, wird dieses Gutachten nicht durch ein von anderen Ärzten abgegebenes Gutachten ersetzt.

2. Der Deutsche Handels- und Industrieangestellten-Verband (DHV) bezeichnet sich in der Satzung ausdrücklich als Gewerkschaft; nach den Aufgaben, die er wahrnehmen, und den Zielen, denen er dienen will (§ 2 der Satzung), tut er das zu Recht.

3. Wenn im Auftragsschreiben des Gerichts die Berufsstellung (Chefarzt des städtischen Krankenhauses M.) hinzugefügt ist, so heißt das nicht, das Gericht hat den Chefarzt des Krankenhauses ohne Rücksicht auf den jeweiligen Stelleninhaber - und damit bei seiner Verhinderung gegebenenfalls auch seinen Vertreter - beauftragen wollen.

Der zum gerichtlichen Sachverständigen bestellte Chefarzt darf sich weder durch seinen Oberarzt vertreten lassen noch darf er an ihn den Auftrag weitergeben.

Dem Gutachten des Oberarztes kann das Gericht auch nicht nachträglich die Eigenschaft eines Sachverständigenbeweises verleihen. Ein Gericht darf den vorgeschriebenen Verfahrensweg, der mit der Ernennung des Sachverständigen beginnt, nicht umkehren; auch wenn schriftliche Äußerungen den Anforderungen eines Gutachtens entsprechen, darf es sie nur dann als Sachverständigenbeweis behandeln, wenn es ihren Verfasser vor der Äußerung zum Sachverständigen ernannt hat.

 

Normenkette

SGG § 109 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. März 1964 wird aufgehoben; der Rechtsstreit wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger will eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Er hatte weder bei der Beklagten noch beim Sozialgericht (SG) Erfolg. Im Berufungsverfahren gab das Landessozialgericht (LSG) auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG "Prof. Dr. Jakob B, Chefarzt des Städt. Krankenhauses M-Sch" den Auftrag, ein Gutachten zu erstatten. Das Gutachten vom 20. Juli 1962, das darauf einging, trug rechts die Unterschrift einer Assistenzärztin; auf der linken Seite hatte anstelle von Prof. Dr. B ("i. V.") Oberarzt Dr. O unterschrieben. Der Kläger wollte das Gutachten nur gelten lassen, wenn Prof. Dr. B es wenigstens nachträglich unterzeichne. Dieser lehnte das ab; er teilte dem LSG mit, daß er das Gutachten nach einer Unterredung mit dem Kläger "aus grundsätzlichen Erwägungen zurückziehe"; dabei fügte er hinzu, das Gutachten sei von seinem Stellvertreter in seinem Auftrag unterzeichnet worden; Oberarzt Dr. O habe den Kläger eingehend befragt und untersucht; die "Unrichtigkeiten", die der Kläger an führe, entbehrten der sachlichen Grundlage. In der mündlichen Verhandlung des LSG beantragte der Kläger, den von ihm geleisteten Kostenvorschuß zurückzuerstatten; das LSG beschloß dementsprechend; es übernahm die Kosten des Gutachtens vom 20. Juli 1962 auf die Staatskasse, weil das Gutachten "als von Amts wegen erholt angesehen" werde; es entspreche nämlich, wie es in der Begründung des Berufungsurteils ergänzend heißt, "in jeder Weise den Anforderungen, die an ein fundiertes Gutachten zu stellen sind". Das LSG hatte deshalb keine Bedenken, die Zurückweisung der vom Kläger eingelegten Berufung u. a. auf das Gutachten vom 20. Juli 1962 zu stützen (Urteil vom 3. März 1964).

Mit der vom LSG nicht zugelassenen Revision beantragte der Kläger,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente zu verurteilen.

Er rügte als Verstoß gegen § 109 SGG, daß das LSG ein Gutachten von Ärzten "zugelassen" habe, das weder er noch das LSG hätten einholen wollen.

Die Beklagte stellte keinen Antrag.

II

Die Revision ist zulässig. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers gehört zu den Prozeßbevollmächtigten, die vor dem Bundessozialgericht (BSG) Beteiligte vertreten dürfen (§ 166 SGG). Er ist Mitglied des Deutschen Handels- und Industrieangestellten-Verbandes (DHV) und hat von dem Hauptvorstand noch vor Beginn des Revisionsverfahrens Vollmacht zur Prozeßvertretung vor dem BSG erhalten. Der DHV bezeichnet sich in der vorgelegten Satzung ausdrücklich als Gewerkschaft; nach den Aufgaben, die er wahrnehmen, und den Zielen, denen er dienen will (§ 2 der Satzung), tut er das zu Recht.

