Leitsatz (amtlich)

1. Beantragt ein Rentner der Wanderversicherung die Neufeststellung des ihm vor 1957 aus der Angestelltenversicherung gewährten Ruhegeldes unter Berücksichtigung von Beiträgen, die nach Rentenbeginn sowohl vor als auch nach dem 1957-01-01 zur Arbeiterrentenversicherung entrichtet worden sind, so bestimmt sich der zuständige Versicherungszweig nach dem vom 1957-01-01 an geltenden Recht.

2. Die Zuständigkeit eines Versicherungszweigs kann der Versicherte nicht dadurch beseitigen, daß er während des nachfolgenden gerichtlichen Verfahrens auf Leistungen aus den zu diesem Versicherungszweig entrichteten Beiträgen verzichtet.

 

Normenkette

RVO § 1311 Fassung: 1957-07-27

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 1. November 1960 wird aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. Februar 1960 wird insoweit zurückgewiesen, als seine Klage auf Verurteilung der Beigeladenen abgewiesen worden ist.

Im übrigen wird der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) Berlin oder die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) nach den Vorschriften über die Wanderversicherung zur Zahlung eines Altersruhegeldes an den Kläger zuständig und in welcher Höhe die Leistung zu gewähren ist.

Für den am 11. Oktober 1893 geborenen Kläger sind Beiträge zur Invalidenversicherung (JV) und zur Angestelltenversicherung (AnV) entrichtet worden. Er bezieht seit 1931 Ruhegeld wegen dauernder Berufsunfähigkeit aus der AnV. Kurz vor Vollendung seines 65. Lebensjahres beantragte er, die Leistung als Altersruhegeld festzustellen. Diesem Antrag gab die Beigeladene durch Bescheid vom 22. September 1958 für die Zeit vom 1. Oktober 1958 an statt; die Leistung wurde gemäß Art. 2 § 37 Abs. 3 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) auf 15/13 des früheren monatlichen Zahlbetrages erhöht. Im Jahre 1959 legte der Kläger, um eine Neuberechnung seiner Rente zu erreichen, Aufrechnungsbescheinigungen vor, nach denen für ihn von 1945 bis 1958 - mit Unterbrechungen - noch Beiträge zur JV entrichtet worden waren. Daraufhin gab die Beigeladene die Rentenakten zur weiteren Bearbeitung an die Beklagte mit der Begründung ab, die LVA sei zuständig, weil der Kläger die letzten Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter (ArV) entrichtet habe. Die Beklagte berechnete das Altersruhegeld unter Berücksichtigung der nach 1945 entrichteten Beiträge mit Bescheid vom 1. April 1959 auf monatlich 148,70 DM (bis 31. Dezember 1958) bzw. 156,60 DM (für die spätere Zeit), erklärte aber gleichzeitig, daß die Rente nach Art. 2 § 30 Satz 2 ArVNG in der bisher von der Beigeladenen gewährten Höhe von monatlich 237,20 DM weitergezahlt werde.

Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger Weitergewährung des Altersruhegeldes durch die Beigeladene beantragt. Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage durch Urteil vom 9. Februar 1960 abgewiesen; das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat ihr dagegen durch Urteil vom 1. November 1960 stattgegeben, nachdem der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt hatte, er erhebe keine Ansprüche mehr aus den nach 1945 zur JV erbrachten Beiträgen. Der Urteilsausspruch des LSG entspricht dem im Berufungsverfahren gestellten Hauptantrag des Klägers. Deshalb ist das LSG auf den Hilfsantrag, mit dem der Kläger die Berechnung der Rente beanstandet hat, nicht eingegangen. Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Weil der Kläger die letzten Beiträge zur ArV entrichtet habe, wäre an sich die Beklagte zur Neuberechnung der Rente zuständig gewesen (§ 1311 der Reichsversicherungsordnung - RVO - i. V. m. § 90 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - und Art. 2 § 30 ArVNG), diese Beiträge müßten jedoch außer Betracht bleiben, denn der Kläger hat auf Leistungen aus ihnen verzichtet. Ein solcher Verzicht sei rechtlich zulässig. Nach § 1310 Abs. 1 Satz 2 RVO könne ein Wanderversicherter seinen Antrag auf einzelne Versicherungszweige beschränken. Er habe es somit grundsätzlich in der Hand, die Zuständigkeit für die Feststellung der Leistung abweichend von § 1311 RVO zu bestimmen. Zwar lasse sich aus § 1310 RVO nicht das Recht des Versicherten herleiten, seinen Anspruch nur auf Leistungen aus einem Teil seiner zu einem Versicherungszweig erbrachten Beitragsleistungen zu beschränken. Dieser Fall liege aber nicht vor, denn die Beiträge, die der Kläger vor 1931 zur JV entrichtet habe, seien bei Stellung seines Antrags auf Berücksichtigung seiner nach 1945 entrichteten Beiträge verbraucht gewesen. Der Kläger hätte danach von seinem ihm in § 1310 Abs. 1 Satz 2 RVO eingeräumten Recht dadurch Gebrauch machen können, daß er von einem Antrag auf Berücksichtigung seiner nach 1945 zur JV entrichteten Beiträge abgesehen hätte. Er habe das zwar nicht getan, aber seinen Antrag auf Berücksichtigung der nach 1945 entrichteten Beiträge durch den Verzicht auf die in Frage kommenden Leistungen zurückgenommen. Durch die Rücknahme des Antrags sei der Bescheid der Beklagten vom 1. April 1959 gegenstandslos geworden und die Beigeladene zur Weiterzahlung des Altersruhegeldes nach ihrem Bescheid vom 22. September 1958 verpflichtet.

