Entscheidungsstichwort (Thema)

monosegmentale Bandscheibenerkrankung. Berufskrankheit. Nicht zulassungsbeschwerde. Beweiswürdigung. Rechtsstaatsprinzip. Bestimmtheitserfordernis. Bestimmtheitsgebot

 

Leitsatz (amtlich)

Die Umschreibung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit in Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO widerspricht nicht der rechtsstaatlich gebotenen Bestimmtheit (Art 20 Abs 3 GG).

 

Normenkette

BKVO7ÄndV 2 Art. 2 Nr. 4 (Fassung: 18.12.1992); GG Art. 20 Abs. 3; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 26.09.1995; Aktenzeichen L 15 U 89/95)

SG Detmold (Gerichtsbescheid vom 25.03.1995; Aktenzeichen S 14 U 123/94)

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. September 1995 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Zwischen den Beteiligten ist der Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Verletztenrente wegen eines Bandscheibenvorfalls im Lendenwirbelsäulensegment L 5/ S 1 (sog monosegmentale Bandscheibenerkrankung) als Berufskrankheit (BK) nach Nr 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) umstritten (ablehnender Bescheid vom 18. Januar 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 1994; klageabweisender Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 25. März 1995 sowie der Klage stattgebendes Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 26. September 1995). Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, der Schaden an der Lendenwirbelsäule (LWS) des Klägers sei eine BK im Sinne der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO. Die beim Kläger festgestellten LWS-Veränderungen entsprächen auch dem in der BK Nr 2108 umschriebenen Krankheitsbild. Die BK umfasse nach dem eindeutigen Wortlaut der Nr 2108 sämtliche bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS, beschränke sich mithin nicht auf typische Schadensmuster und schließe bestimmte Erscheinungsformen, insbesondere einen monosegmentalen Befall, wie er beim Kläger vorliege, nicht aus. Die besonderen beruflichen Belastungen hätten die Erkrankung des Klägers auch im Rechtssinne verursacht. Dies folge insbesondere aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. B.… vom 15. Juli 1995.

Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision war zurückzuweisen. Die geltend gemachten Gründe können nach Auffassung des Senats nicht zur Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) führen.

Soweit die Beklagte “eine Abweichung bzw fehlerhafte Rechtsauffassung des LSG von der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätstheorie der rechtlich wesentlichen Ursache” rügt, fehlt es an der formgerechten Darlegung einer Divergenzbeschwerde. Die Beschwerdeführerin hat einen abweichenden abstrakten Rechtssatz im Urteil des LSG von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht bezeichnet. Ebensowenig eröffnet eine fehlerhafte Rechtsauffassung eine Zulassung der Revision.

Die Beklagte meint ferner, aus der angefochtenen Entscheidung des LSG ergebe sich die rechtserhebliche und grundsätzlich bedeutsame Frage, “ob es im Rahmen der Kausalitätsprüfung (und -bejahung) des Versicherungsfalls der BK Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO im Sinne eines Anscheinsbeweises bzw einer Kausalitätsvermutung ausreicht, wenn die arbeitstechnischen Voraussetzungen iS der Exposition erfüllt sind und eine Bandscheibenschädigung in dem bereits körperanlagetypisch generell besonders strapazierten unteren Lendenwirbelsäulenbereich besteht.”

Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache ist dann anzunehmen, wenn die für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Rechtsfrage klärungsbedürftig, klärungsfähig und entscheidungsberheblich ist (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, IX, RdNr 63). Mit der von ihr als grundsätzlich bedeutsam bezeichneten Frage rügt die Beschwerdeführerin im Kern die Beweiswürdigung durch das LSG. Ausgehend von der in der Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung im Fall “konkurrierender Kausalität” (s dazu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 480k/kl mwN) hat das LSG, gestützt auf das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. B.… vom 15. Juli 1995, sich eingehend mit den widerstreitenden Meinungen in der medizinischen Literatur zur Beurteilung monosegmentaler Bandscheibenschäden L 5/S 1 auseinandergesetzt. Es hat darauf hingewiesen, daß die von Prof. Dr. B.… geäußerte Beurteilung nicht – mehr – auf einer medizinischen Mindermeinung beruht (zum Stand der Meinungen s Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung, Stand Februar 1996, M 2108 S 21 ff unter Hinweis auf ein vom HVBG anberaumtes Fachgespräch mit gutachterlich tätigen Sachverständigen, in dem festgestellt wurde, daß sowohl eine mono- als auch eine mehrsegmentale Schädigung als Folge einer Einwirkung iS der Nr 2108 in Betracht kommt). So verweist das LSG ua auf Prof. Dr. Hansis, der noch in seinem Aufsatz “BK 2108 – Vorschlag für ein ärztliches Beurteilungsschema” (BG 1993, 547) dargelegt hatte, ein monosegmentaler Befall sei niemals berufsbedingt, und der diese Auffassung in seinem (mit Heinz, Bruns und Rinke verfaßten) Beitrag “BK 2108 – Erste Erfahrungen mit unserem Schema für die ärztliche Beurteilung” (BG 1995, 433, 434) nunmehr modifiziert, indem er jetzt die Möglichkeit einräumt, “daß für bestimmte Berufs- oder Belastungsformen vielleicht in der Tat noch der positive Nachweis eines berufsbedingten vorwiegend bi- oder monosegmentalen Schadens geführt werden” könne. Auch Dr. Schröter hält nach den weiteren Feststellungen des LSG seinen ursprünglichen Standpunkt, nur ein mehrsegmentaler Befund könne beruflich bedingt sein (Die Berufskrankheiten “Wirbelsäule” – Leitfaden zur Begutachtung, SdL 1994, 17, 20), in neueren Äußerungen (Die Berufskrankheiten “Wirbelsäule”, BG 1994, 510) nicht mehr aufrecht, da er nunmehr fordert, mono- und bisegmentale Befunde seien “kritisch zu sehen”.