Die Verfahrensrüge, die den Formerfordernissen des § 164 Abs. 2 SGG entspricht, macht die nicht zugelassene Revision statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). § 109 SGG ist allerdings nicht verletzt, weil der Kläger spätestens in der mündlichen Verhandlung des LSG den Antrag auf Anhörung von Prof. Dr. B fallengelassen und keinen anderen Arzt mehr benannt hat. Verletzt ist jedoch § 128 SGG. Das LSG hat das "Gutachten" vom 20. Juli 1962 als Sachverständigenbeweis verwertet. Das durfte es nicht; wenn es das dennoch getan hat, so hat es die Grenzen überschritten, die seinem Recht auf freie Würdigung des Verfahrensergebnisses gezogen sind. Diesen Verfahrensmangel rügt der Kläger mit Recht, auch wenn er sich in der Bezeichnung der verletzten Verfahrensnorm vergriffen hat.

Das LSG durfte das "Gutachten" vom 20. Juli 1962 nur dann als Sachverständigenbeweis (schriftliches Gutachten i. S. der §§ 411 der Zivilprozeßordnung - ZPO -, 118, 106 SGG) behandeln, wenn es von Ärzten erstattet war, die das Gericht zu Sachverständigen ernannt hatte (§ 404 ZPO). Die Ärzte, die das "Gutachten" vom 20. Juli 1962 unterschrieben und damit erstattet haben, sind jedoch keine gerichtlich ernannten Sachverständigen gewesen. Der Gutachtensauftrag war nicht ihnen, sondern Prof. Dr. B erteilt. Damit war im vorliegenden Falle Prof. Dr. B persönlich gemeint. Wenn im Auftragsschreiben des LSG seine Berufsstellung (Chefarzt des Städt. Krankenhauses M Sch) hinzugefügt war, so hieß das hier nicht, das LSG habe den Chefarzt des Krankenhauses ohne Rücksicht auf den jeweiligen Stelleninhaber - und damit bei seiner Verhinderung gegebenenfalls auch seinen Vertreter - beauftragen wollen. Dem steht insbesondere der Umstand entgegen, daß der Kläger dem LSG nach § 109 SGG gerade Prof. Dr. B als Arzt seines Vertrauens benannt hatte.

Nur Prof. Dr. B war hiernach zum Sachverständigen bestimmt und nur er zur schriftlichen Begutachtung befugt. Als gerichtlicher Sachverständiger durfte er sich aber weder durch seinen Oberarzt vertreten lassen noch durfte er an ihn den Auftrag weitergeben.

Dem "Gutachten" vom 20. Juli 1962 konnte das LSG auch nicht nachträglich die Eigenschaft eines Sachverständigenbeweises verleihen. Ein Gericht darf den vorgeschriebenen Verfahrensweg, der mit der Ernennung des Sachverständigen beginnt, nicht umkehren; auch wenn schriftliche Äußerungen den Anforderungen eines Gutachtens entsprechen, darf es sie nur dann als Sachverständigenbeweis behandeln, wenn es ihren Verfasser vor der Äußerung zum Sachverständigen ernannt hat. Die Ernennung zum gerichtlichen Sachverständigen begründet für den Ernannten Rechte und Pflichten; die wesentlichste Pflicht ist dabei die, das "von ihm erforderte Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen" zu erstatten (vgl. § 410 Abs. 1 ZPO); dieser Verpflichtung muß der Sachverständige schon bei der Erstattung des Gutachtens unterworfen sein. Ob das LSG das Gutachten vom 20. Juli 1962 als Urkundenbeweis (§§ 106 Abs. 3, 118 SGG, 416 ZPO) hätte würdigen und ob der Kläger in diesem Falle die Ärzte nicht von einer möglicherweise bestehenden Schweigepflicht hätte entbinden müssen, kann hier dahingestellt bleiben; nach den Urteilsgründen hat das LSG die Äußerung vom 20. Juli 1962 nicht als Urkundenbeweis, sondern als Sachverständigenbeweis gewertet.

Die Revision ist auch begründet. Das BSG kann das angefochtene Urteil nicht aus anderen Gründen aufrechterhalten. Es kann ebensowenig in der Sache zugunsten des Klägers entscheiden, weil die tatsächlichen Feststellungen des LSG, die von dem Verfahrensmangel nicht betroffen werden, hierfür nicht ausreichen.

Aus diesen Gründen ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, das über ihn nochmals zu entscheiden hat. Bei der neuen Entscheidung hat das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzubefinden.

 

Fundstellen

NJW 1965, 1100

NJW 1965, 368

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