Die Beigeladene hat - die vom LSG zugelassene - Revision eingelegt und diese mit folgenden Ausführungen begründet: Das LSG habe §§ 1310, 1311 RVO und §§ 89, 90 AVG unrichtig angewendet. Nach diesen Vorschriften sei zwar eine Beschränkung des Leistungsantrags auf einzelne Versicherungszweige zulässig, im vorliegenden Falle beziehe sich die Beschränkung aber unzulässigerweise auf einen Teil der zu einem Versicherungszweig geleisteten Beiträge. Der Verzicht des Klägers sei unwirksam, so daß bei der Rentenberechnung auch die nach 1945 entrichteten Beiträge berücksichtigt werden müßten. Die Beklagte sei aber auch dann zuständig, wenn man den Verzicht auf die Leistungen aus den nach 1945 entrichteten Beiträgen für zulässig halte. Es sei nämlich für die Frage der Zuständigkeit ohne Bedeutung, ob aus dem letzten Beitrag eine Leistung gewährt werde; selbst unwirksame Beiträge seien geeignet, die Zuständigkeit zu begründen.

Die Beigeladene beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 9. Februar 1960 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

Die Revision ist zulässig und begründet.

Den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ist insoweit beizupflichten, als das LSG ausgeführt hat, wenn man die Verzichtserklärung des Klägers außer Betracht lasse, wäre die Beklagte zur Neuberechnung der dem Kläger zustehenden Rentenleistung zuständig. Die Richtigkeit dieser Auffassung ergibt sich aus den seit dem 1. Januar 1957 geltenden Zuständigkeitsvorschriften der Wanderversicherung (§ 1311 RVO, § 90 AVG). Nach ihnen ist für die Feststellung und Zahlung der Leistung der Träger desjenigen Versicherungszweiges zuständig, an den der letzte Beitrag entrichtet worden ist, im vorliegenden Falle also die Beklagte. Darin liegt eine Änderung gegenüber den bis zum 31. Dezember 1956 maßgebenden Zuständigkeitsvorschriften (§ 1544 g Abs. 3 Satz 4 RVO aF i. V. m. § 1 Nr. 1 des Wanderversicherungsabkommens vom 12. Juni 1944 - AN 1944, 246 -), welche den Träger der AnV in allen Fällen für zuständig erklären, in denen 60 Beitragsmonate oder mehr zur AnV nachgewiesen waren. Das alte Recht ist jedoch auf den zu entscheidenden Streitfall nicht mehr anzuwenden. Zwar beruhte die dem Kläger seit 1931 gewährte Rentenleistung auf einem unter dem früheren Recht eingetretenen Versicherungsfall. Dieser Versicherungsfall war aber zu der Zeit, als der Kläger die Berücksichtigung der nach 1945 entrichteten weiteren Beiträge verlangte, abgeschlossen; die Rente war auch bereits nach Art. 2 §§ 30, 31 AnVNG umgestellt und nach Art. 2 § 37 Abs. 3 AnVNG um 2/13 des früheren Zahlbetrages erhöht worden. Der im Jahre 1959 gestellte Antrag des Klägers auf Berücksichtigung weiterer Beiträge zur JV und ArV machte eine Neufeststellung der Rentenleistung auf Grund eines neuen Beitragsbilds erforderlich. Die Neufeststellung war nach den zu dieser Zeit geltenden Zuständigkeitsvorschriften des § 1311 RVO nF, also durch die Beklagte, vorzunehmen; denn die letzten Beiträge hatte der Kläger zur ArV entrichtet.

Diese Rechtsauffassung steht im Einklang mit Entscheidungen des 5. und 1. Senats des Bundessozialgerichts (BSG 9, 250; 14, 86, 90), in denen ausgesprochen worden ist, daß sich die Zuständigkeit für eine Rentenfeststellung nach dem zur Zeit der Bescheiderteilung geltenden Recht richtet.