Das LSG schließt sich sodann im Rahmen seiner freien richterlichen Beweiswürdigung den Äußerungen von Prof. Dr. B.… an, der es aus seiner Sicht nicht für vorstellbar hält, daß schweres Heben und Tragen und die Arbeit in einer extremen Rumpfbeugehaltung, “die gerade an den beiden unteren Lendenbandscheiben zu einer starken Druckbelastung führen, keine stärkere Schädigung an diesen Bandscheiben hervorrufen sollen, als sonst in der Allgemeinbevölkerung beobachtet wird.” Prof. Dr. B.… hält es für einen Denkfehler, daß gerade die durch schweres Heben und Tragen und eine extreme Rumpfbeugehaltung besonders belasteten beiden unteren Lendenbandscheiben aus der BK Nr 2108 ausgeklammert werden sollen, nur weil sie auch sonst bevorzugt verschleißen.

Die Beschwerdeführerin hält eine Zulassung der Revision auch deshalb für gerechtfertigt, weil die Einführung der BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO wegen Unbestimmtheit dieser Rechtsvorschrift verfassungswidrig sei. Verletzt sei Art 20 Abs 3 des Grundgesetzes (GG); die erforderlichen Tatbestandsvoraussetzungen einer bandscheibenbedingten Lendenwirbelsäulenerkrankung als BK seien in der Verordnung völlig offen. Auch diese Rüge vermag nach Auffassung des Senats nicht zur Zulassung der Revision führen.

Entgegen dem von der Beschwerdeführerin erhobenen Vorwurf ermangelt diese Verordnungsvorschrift nicht der notwendigen Bestimmtheit, die das Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs 3 GG) verlangt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gebietet es der Bestimmtheitsgrundsatz, daß eine gesetzliche Ermächtigung der Verwaltung, Verwaltungsakte zu erlassen, nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt ist, so daß das Handeln der Verwaltung meßbar und – besonders bei belastenden Normen – in gewissem Ausmaß für den Staatsbürger voraussehbar und berechenbar ist (BVerfGE 8, 274, 325; 9, 137, 147; 56, 1, 12). Dieser Grundsatz verbietet es dem Gesetzgeber indessen nicht, Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden; er braucht nicht jede einzelne Frage zu entscheiden. Angesichts der Kompliziertheit der zu erfassenden Vorgänge ist der Gesetzgeber hierzu oft überhaupt nicht in der Lage (BVerfGE 79, 106, 120). Dies gilt insbesondere für den sich ständig ändernden Stand der Medizin (s zur Technik Bieback in Heinze/Schmitt ≪Hrsg≫, Festschrift für Wolfgang Gitter, 1995, S 83, 98). Er muß sich daher abstrakter und unbestimmter Formulierungen bedienen können, um die Verwaltungsbehörden in die Lage zu versetzen, ihren Aufgaben, den besonderen Umständen des einzelnen Falls und den schnell wechselnden Situationen des Lebens gerecht zu werden (BVerfGE 56, 1, 12 mwN), wobei nur die dem jeweiligen Sachzusammenhang angemessene Bestimmtheit gefordert sein kann (Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ Buchholz 11 Art 20 GG Nr 117). In solchen Fällen ist es Sache der Verwaltungsbehörden und der Gerichte, die bei der Gesetzesanwendung mangels ausdrücklicher Regelung auftauchenden Zweifelsfragen mit Hilfe der anerkannten Auslegungsmethoden zu beantworten (BVerfGE 79, 106, 120). Dem Bestimmtheitserfordernis ist genügt, wenn Auslegungsprobleme mit herkömmlichen juristischen Methoden bewältigt werden können (BVerfGE 83, 130, 145).

