Leitsatz (amtlich)

Bei der Beurteilung der Frage, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes seiner früheren Ehefrau Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte, sind die Sozialgerichte nicht an ein die Unterhaltspflicht für den Todestag feststellendes, von der früheren Frau nach dem Tode des Versicherten gegen dessen Witwe (2. Frau) erwirktes zivilgerichtliches Urteil gebunden; ein solches Urteil bildet auch keinen "sonstigen Grund" für eine Unterhaltspflicht des Versicherten zur Zeit seines Todes.

 

Normenkette

AVG § 42 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23; EheG Fassung: 1946-02-20

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 18. April 1961 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Ihre Ehe mit dem Versicherten (W B) wurde 1939 aus dessen Verschulden geschieden. Der Versicherte heiratete 1940 wieder; er starb am 19. April 1958. Der im gleichen Monat gestellte Rentenantrag der Klägerin wurde durch Bescheid vom 8. September 1958 abgelehnt und ihre Klage durch Urteil des Sozialgerichts (SG) für das Saarland vom 20. Mai 1960 abgewiesen.

Die Klägerin legte Berufung ein und erhob außerdem vor dem Amtsgericht (AG) Neunkirchen Feststellungsklage gegen die zweite Frau und den Sohn aus zweiter Ehe als Erben des Versicherten. Aufgrund des Anerkenntnisses der zweiten Frau erließ das AG am 12. Oktober 1960 gegen diese ein Anerkenntnisurteil, in dessen Tenor es feststellte, daß der Versicherte "am 19. April 1958 verpflichtet war, an die Klägerin Unterhalt zu leisten".

Mit Urteil vom 18. April 1961 gab das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland der Berufung unter Aufhebung der Vorentscheidungen statt; es verurteilte die Beklagte, der Klägerin Rente nach § 42 AVG zu gewähren. Von den Alternativen dieser Vorschrift hielt es die erste für erfüllt; der Versicherte sei zur Zeit seines Todes nach dem Ehegesetz (EheG) verpflichtet gewesen, an die Klägerin Unterhalt zu leisten; das folge aus dem Anerkenntnisurteil des AG vom 12. Oktober 1960; dieses Urteil enthebe das LSG einer selbständigen Prüfung der Unterhaltspflicht.

Mit der zugelassenen Revision beantragte die Beklagte,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie rügte eine Verletzung des § 42 AVG. Das LSG habe sich zu Unrecht an das Anerkenntnisurteil des AG gebunden gefühlt; dieses Urteil habe im vorliegenden Falle nicht einmal als Stütze für die Annahme einer Unterhaltspflicht des Versicherten dienen können; es stelle die Unterhaltspflicht im übrigen auch nur für den Todestag des Versicherten fest, unter der "Zeit seines Todes" sei aber ein längerer Zeitraum zu verstehen.

Die Klägerin beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.

Bei der Beurteilung der Frage, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte, war das LSG an das Anerkenntnisurteil des AG nicht gebunden. Aus den Urteilsgründen des LSG ist nicht erkennbar, welche Rechtsvorschriften oder Rechtsgrundsätze die Bindung bewirken sollen. Möglicherweise hat das LSG an eine "Tatbestandswirkung" oder eine "Gestaltungswirkung" des zivilrechtlichen Urteils gedacht. Die Tatbestandswirkung würde eintreten, wenn das Vorhandensein eines zivilgerichtlichen Urteils zum - hier streitigen - Tatbestand des § 42 AVG gehören würde; soweit die Unterhaltspflicht nach dem EheG Tatbestandsvoraussetzung ist, kommt es jedoch allein auf die materielle Rechtslage an. Eine Gestaltungswirkung käme dem Urteil nur zu, wenn es die Rechtslage geändert (gestaltet) hätte; dazu war es nicht imstande (BSG 11, 99, 101). Die Bindung läßt sich auch nicht aus der materiellen Rechtskraft des Anerkenntnisurteils herleiten, weil das Urteil schon nach den Vorschriften der Zivilprozeßordnung (§ 325) gegenüber der Beklagten, die am Verfahren vor dem AG nicht beteiligt war, keine Rechtskraftwirkung hat.

