Leitsatz (redaktionell)

Am rechtlichen Gehör mangelt es, wenn die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung zwar gehört wurden, das Gericht aber den Sachverhalt deshalb nicht sachgemäß und vollständig mit ihnen erörtert hat, weil sie sich mit dem Gegenstand der Verhandlung und der Beweisaufnahme (hier: ärztliche Auskunft) nicht rechtzeitig haben vertraut machen können. SGG § 62 ist nur dann nicht verletzt, wenn diese Auskunft usw in der mündlichen Verhandlung vorgetragen wird und die Beteiligten sich auf Grund des Vortrages ein klares Bild von ihrem Inhalt machen können.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. April 1960 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Das Versorgungsamt lehnte den Antrag des Klägers auf Kriegsbeschädigtenrente wegen Magengeschwürsleiden, Verlust von Zähnen und anderer Beschwerden ab, weil er verspätet gestellt sei und die Gesundheitsschäden nicht durch den Wehrdienst verursacht worden seien. Der Widerspruch blieb erfolglos. Das Sozialgericht wies die Klage ab. Das Landessozialgericht (LSG) verurteilte dagegen den Beklagten, den Verlust einiger Zähne als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen, und wies im übrigen die Berufung zurück. Das Geschwürsleiden könne nicht anerkannt werden, da der ursächliche Zusammenhang mit den schädigenden Vorgängen nicht wahrscheinlich sei, wie sich aus dem Gutachten von Dr. O ergebe. Für diese Auffassung spreche auch, daß nach der Auskunft von Dr. Sch in der Zeit von August 1950 bis Februar 1953 kein Anhaltspunkt für einen Geschwürsschub vorgelegen habe; denn dieser Arzt habe die von dem Kläger in diesem Zeitraum vorgebrachten Beschwerden offensichtlich erschöpfend aufgeführt. Revision wurde nicht zugelassen.

Der Kläger legte gegen das am 31. Mai 1960 zugestellte Urteil am 29. Juni 1960 Revision ein und begründete sie am 8. Juli 1960.

Er trägt vor, das LSG habe seine Beurteilung bezüglich des Magenleidens im wesentlichen auf die Auskunft von Dr. Sch gestützt. Diese sei ihm aber nicht bekanntgegeben worden, so daß das LSG gegen § 128 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und gegen § 62 SGG verstoßen habe. Hätte das LSG ihn von dieser Auskunft unterrichtet, so hätte er Gelegenheit gehabt darzutun, daß sie offensichtlich unrichtig gewesen sei; denn er sei in der fraglichen Zeit auch wegen seines Magenleidens behandelt worden.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 12. April 1960 und des Sozialgerichts Berlin vom 22. Oktober 1957 sowie die Bescheide des Versorgungsamts II Berlin vom 1. August 1956 und 22. Mai 1957 dahin abzuändern, daß das chronische Magengeschwürsleiden als Schädigungsfolge anerkannt werde,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Da die Revision vom LSG nicht zugelassen wurde, ist sie nur statthaft, wenn im Verfahren des LSG ein wesentlicher Mangel gerügt wird und auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG und BSG 1, 150), oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).

Die Voraussetzung der Nr. 2 ist erfüllt. Der Kläger rügt mit Recht, daß das LSG sein Urteil außer auf das Gutachten Dr. O im wesentlichen auf die Auskunft von Dr. Sch gestützt hat, die dem Kläger nicht ausreichend bekanntgegeben worden ist. Das LSG wäre gehalten gewesen, dem Kläger in entsprechender Anwendung von § 107 SGG eine Abschrift dieser Auskunft zuzuleiten oder ihn anderweit ausführlich zu unterrichten. In der Unterlassung liegt ein Verstoß gegen § 62 SGG; der Anspruch auf rechtliches Gehör ist verletzt (BSG 4, 60). Das wäre nur dann nicht der Fall, wenn die Auskunft in der mündlichen Verhandlung vorgetragen wurde und die Beteiligten sich auf Grund des Vortrages ein klares Bild von ihrem Inhalt machen konnten (BSG 4, 60). Am rechtlichen Gehör mangelt es dagegen, wenn die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung zwar gehört wurden, das Gericht aber den Sachverhalt deshalb nicht sachgemäß und vollständig mit ihnen erörtert hat, weil sie sich mit dem Gegenstand der Verhandlung und der Beweisaufnahme nicht rechtzeitig haben vertraut machen können (BSG 11, 165).

Nach dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vor dem LSG ist der Sachverhalt vorgetragen und das Gutachten Dr. O seinem wesentlichen Inhalt nach verlesen worden; des weiteren wurde das Sach- und Streitverhältnis mit den Beteiligten erörtert. Weder aus dem Protokoll noch aus dem Tatbestand des Urteils ergibt sich jedoch, daß die Auskunft von Dr. Sch mit den Beteiligten genügend erörtert und ihr Inhalt mit solcher Klarheit besprochen worden ist, daß der Kläger die Bedeutung dieser Auskunft für den Ausgang des Verfahrens ohne weiteres erkennen konnte. Damit hat das LSG zugleich das Recht der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) überschritten, weil es seine Schlußfolgerungen auf Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (BSG 8, 159). Die Revision ist also nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.

Das Rechtsmittel ist auch form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Es ist außerdem begründet, da zumindest die Möglichkeit besteht, daß das LSG bei ordnungsgemäßem Verfahren zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

Das Urteil mußte daher aufgehoben werden. Der Rechtsstreit war zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, weil dessen tatsächliche Feststellungen zu einer abschließenden Entscheidung nicht ausreichen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2374930

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