Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. gesetzlicher Richter. Pflicht zur Vorlage an den EuGH

 

Orientierungssatz

1. Der EuGH entscheidet im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Verträge sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union. Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegen. Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des EuGH verpflichtet (Art 267 AEUV).

2. Der EuGH ist im letztgenannten Fall gesetzlicher Richter iS des Art 101 Abs 1 S 2 GG. Unter den Voraussetzungen des Art 267 Abs 3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den EuGH anzurufen. Kommt ein deutsches Gericht dem nicht nach, kann den Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsrechtsstreits der gesetzliche Richter entzogen sein (vgl BVerfG vom 15.11.2018 - 1 BvR 1572/17 = NZA 2019, 302 = juris RdNr 7 mwN).

3. Die Vorlagepflicht nach Art 267 Abs 3 AEUV wird nach der Rechtsprechung des BVerfG jedoch nur in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt und das Unionsrecht somit eigenständig fortbildet (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht).

4. Zu den Rechtsmitteln iS des Art 267 Abs 3 AEUV zählt auch die Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG (vgl BSG vom 8.4.2020 - B 13 R 125/19 B = juris RdNr 18).

 

Normenkette

SGG § 160a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 3; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; AEUV Art. 267 Abs. 3

 

Verfahrensgang

SG Karlsruhe (Urteil vom 21.11.2019; Aktenzeichen S 15 KR 1674/19)

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 29.06.2022; Aktenzeichen L 5 KR 4280/19)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. Juni 2022 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I. Der Kläger ist Inhaber einer Tierarztpraxis. Er ist mit seinem Begehren auf Erstattung der Aufwendungen nach dem Aufwendungsausgleichsgesetz (AAG) für eine Einmalzahlung (3625 Euro), die er im Dezember 2018 an eine schwangere Arbeitnehmerin nach Eintritt des Beschäftigungsverbots am 19.6.2018 ausgezahlt hatte, bei der beklagten Krankenkasse und in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das LSG hat mit überwiegender Bezugnahme auf die erstinstanzliche Entscheidung ausgeführt, bei der Berechnung des Mutterschutzlohns bleibe nach § 21 Abs 2 Nr 1 MuSchG einmalig gezahltes Arbeitsentgelt iS des § 23a SGB IV unberücksichtigt. Damit übereinstimmend unterliege dieses Arbeitsentgelt auch nicht der Umlagepflicht nach § 7 AAG iVm § 23a SGB IV(Hinweis auf BSG vom 26.9.2017 - B 1 KR 31/16 R - BSGE 124, 162 = SozR 4-7862 § 7 Nr 1) . Deshalb habe ein Arbeitgeber auch keinen Anspruch auf Aufwendungsausgleich für geleistete Einmalzahlungen. Diese Rechtslage sei mit Gemeinschaftsrecht vereinbar. Aus dem Urteil des EuGH vom 21.10.1999 (C-333/97) ergebe sich nichts Gegenteiliges. Diese Entscheidung betreffe arbeitsrechtliche Ansprüche von Arbeitnehmerinnen gegen ihren Arbeitgeber. Die Entscheidung des Gesetzgebers, bei der Festlegung der Berechnungsgrundlage für die Höhe von Lohnersatzleistungen einmalig gezahltes Arbeitsentgelt außer Betracht zu lassen, sei nicht diskriminierend - zumal sie auch für andere Konstellationen unabhängig vom Geschlecht des Leistungsberechtigten so getroffen worden sei (Urteil vom 29.6.2022).

Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

II. Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der Revisionszulassungsgründe.

1. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36 mwN; BSG vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 16 mwN). Daran fehlt es.

Der Kläger rügt, das LSG habe Art 101 Abs 1 Satz 2 GG verletzt, nach dem niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, indem es sich nicht nach Art 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) an den EuGH gewandt habe. Dies verletze in verfahrensrechtlich relevanter Weise die Garantie des gesetzlichen Richters wie das BVerfG mehrfach entschieden habe.