Diese von der Rechtsprechung vor allem des BVerfG und des BVerwG entwickelten Grundsätze des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots erstrecken sich auf Regelungen sowohl des Gesetzgebers als auch des Verordnungsgebers.

Die Beschwerdeführerin weist zwar zutreffend darauf hin, daß im Zusammenhang mit Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO zahlreiche Zweifelsfragen entstanden sind und auch in der medizinischen Literatur – noch – keine “herrschende” Meinung vorhanden ist. Die Regelung in dieser Nummer ist also damit auslegungsbedürftig. Allerdings nimmt die Auslegungsbedürftigkeit einer gesetzlichen Regelung noch nicht die rechtsstaatliche gebotene Bestimmtheit (BVerfGE 21, 209, 215; 79, 106, 120). Die Regelung der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO ist aber nicht nur auslegungsbedürftig; entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin lassen sich die erforderlichen Vorgaben auch mit Hilfe allgemeiner Auslegungsgrundsätze erschließen (s BVerfGE 82, 209, 224). Die – durchaus vorhandenen – zum Teil erheblichen Ermittlungs- und Beweisschwierigkeiten sind in der Praxis doch nicht so schwerwiegend, daß durch Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO eine nicht hinreichend überprüfbare willkürliche Handhabung durch die Unfallversicherungsträger eröffnet worden ist (vgl BVerwG Buchholz 11 Art 20 GG Nr 113; BFH NJW 1991, 655, 656). Dies zeigt gerade die vorliegende Entscheidung des LSG, die in anschaulicher Weise die Entwicklung der Problematik vor allem monosegmentaler Befunde der LWS und die neueren medizinischen Erkenntnisse seit Einfügung der Nr 2108 in die Anlage 1 zur BKVO im Dezember 1992 darstellt und die anhand dieser Erkenntnisse die tatbestandlichen Voraussetzungen der BK nach Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO mit einer eingehenden Begründung als erfüllt angesehen hat.

Die Komplexität vieler Krankheitsbilder und ihrer Ursachen erschwert es in der Tat den Unfallversicherungsträgern und nachfolgend den Gerichten, die vom Verordnungsgeber auferlegten Probleme immer eindeutig zu beantworten; je weniger konkret und präzise der Verordnungsgeber Entschädigungstatbestände gefaßt hat, um so schwieriger wird die Aufgabe, eine Entscheidung im Einzelfall zu treffen. Aber auch unter Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes hält sich die Regelung noch im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Bestimmtheit. Dies gilt um so mehr, als auch andere BKen ähnlich weit umfassende unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden, wie etwa Nr 2102 der Anlage 1 zur BKVO hinsichtlich der Meniskusschäden. Auch hier hat der Verordnungsgeber auslegungsbedürftige und auslegungsfähige Begriffe verwendet, wie “mehrjährig andauernde” oder “häufig wiederkehrende” Tätigkeiten, die die Kniegelenke “überdurchschnittlich” belasten (s Einzelheiten hierzu in Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 5. Aufl, S 594 ff sowie Elster, Berufskrankheitenrecht, 2. Aufl, Teil 2 Buchst C S 126/3 ff). Die in diesen Bereichen gewonnenen Erfahrungen zeigen, daß nach einer gewissen – zT erheblich langen – Zeit mit einer ausreichend sicheren, rechtsstaatlichen Anforderungen noch genügenden, Anwendung auch bei der BK Nr 2108 zu rechnen ist, worauf – wie erwähnt – die bereits festzustellende Entwicklung in der medizinischen Begutachtung hinweist – mag sie überzeugen oder nicht; dies steht zur Entscheidung der Tatsachengerichte.

Schließlich ist es Aufgabe des Verordnungsgebers, nach einer entsprechenden Erfahrungszeit zu prüfen, ob nach den gesammelten Erkenntnissen eine Konkretisierung, Einschränkung, Ausweitung oder Klarstellung der Fassung der BK Nr 2108 notwendig ist oder wenigstens angezeigt erscheint. Auch insoweit gibt es Vorbilder in der Anlage 1 zur BKVO, wie ua wiederum die Nr 2102 der Anlage 1 zur BKVO zeigt (s Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO).

Die Beschwerde war daher insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 956139

Breith. 1997, 289

SozSi 1997, 318

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