Rechtsfehlerhaft ist das Urteil des LSG im übrigen selbst dann, wenn die vom LSG angenommene Bindung an das Anerkenntnisurteil bestände. Das Anerkenntnisurteil stellt die Unterhaltspflicht für den Todestag fest; nach der ersten Alternative des § 42 AVG kommt es jedoch auf die "Zeit des Todes" an; damit ist ein längerer Zeitraum als der Todestag gemeint; unter der "Zeit seines Todes" i. S. des § 42 AVG, in der eine Unterhaltspflicht des Versicherten gegenüber seiner früheren Frau bestanden haben muß, ist der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten zu verstehen (Urteil des Senats vom 23. Juni 1964 - 11/1 RA 39/61 - im Anschluß an BSG 14, 255). Außerdem ließ das Anerkenntnisurteil noch die Höhe der dem Versicherten obliegenden Unterhaltszahlung offen; nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (SozR Nr. 9 zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) stellen jedoch geringfügige Beträge, die für die Lebensführung der geschiedenen Frau unerheblich sind, keinen Unterhalt i. S. des § 42 AVG dar; ob ein solcher Fall vorliegt, ist aus dem Anerkenntnisurteil nicht zu entnehmen.

Wegen dieser Rechtsfehler ist das Urteil des LSG aufzuheben, da sich die Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt. Darüber, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes nach dem EheG zum Unterhalt der Klägerin verpflichtet war, erlauben die tatsächlichen Feststellungen des LSG kein endgültiges Urteil, weil sie möglicherweise nicht vollständig sind. Die weiteren Alternativen des § 42 AVG sind nach den Feststellungen des LSG nicht gegeben. Soweit es sich um die Unterhaltspflicht aus sonstigen Gründen zur Zeit des Todes des Versicherten handelt, kann ein zivilgerichtliches Urteil zwar einen sonstigen Grund bilden und damit im Rahmen des § 42 AVG "Tatbestandswirkung" entfalten, wenn das Urteil zugleich einen Vollstreckungstitel verkörpert (BSG 20, 1). Ob das gleiche auch für ein bloßes Feststellungsurteil gilt, ob also auch dieses einen sonstigen Grund i. S. des § 42 AVG zu bilden vermag, kann offenbleiben; in jedem Falle muß der sonstige Grund, d. h. hier die besondere, durch ein zivilgerichtliches Urteil geschaffene Rechtsposition der geschiedenen Frau schon zur Zeit des Todes des Versicherten bestehen; das Anerkenntnisurteil ist hier aber erst nach dem Tode des Versicherten ergangen. Schließlich trifft auch die letzte Alternative des § 42 AVG nicht zu, weil der Versicherte, wie vom LSG festgestellt, nach August 1956 keine Unterhaltszahlungen mehr geleistet hat.

Hiernach ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, das nochmals - ohne Bindung an das Anerkenntnisurteil des AG - zu prüfen hat, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes nach den Vorschriften des EheG zum Unterhalt der Klägerin verpflichtet gewesen ist. Dabei wird sich das LSG im Rahmen der ihm obliegenden Beweiswürdigung nicht auf das Anerkenntnisurteil des AG stützen können, da damit nicht feststeht, ob nach dem materiellen Recht ein Unterhaltsanspruch der Klägerin bestanden hat; das hat auch das LSG schon erkannt; es hat in dem hier angefochtenen Urteil zu verstehen gegeben, daß es bei eigener Prüfung einen Unterhaltsanspruch nach dem EheG allenfalls dann bejahen würde, wenn es als Einkünfte der Klägerin allein deren Elternrente, nicht aber die Fürsorgeunterstützung und bei dem Versicherten die rückwirkende Rentenerhöhung nach seinem Tode mitberücksichtigen würde; insoweit wird das LSG zu beachten haben, daß die Rechtsprechung des BSG die Berücksichtigung rückwirkender Rentenerhöhungen nach dem Tode nicht zuläßt (SozR Nr. 1 zu § 65 des Reichsknappschaftsgesetzes, vgl. auch BSG 12, 257, 260). Zu dem neuen Verfahren vor dem LSG ist im übrigen die Witwe des Versicherten (zweite Frau) beizuladen, da die Anspruchsberechtigung der Klägerin auch deren Rechtsstellung betrifft und die Rechtslage insoweit beiden Frauen gegenüber nur einheitlich beurteilt werden kann (vgl. Urteil des 1. Senats vom 25. Oktober 1963, SozR Nr. 3 zu § 1268 RVO und Urteil des erkennenden Senats vom 23. Juni 1964 - 11/1 RA 90/62).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem neuen Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1982638

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