Die hiernach begründete Zuständigkeit der Beklagten konnte der Kläger nicht mehr dadurch beseitigen, daß er - in Erkenntnis der Rechtslage - vor dem Berufungsgericht erklärte, er wolle Ansprüche aus den nach 1945 für ihn zur Invalidenversicherung erbrachten Beiträgen nicht mehr erheben. Ob in dieser Erklärung ein wirksamer Verzicht zu sehen ist, wie das LSG meint, kann für die Klärung der Zuständigkeitsfrage unentschieden bleiben. Verzichten konnte der Kläger nämlich allenfalls auf Leistungen aus Beiträgen, er konnte aber durch einen solchen Verzicht nicht ungeschehen machen, daß von 1945 bis 1958 tatsächlich Beiträge zur JV und ArV für ihn erbracht worden sind. Allein die Tatsache der Beitragsentrichtung ist für die Zuständigkeit von Bedeutung; unerheblich ist dagegen, ob die Beiträge eine Leistungspflicht des Versicherungsträgers nach sich ziehen. Abgesehen hiervon richtet sich die Zuständigkeit zur Feststellung und Zahlung der Rente an einen Wanderversicherten nach den Beiträgen, die zur Zeit der Erteilung des neuen Bescheids entrichtet waren. Spätere Änderungen im Beitragsbestand, wie zB die Nachentrichtung von Beiträgen während des Rentenstreitverfahrens, berühren die einmal begründete Zuständigkeit nicht mehr (vgl. BSG 14, 86); anderenfalls hätte es der Rentenbewerber unter Umständen in der Hand, seinen Rentenanspruch ungeachtet der für die Klageänderung geltenden Vorschriften gegen einen anderen als den ursprünglich verpflichteten Versicherungsträger zu richten. Auch aus diesem Grunde kann der Versicherte durch einen Verzicht auf Leistungen oder die nachträgliche Beschränkung seines Antrags auf einen Versicherungszweig die Zuständigkeit im Laufe des gerichtlichen Verfahrens nicht mehr beeinflussen. Daß ein Wechsel der Zuständigkeit während des Verfahrens vermieden werden soll, ist zudem aus § 1311 Abs. 1 Satz 2 RVO zu schließen: bei gleichzeitigen letzten Beitragsleistungen an mehrere Versicherungszweige ist der zuerst angegangene Versicherungsträger zuständig. Die Beklagte ist daher trotz des nachträglichen "Verzichts" des Klägers auf die Leistungen aus den nach 1945 zur JV bzw. ArV entrichteten Beiträgen zuständig geblieben. Dies gilt auch, wenn aus diesen Beiträgen keine Leistungen zu gewähren sein sollten. Die gesetzliche Regelung der Wanderversicherung nimmt es bewußt in Kauf, daß ein Versicherungsträger zuständig sein kann, obwohl aus seinem Versicherungszweig gar keine Leistungen zu erbringen sind.

Da somit die Beklagte im Jahre 1959 zur Vornahme der Neufeststellung und Zahlung der Rente zuständig war, ist der auf Verurteilung der Beigeladenen gerichtete Hauptantrag des Klägers unbegründet; das LSG hat ihm zu Unrecht stattgegeben. Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben und insoweit die Berufung des Klägers gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurückgewiesen werden.

Über den Hilfsantrag des Klägers, mit dem er von der Beklagten eine höhere als die ihm nach ihrem Bescheid vom 1. April 1959 zu zahlende Rente erstrebt, hat das LSG - von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht - nicht entschieden; dementsprechend hat es zur Höhe des Rentenanspruchs auch nicht die für eine abschließende Entscheidung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen. Der Rechtsstreit ist daher insoweit noch nicht entscheidungsreif. Er muß zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

In tatsächlicher Hinsicht wird das LSG gegebenenfalls noch zu klären haben, ob für den Kläger - nach der Beitragsaufstellung der Beklagten vom 29. Januar 1959 S. 4 (Bl. 70 R der Akten IV 236 K 59) scheint dies zuzutreffen - vom 1. Januar 1957 an Beiträge für mehr als zwölf Monate geleistet worden sind. Danach könnte eine Neuberechnung der Rente erforderlich werden (Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 2 ArVNG). Vor einer Erörterung der rechtlichen Wirkung der Erklärung, welche der Kläger am 1. November 1960 vor dem Berufungsgericht abgegeben hat, wird klarzustellen sein, ob der Kläger auch nach rechtskräftiger Verneinung der Zuständigkeit der Beigeladenen dabei bleibt, aus den von ihm nach 1945 zur JV entrichteten Beiträgen keine Leistungsansprüche erheben zu wollen.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG in seiner abschließenden Entscheidung zu befinden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 674146

BSGE, 160

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