Der EuGH entscheidet im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Verträge sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union. Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegen. Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des EuGH verpflichtet (Art 267 Abs 1 bis 3 AEUV). Der EuGH ist im letztgenannten Fall gesetzlicher Richter iS des Art 101 Abs 1 Satz 2 GG. Unter den Voraussetzungen des Art 267 Abs 3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den EuGH anzurufen. Kommt ein deutsches Gericht dem nicht nach, kann den Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsrechtsstreits der gesetzliche Richter entzogen sein (vgl BVerfG ≪Kammer≫ vom 15.11.2018 - 1 BvR 1572/17 - juris RdNr 7 mwN). Die Vorlagepflicht nach Art 267 Abs 3 AEUV wird nach der Rechtsprechung des BVerfG jedoch nur in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt und das Unionsrecht somit eigenständig fortbildet (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Dies gilt auch, wenn sich das Gericht hinsichtlich des (materiellen) Unionsrechts nicht hinreichend kundig macht und es offenkundig einschlägige Rechtsprechung des EuGH nicht auswertet. Es verkennt dann regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht. Zum Vorliegen dieser Voraussetzungen hat der Kläger in der Beschwerdebegründung nichts vorgebracht.

Er hat nicht schlüssig aufgezeigt, warum Entscheidungen des LSG nicht mit Rechtsmitteln innerstaatlichen Rechts angegriffen werden können. Die Anfechtung von Entscheidungen eines nationalen Gerichts mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts ist auch dann möglich, wenn die Anfechtung nur nach vorheriger Zulassungserklärung durch das oberste Gericht geprüft werden kann oder die Art der Rechtsmittelgründe beschränkt ist (vgl EuGH vom 4.6.2002 - C-99/00 - Lyckeskog Slg 2002 I-4839 RdNr 16; EuGH vom 16.12.2008 - C-210/06 - Slg 2008 I-9641 RdNr 76 f - Cartesio; vgl dazu auch BSG vom 10.12.2012 - B 13 R 361/12 B - juris RdNr 9 f; BSG vom 25.1.2012 - B 13 R 380/11 B). Zu den Rechtsmitteln iS des Art 267 Abs 3 AEUV zählt auch die Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG (vgl BSG vom 8.4.2020 - B 13 R 125/19 B - juris RdNr 18; s ferner BFH vom 9.1.1996 - VII B 169/95 - juris RdNr 7). Ungeachtet dessen reicht das Vorbringen, das LSG habe eine Vorlage an den EuGH nicht in Erwägung gezogen, auch nicht aus, um darzulegen, die Vorlagepflicht nach Art 267 Abs 3 AEUV werde offensichtlich unhaltbar gehandhabt. Es hätte der Auseinandersetzung mit dem materiellen Unionsrecht und der Rechtsprechung des EuGH hierzu bedurft. Allein der Hinweis auf das Urteil des EuGH vom 21.10.1999 (C-333/97 - Slg 1999 I-7243 - Lewen) genügt dafür nicht.

2. Sollte der Kläger mit seinem Vorbringen konkludent die Revisionszulassung auch auf Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) oder der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) stützen wollen, fehlt es an wesentlichen Darlegungserfordernissen (vgl zu den Anforderungen B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 160a RdNr 14 ff).

Die Beschwerdebegründung formuliert weder ausdrücklich noch sinngemäß eine Rechtsfrage. Sie hat bereits nicht dargetan, welche Fragen über die Auslegung bzw die Gültigkeit welcher Norm welchen Unionsrechts sich ausgehend von der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts in dem Verfahren vor dem LSG konkret stellen sollen. Die Behauptung eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot in der von dem Kläger vorgebrachten Pauschalität ohne die Benennung einer konkreten Norm des europäischen Rechts genügt insoweit nicht.

Die Beschwerdebegründung benennt auch keine divergierenden Rechtssätze des LSG und des EuGH.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Schlegel

Scholz

Estelmann

 

Fundstellen

Dokument-Index HI16148674

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